Hilft, schützt und wirkt "alternative Medizin"?

Wissenschaft oder Alternative?

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Ärztin und Kolumnistin Natalie Grams-Nobmann hat Alternativmedizin früher einmal sogar für die bessere Medizin gehalten. Aber nicht erst seit der Krise ist ihr klar: Im Zweifel gibt es keine Alternative zur echten Wissenschaft.

An die Anfangszeit der Corona-Pandemie hat jeder seine ganz eigenen Erinnerungen. Ich zum Beispiel denke mit Schrecken an Globuli: "Arsenicum Album C 30" war damals von der Homöopathie so lautstark angepriesen worden, dass es angeblich kurzzeitig nicht mehr lieferbar war. Bei allen steilen Behauptungen gab es, natürlich, keine Belege für eine Wirksamkeit über den Placeboeffekt hinaus. Das wäre ja auch weder plausibel noch zu erwarten gewesen. Und das wussten wir, natürlich, schon vor der Pandemie. Fest steht ebenfalls: In einer Krise sind solche Rohrkrepierer problematischer als ohnehin. Und weitere Krisen sind eben erwartbar, wenn man Expertinnen und Spezialisten glauben darf; die Spätfolgen von Corona werden uns noch lange begleiten, und eine nächste Pandemie ist überhaupt nicht ausgeschlossen. In Zukunft sollten wir also ein paar Dinge besser machen. Dazu gehört gerade in unübersichtlichen Situationen unbedingt, solider Wissenschaft mehr zu trauen als vermeintlichen Alternativen.

Warum fällt das eigentlich schwer? Es liegt auf der Hand, dass Menschen gerade in Zeiten der Not nach jedem Strohhalm greifen. Ende 2020 kam etwa das Pferde-Entwurmungsmittel Ivermectin als vermeintliches Covid-19-Medikament zu Ehren. Es hat sich dank wissenschaftlicher Forschung dann als eher schädlich denn hilfreich erwiesen. Aber bei Ivermectin war es so wie bei Zuckerkugeln: Beweise hin oder her, die Behauptung einer Wirksamkeit hält sich hartnäckig. Ebendas – der kaum korrigierbare, fast wahnhafte Glaube, an einer falschen und längst widerlegten Behauptung müsse "etwas dran sein" – ist ein großes Problem, das in Zeiten der Krise noch größer wird.

Die Ablehnung der Korrektur eines verinnerlichten Glaubens trifft auch solide erforschte Medikamente, etwa die neuen mRNA-Impfstoffe. Da wird zum Beispiel unbeirrt behauptet, dass die Vakzine unfruchtbar machen würden, obwohl es dafür nach inzwischen milliardenfacher Impfung keine Belege gibt – weder bei Männern noch bei Frauen. Gleichzeitig wird übrigens heruntergespielt oder geleugnet, dass eine Covid-19-Infektion unfruchtbar machen kann. Wissen hilft eben nicht immer gegen Glauben und falsche Intuition.

Auch ich musste erst einmal akzeptieren und verstehen, dass es Wege gibt, Glauben von Wissen sauber und verlässlich zu trennen: die Wissenschaft. Sie basiert auf Kriterien, die rigide angewendet werden müssen. Das gilt auch für den einen ganz besonderen Wissenschaftler mit der besonderen antagonistischen Einzelmeinung, der krampfhaft gegen den Strom der Wissenschaftsgemeinschaft schwimmt, weil er an etwas ganz fest glaubt oder ein bisschen Ego-PR braucht. Vielleicht gibt es wirklich einsam forschende Genies, die alles besser wissen; wahrscheinlich gibt es davon aber weniger als solche, die sich nur dafür halten. In der Realität erfordern die Forschungsgebiete der heutigen Zeit internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit.

