Zum Austrittsrekord bei den Amtskirchen

Karteileichen machen Kirchen größer als sie sind

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Im Jahre 2019 haben 543.000 Menschen ihre Mitgliedschaft durch Austritt in den beiden großen Amtskirchen gekündigt. Die Statistiken der Bischöfe geben noch andere Informationen preis, die manchem Säkularen ein frohes Lachen entlocken können. Als erstes westdeutsches Flächenland ist Schleswig-Holstein unter die 50-Prozent-Quote gerutscht (Bremen knapp über 40 und Hamburg 34 Prozent).

Als einzig verbliebene von 15 deutschen Großstädten haben Essen und Dortmund noch knapp mehr als die Hälfte der Einwohner*innen auf den Kirchensteuerlisten. In nur noch sieben von 16 Bundesländern gibt es amtskirchliche Mehrheiten.

Die sogenannten Amtshandlungen wie Taufen, Konfirmationen oder Firmungen nehmen kontinuierlich ab. Nur noch 3 von 43 Millionen Kirchenmitgliedern und 83 Millionen Einwohner*innen gehen regelmäßig in die Kirchen. Umfragen zu Religiosität und Glauben gehen davon aus, dass sich nur 10 bis 12 Prozent der Bevölkerung (einschließlich Muslimen, evangelikalen Freikirchlern und Othodoxen) als religiös bezeichnen. Circa 25 Prozent der Mitglieder der Evangelischen Kirche und jeder sechste Katholik glauben nicht an einen personifizierten Gott. Nicht einmal jeder Zweite aus den vom Staat akribisch verwalteten Mitgliederlisten zahlt überhaupt – mangels zu versteuerndem Einkommen – Kirchensteuer. Viele Menschen wissen gar nicht mehr um ihre Mitgliedschaft, weil nach Konfirmation oder Taufe kein Kontakt mit der Institution Kirche stattgefunden hat oder weil bei Zugewanderten von den Meldebehörden kurzerhand "ev" oder "rk" in den Personalerfassungsbogen eingetragen wurde und dies jetzt hinter der Steuer-ID vermerkt ist.

Kurzum; die evangelische und katholische Amtskirche sind ein riesiger Haufen Karteileichen. Aus diesem Potential der Inaktiven speist sich die Masse der jährlichen Austritte. Die größten Austrittswellen seit 1990 hatten denn auch hauptsächlich finanzielle Hintergründe wie die Einführung der Kirchensteuer in den neuen Bundesländern nach 1990 oder die automatische Erhebung der Kirchensteuer auf Zinserträge 2014/15.

Streitigkeiten über die Auslegung der Bibel zur Homosexualität oder Skandale sind von geringerer Bedeutung für das Austrittsverhalten. Die Verbreitung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse durch das Bildungswesen hat die kirchlichen Dogmen ins Reich der Fabeln verbannt und die Bibel in den Rang eines historischen Märchenbuchs gehoben. Finanzielle Forderungen und Skandale in der Kirche sind für viele Menschen nur noch der Weckruf: Jetzt aber austreten.

Kirchenaustritte, auch von mehr als einer halben Million in einem Jahr, haben keinen direkten Einfluss auf das Verhältnis von Kirche und Staat, auf die gesellschaftliche Stellung der Kirchen und schon gar nicht auf die Finanzen der Kirchenkonzerne einschließlich ihrer Wohlfahrtsverbände. Bei 12 Milliarden Kirchensteueraufkommen wäre ein Verlust von einer Milliarde Peanuts im Verhältnis zu den circa 150 Milliarden Gesamtumsatz der Kirchenkonzerne.

Sachsen-Anhalt, das Bundesland mit der geringsten Kirchenquote (15 Prozent), zahlt mit die höchsten Staatsleistungen an die Kirchen pro Kopf der Bevölkerung. Die staatlich eingeräumten Privilegien bestehen weiter und die Milliarden aus Steuermitteln und den Sozialkassen fließen auf die Kirchenkonten.

Die gesellschaftliche Rolle der Kirchen misst sich heute vor allem an ihrer Rolle als Formuliererinnen einer gesellschaftlichen "Methaethik", einer Art universellen Gewissens, moralischen Richters und Ratgebers und Psychologen der Gesellschaft. Damit soll Kirche dazu beitragen, den "gesellschaftlichen Zusammenhalt" zur Politik des Staates zu organisieren. Kirchenmenschen in Ethikräten, Rundfunkräten und anderen Einrichtungen zur Wachung über gesellschaftliche Werte verleihen den politischen Entscheidungen des Staates die moralischen Weihen zu ihrer Durchsetzung. Kirchliche "Ethik" im Einklang mit den wesentlichen Zielen des Staates ist eine optimale Ausgangslage zur Befriedung gesellschaftlicher Auseinandersetzungen und Widersprüche. Die kirchliche "Methaethik" ist somit pure Ideologie. Kirchen und Religionsgemeinschaften haben eine erhebliche Systemrelevanz, nur eben kein Monopol mehr.

