Weg mit der Bibel und runter von der Kanzel:

Warum nur das Weltliche den Geistlichen hilft

schrein_in_alpen.jpg

Folklore in den Schweizer Alpen
Folklore in den Schweizer Alpen

Die christlichen Kirchen sind in der westlichen Welt auf der Sinnsuche. Sie haben zwar den Glauben an Gott, seinen Sohn und den Heiligen Geist, doch sie teilen diesen mit immer weniger Leuten.

Der moderne Mensch will sein Leben oft nicht mehr nach Jenseitsvorstellungen ausrichten, sondern sich auf seine Zeit im Hier und Jetzt konzentrieren. Denn mit dem religiösen Glauben schwindet vor allem bei jungen Leuten auch der Glaube an eine Fortsetzung des Lebens nach dem Tod.

Wer überzeugt ist, dass auch wir Menschen dem Zyklus der Natur – Wachsen, Blühen und Vergehen – unterliegen, braucht keinen Gott. Das ist für viele plausibler als die Vorstellung, dass wir seine auserwählten Geschöpfe sind, die er nach seinem Ebenbild geschaffen hat.

Denn wer sich mit Gott und dem christlichen Glauben rational auseinandersetzt, kann sich ein allmächtiges Wesen schlecht vorstellen. Da braucht es schon den Glauben an Wunder: Wo ist Gott, woher bezieht er seine Macht, wie muss ich mir Himmel und Hölle vorstellen, wieso hat er uns die Gabe verwehrt, ihn zu erkennen, wieso manifestiert er sich nicht, wieso lässt er seine "Kinder" unerträglich leiden, fehlt es dem "barmherzigen Vater" an Empathie usw.

Das alles macht den Glauben an ihn und seine Pläne nicht glaubwürdiger. Deshalb predigen heute immer mehr Pfarrer vor immer leereren Kirchenbänken.

In Zahlen: Keine zehn Prozent der Bevölkerung besuchen regelmäßig einen Gottesdienst, nicht einmal mehr die Hälfte der Schweizerinnen und Schweizer glaubt an einen personalen Gott im christlichen Sinn.

Das geistige Fundament erodiert

Einen vermutlich noch größeren Bedeutungsverlust erlitt in den letzten Jahren die Bibel, das geistige Fundament der christlichen Kirchen und Gemeinschaften. Man stelle sich einen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen vor, der in einer nicht besonders religiösen Familie aufgewachsen ist und sich für die Wurzeln des christlichen Glaubens interessiert. Er würde vermutlich die Bibel aus dem Schrank hervorholen, die seine Mutter oder sein Vater bei der Konfirmation geschenkt bekommen hatte.

Wetten, dass er nach wenigen Seiten das "Wort Gottes" auf die Seite legen und die Welt nicht mehr verstehen würde. Denn wer sich unvoreingenommen an die Lektüre macht, kann oft nur schwer einen Zusammenhang und einen Sinn erkennen. Und die antiquierte Sprache, die viele Religionswissenschaftler als hochliterarisch interpretieren, bremst den Lesefluss beträchtlich. Man muss schon von einem religiösen Eifer erfasst sein, um beim Lesen durchzuhalten.

Wenn also katholische oder reformierte Geistliche die restlichen Gläubigen bei der Stange halten oder gar Skeptiker von ihrem Glauben überzeugen wollen, müssen sie die Bibel im Schrank versorgen. Eine Chance haben sie bestenfalls, wenn sie eine unkonventionelle Seelsorge betreiben.

Die Sorgen der Gläubigen ernst nehmen

Das bedeutet, die Menschen dort abzuholen, wo ihnen die Schuhe drücken. Also bei ihren Sorgen und Nöten. Da diese aber primär menschlicher oder alltäglicher Natur sind, treten religiöse Anliegen und Fragen in den Hintergrund. Die Geistlichen müssen also von der Kanzel steigen und sich als Sozialarbeiter ihren Schäfchen annehmen.

Doch dies ist weder ihre Kernaufgabe noch ihre Kernkompetenz, was das Missionieren auf dem säkularen Parkett noch schwieriger macht. Kommt dazu, dass viele Pfarrer verständlicherweise lieber in ihrer Studierstube sitzen, als Kranke zu trösten, Streit zwischen Ehepaaren zu schlichten, psychisch Belastete zu begleiten usw. Schließlich haben sie ein geistiges Studium absolviert.

Da offenbart sich ein Paradox: Das primäre Arbeitsgebiet von Pfarrerinnen und Pfarrern ist das Umfeld des Gotteshauses. Sie sind theologisch ausgebildet, kümmern sich um das Glaubensleben und wollen für ihren Glauben werben, doch sie müssen versuchen, ihre Existenz auf der weltlichen Ebene zu sichern.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.

Unterstützen Sie uns bei Steady!