Die Menschen in der Schweiz sind zunehmend Solidaritätsmuffel. Man könnte es auch weniger schmeichelhaft formulieren: Wir verwöhnten und anspruchsvollen Eidgenossen zeichnen uns durch eine wachsende Portion Egoismus aus. Der zeigt sich bei der Corona-Impfung, aber auch bei der ständerätlichen Diskussion um die Organspende.
Es erinnert mich an Donald Trumps Wahlslogan "America First". Abgewandelt heißt das: "Ich, ich und nochmals ich." Die Schweizer Bevölkerung als Ansammlung von Ich-AGs?
Am deutlichsten zeigt es sich bei der Corona-Impfung, weisen wir doch eine der schlechtesten Raten in Europa auf. Die Haltung vieler Impfskeptiker: "Ich bestimme immer noch selbst, was Sache ist und was ich tun will."
Solidarität sähe so aus: "Was kann ich dazu beitragen, um meine Mitmenschen zu schützen, das Spitalpersonal zu entlasten und die gebeutelte Wirtschaft zu unterstützen?"
Ein weiteres Beispiel mangelnder Solidarität und wohl auch Einfühlungsvermögen zeigte sich diese Woche bei der ständerätlichen Diskussion um die Organspende. Es ging um einen Gegenvorschlag zur Initiative, die die uneingeschränkte Widerspruchslösung verlangt. Konkret: Jedem Patienten, der im Spital stirbt, dürfen Organe entnommen werden. Es sei denn, er hat die Organspende zu Lebzeiten explizit abgelehnt.
Der Bundesrat hat nun einen Gegenvorschlag ausgearbeitet, dem der Ständerat diese Woche zugestimmt hat. Dieser sieht zwar ebenfalls eine Widerspruchslösung vor, gibt aber den Angehörigen eine Art Vetorecht. Doch auch dieser Gegenvorschlag stößt in weiten Kreisen auf Widerspruch, vor allem in religiösen. Es könne nicht sein, dass einem Toten ohne seine Einwilligung Organe entnommen werden dürfen, lautet der Tenor.
Hier kommt die Solidarität wieder ins Spiel: Man kann doch von einem mündigen Bürger erwarten, dass er ein paar Minuten in seinem langen Leben dazu aufwendet, kundzutun, dass er seine Organe nach seinem Tod nicht spenden will. (Was ja absolut okay ist.)
Zurück zur Solidarität: 1.450 Menschen warten zurzeit auf eine Organspende. Sie leben in Angst, sie bangen und hoffen. Viele schweben zwischen Leben und Tod. Oft entscheiden Stunden oder Tage. Weil es permanent an Spendenorganen mangelt, sterben Woche für Woche ein bis zwei Menschen. Die Schweiz liegt auch in diesem "Ranking" weit hinten in Europa.
Viele religiöse Kreise stecken bei der Widerspruchslösung in einem Dilemma. Einerseits möchten die Gläubigen "unversehrt" ihre Reise ins Jenseits antreten, andererseits verlangen Ethik, Moral und Barmherzigkeit eine Spendefreudigkeit. Kranken ein neues Leben zu schenken, ist wohl eine der höchsten Tugenden. Auch im religiösen Sinn.
Strenggläubige lassen Solidarität vermissen
Doch ausgerechnet viele Strenggläubige verschiedener Glaubensgemeinschaften, also Dogmatiker und Fundamentalisten, lassen einmal mehr Solidarität vermissen. Die besonders akribischen Hüter von Moral und Ethik denken primär an sich und ihr Seelenheil. Als ob Gott, Allah, Jehova usw. nur Freude an unversehrten Leichen hätte. Seelen müssten eigentlich reichen, um Einlass beim Himmelspförtner zu erlangen.
Statistiken zu dieser Frage gibt es natürlich nicht. Michael Coors, theologischer Ethiker an der Uni Zürich, sagt in einem Artikel des Tages-Anzeigers dazu: "Insbesondere religiöse Menschen gehen davon aus, dass der Leib nicht einfach etwas für die Person bloß Äußerliches ist." Weiter fügt Coors an: "Werden dem hirntoten Körper dann Organe entnommen, kann dies für Gläubige ein abrupter Eingriff in das von Gott geschaffene Leben sein, durch den der Prozess des Sterbens unterbrochen wird."
Was sagen gläubige Parlamentarier zur Widerspruchslösung? Der Mitte-Nationalrat und Katholik Stefan Müller-Altermatt ist strikt dagegen. Er sieht die Organspende als Geschenk, das die Zustimmung des Spenders erfordere. Der reformierte Berner EDU-Nationalrat Andreas Gafner ist ebenfalls stark im Glauben verankert und dagegen, dass Organe ohne explizite Zustimmung entnommen werden können.
Religiöse Parlamentarier sind dagegen
Wo er religiös zu verorten ist, lässt sich einem Artikel der Online-Plattform Jesus.ch vor den letzten Nationalratswahlen entnehmen. Dort heißt es: "Es folgten viele Gespräche mit Familie und Freunden. Gemeinsam beteten sie um Gottes Weisung. 'Schließlich entschieden wir, dass ich kandidiere.' Eine allfällige Wahl würden sie als Gottes Wille aus seiner Hand nehmen." Das ist ein klassischer freikirchlicher Duktus.
Auch bei den Muslimen und Juden verläuft die Trennlinie in der Frage der Organspende zwischen den Liberalen und Radikalen oder Orthodoxen. Beide Religionen kennen kein explizites Verbot. Die Gegner pochen auf die Unversehrtheit des menschlichen Körpers, die Befürworter stellen Nächstenliebe und Barmherzigkeit in den Vordergrund und wollen Menschenleben retten.
Fazit: Religiöse Dogmen machen die Herzen der Gläubigen oft kalt. Und damit auch die Welt.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung von watson.ch.