Ein Beispiel dieser kirchlichen Aufgaben war die Mitbegründung der "Willkommenskultur" im Jahre 2015. Die Kirchen waren erheblich an der Verbreitung von Tolerenz und Unterstützung für die Geflüchteten beteiligt. An der Umkehrung hatten sie ebenfalls maßgeblichen Anteil. Bereits am 2. Oktober 2015 titelte der Evangelische Pressedienst: "EKD-Chef fordert 'Abschiedskultur' für Flüchtlinge ohne Bleiberecht" in einer gemeinsamen Erklärung mit dem damaligen Vorsitzenden der katholischen Bischofskonferenz, Kardinal Marx. Dies war die kirchlich "ethisch" begründete Einleitung erheblicher Verschlechterungen im Asylrecht und, daraus folgend, zahlreicher Abschiebungen.

Kirche und ihre bischöflichen Lautsprecher als Verkünder von moralischen Werten und ethische Begründungen für tagespolitische Anforderungen des Staates zu akzeptieren und zu protegieren, setzt in jetzigen Zeiten eben nicht mehr "Gottgläubigkeit" voraus. Es muss von den politischen Akteuren, staatlichen Instanzen, Parteien, Medien, Kirchen und Religionsgemeinschaften als moralische Autorität innerhalb des Staatswesens dargestellt werden.

Anschauliches Beispiel für die Anerkennung dieser Rolle sind die erklärten Atheisten und Politiker der Linkspartei Bartsch und Gysi. Bartsch verstieg sich zu der These, der frühere Umgang der Linken mit der Kirche sei falsch gewesen und die "Nächstenliebe" der Kirche hieße bei den Linken eben einfach nur "Solidarität", sonst sei man sich in vielem einig. Gysi lobte wiederholt die wichtige Aufgabe der Kirchen für die Erziehung zu Moral und Anstand. (Diese These ist angesichts der blutigen Kirchengeschichte totaler Unsinn.) Damit wird auch unter dem Ausschluss der Gottgläubigkeit die Anerkennung der Kirche als quasi-staatliche Institution für Ethik, Moral und Erziehung, Kindergärten, Schulen, Hochschulen anerkannt und befördert. Die Zustimmung zum jetzigen Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland gehört zur Staatsräson. Wer wie einige Politiker*innen der Linken ganz oben mitregieren will, muss sich positiv zum jetzigen Rechtsverhältnis, den Privilegien und, wenn mensch selbst Atheist sein mag, zum Auftrag der Kirchen als staatlichem Erziehungsapparat bekennen.

Somit können also auch mit linksparteilichem Segen die Kirchen ihrem Tagesgeschäft nachgehen, Millionen Kinder in ihren Kindergärten (Marktanteil 30 Prozent) und ihren Schulen (Marktanteil 80 Prozent der Privatschulen) sowie den 43 kirchlichen Hochschulen der Erziehung zum anpassungsfähigen Untertanen für die Zumutungen und Ungerechtigkeiten der kapitalistischen Gesellschaft zu erziehen. Die scheinbaren Taten für das Gute und Gerechte, Gebete für den Frieden, Mahnwachen gegen Waffenexporte sind die mediale Vortäuschung von Aktivitäten, aber tatsächlich Demonstration von Aberglauben und tatsächlicher Tolerierung.

Die Kirchen mit den christlichen Wohlfahrtsverbänden, die zwei Drittel des "freien" Wohlfahrtswesens ausmachen, sind wesentlicher Bestandteil des "Sozialstaates". Mit ihrer tragenden, zum Teil vom Staat zugewiesenen Rolle als auch mit ihrer Formulierung der "Methaethik" sind die Kirchen Teil des ideologischen Apparates des staatlichen Überbaus und somit des Staates selbst.

Da spielt die Frage, ob eine Million Karteileichen noch in der Mitgliederliste der Kirchen auftauchen, keine wesentliche Rolle, solange die Kirchen in der Rolle der Walterin der Methaethik der Gesellschaft von der Mehrheit der Menschen toleriert werden.

So wird auch von Winfried Kretschmann bis in die Kommentarspalten der Presse großes Bedauern für die Austrittswelle geäußert und auf die Gefahren für den Zusammenhalt der Gesellschaft und die Finanzierung der kirchlichen Sozialeinrichtungen hingewiesen.

Religionsorganisationen/Kirchen haben im Verein mit Populisten und autoritären Herrschaftvarianten große Handlungsmöglichkeiten. Aufgrund der eigenen Agenda, der zumeist patriarchalen und autoritären Organisationsstruktur und einem ebensolchen Weltbild passen Kirchenstrukturen bestens zu Putins, Trumps, Orbans und anderen. Die größte Unterstützung für Putins Verfassungsänderung fand er in der tiefreaktionären Russischen Orthodoxen Kirche. Sie wurde für ihre Zustimmungsaufrufe durch den Einzug Gottes in die Verfassung belohnt.

Der Schrumpfungsprozess enthält auch Gefahren

Die innere konservative Ausrichtung der Kirchen kann durch eine schrumpfende, ständig kleiner werdende Mitgliederbasis verstärkt werden.

Martin Urban beschrieb diesen Prozess in seinem Buch "Ach Gott, die Kirche" im Jahre 2016 wie folgt: "Sie wird immer konservativer, die Fundamentalisten werden lauter, die Intellektuellen kehren ihr den Rücken."

Die schrumpfende Kirche verliert Mitglieder und ihre Aktiven am liberalen, "aufgeklärten" Rand. Es bleiben die Alten, die Frommen, die weltabgewandten Bibeltreuen, die Pietisten und die Evangelikalen. Diese konservativen Christen werden zwar absolut nicht mehr, allein ihr spezifisches Gewicht innerhalb der Kirchen wächst, dies schlägt sich letztlich auch auf der höheren Ebene in den Synoden und auch bei der Zusammensetzung von Pastoren und Predigern nieder. Wer heute ein Theologiestudium mit dem Ziel des Predigeramtes antritt, gehört zu einer deutlichen Minderheit in seiner Altersklasse und ist mit dem Studien- und Berufsziel ein Überzeugungstäter mit missionarischen Überzeugungen. Früher gehörte mensch als Pastor vor allem zur besseren Gesellschaft, den feinen Leuten und Eliten. Heute haben Theologiestudierende eher das Image von angehenden Märchentanten und -onkeln.

Etliche Gremienwahlen der letzten Jahre deuten darauf hin, dass sich der Einfluss missionarischer Kräfte innerhalb der evangelischen Kirche verstärkt hat. Die Wahlen zur Synode der Nordkirche 2018 sind dafür ein Beleg.

In England ist dieser Prozess schon wesentlich weiter fortgeschritten. Der Bischof von Canterbury, Justin Welby, der ranghöchste Bischof Englands, gehört zum charismatisch/evangelikalen Flügel der Anglikanischen Kirche, der englischen Staatskirche. In England ist der in der anglikanischen Kirche organisierte Teil der Bevölkerung von 40 Prozent im Jahr 1990 auf nunmehr knapp über 12 Prozent abgesunken. Massenhaft wurden Kirchen und Gemeinden geschlossen. Allein die charismatischen und evangelikalen Gemeinden blieben stabil und konnten teilweise sogar Zulauf verzeichnen. Bereits vor Jahren wurde der Anteil der Evangelikalen im englischen Kirchenapparat auf die Hälfte geschätzt, sie sind die dominante Kraft geworden.

Durch Austritte schrumpfende Kirchen allein bedeuten folglich noch nicht das Ende ihres Einflusses in Gesellschaft und Staat. In vielen Ländern haben Religionsgemeinschaften mit deutlich weniger formellen Mitgliedern und weniger Staatsverflechtungen als in Deutschland wesentlich mehr antiemanzipatorische Positionen und auch mehr Einfluss.

In den Strukturen der EKD und der katholischen Kirche wurde die Debatte der Wiederaufnahme missionarischen Wirkens aufgenommen und die Leitungen sind intensiv damit beschäftigt, diese Diskussionen in der Basis zu verankern. Vorreiter dieser Missionsbestrebungen sind die Evangelikalen innerhalb der evangelischen Landeskirchen.

Eine schrumpfende Mitgliederbasis ist ein gutes Argument gegen Staatsleistungen, Religionsunterricht, kirchliche Schulen und Kindergärten – aber noch kein Selbstläufer für einen säkularen Staat.

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