Wissenschaft als Methode macht aus Behauptungen – oder freundlicher: aus Hypothesen – Wissen. Daraus destilliert sie dann immer wieder und weiter noch besseres Wissen. Man kann hier einwenden, dass durch besseres Wissen ersetztes Wissen schlechtes Wissen war. Womöglich gar falsches? Auch das würde aber bedeuten, dass wir es am Ende des Prozesses besser wissen als zuvor. Auf diese Weise erfahren wir, was wirklich wirkt und was es nur behauptet. Zugegeben, Fortschritt kann verwirren, wenn er Widersprüche aufdeckt und Fehler korrigiert. Das kommt umso häufiger vor, je komplexer die Zusammenhänge werden, weil hier auch immer komplexere Lösungen und Antworten gefragt sind. Die übersichtlichen, selbsterklärenden Themen werden selten, und was zu schön und zu einfach klingt, um wahr zu sein, ist es meist auch nicht. Schön wäre jedenfalls, wenn wissenschaftlich Widerlegtes rasch von der Bildfläche verschwinden würde. Es sollte zumindest nicht durch rhetorische Taschenspielertricks à la "Die Wahrheit wird doch nur verschwiegen!" bedeutsam aufgeblasen werden.

Wissenschaft beerdigt ab und zu auch Hoffnungen. Ein Beispiel sind Hydroxychloroquin und Remdesivir: Gegen Covid zeigten sie kaum oder gar keine Wirkung – trotz intensiver Erforschung und trotz des großen Wunsches, es gäbe nicht nur die Impfung als Prävention gegen die Corona-Infektion, sondern auch Medikamente zur Behandlung der Krankheit. Auf der anderen Seite können Dexamethason oder ganz banales Aspirin, also billige Pharmaklassiker, zumindest die Symptome lindern helfen.

Echte Wissenschaft sollte die Suche nach besseren Alternativen und das Aussortieren des Unwirksamen oder gar Schädlichen immer neutral angehen. Dabei ist es ganz normal, ja sogar erwünscht, selbst über haarsträubend verrückt klingende Möglichkeiten zumindest zu diskutieren. Für besonders steile Thesen müssen dann allerdings auch besonders überzeugende Daten und Belege vorgelegt werden, und entscheidende Punkte dürfen nicht ignoriert werden. Niemand sollte dann beleidigt von dannen ziehen, wenn andere die eigenen Daten kritisch prüfen und Fehler oder Widersprüche finden: Ebendas ist Teil der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit. In der Youtube-Universität findet so etwas nicht statt. Die Forschergemeinde nimmt sich in aller Regel sorgfältig vorgeprüfter und seriös veröffentlichter Arbeiten an.

Dabei gilt nicht "Wer mehr fühlt, hat mehr Recht", sondern der Grundsatz: Wer die besseren Daten und Ergebnisse vorlegen kann, der schafft besseres Wissen. Das Zusammenwirken von vielen Menschen, die in guten Zeiten über Jahrzehnte viele gute Ideen zusammentragen, weiterentwickeln, verwerfen und immer wieder neu anfangen: Das bringt uns voran und schafft ein stabiles Fundament, auf dem wir weiter bauen können. Es ist wertvoller als eine einzelne Idee oder eine möglichst starke Meinung. In Zeiten wie der Corona-Krise muss dieses Zusammenwirken schneller, stringenter, internationaler, innovativer und mutiger erfolgen als sonst. Die wichtigsten Grundsätze des Wissen-Schaffens dürfen dabei aber nie unter den Tisch fallen: besser zweimal hinschauen, fest Geglaubtes lieber noch mal überprüfen, sich trauen, Wissen durch besseres Wissen zu ersetzen, und sich gleichzeitig nicht durch Geschäftsinteressen oder ideologische Verblendung korrumpieren lassen. Woher Wissen kommt, ist dann übrigens egal – wichtig ist, wohin es uns bringt.

Das müssen wir verinnerlichen. Möglichst viele Menschen sollten lernen, mit dem Komplex "Wissenschaft" im Alltag umzugehen. Leider sind wir auf diesem Weg noch nicht sehr weit: Es klafft eine enorme Lücke zwischen der durch Wissenschaft geprägten und informierten Realität unseres Lebens und der Wertschätzung von Wissenschaft als bester, wenn nicht einziger Methode des Erkenntnisgewinns. Die Pandemie hat diese fatale Kluft erneut deutlich gemacht. Wir müssen sie überbrücken: Wissen über Wissenschaft und die wissenschaftliche Methode gehört in die Schulen. Wir müssen wissen, wie Wissen entsteht, sonst wächst es nicht. Schlimmer noch: Sonst bleibt die Ansicht unwidersprochen, dass jede Behauptung so gut sei wie jede andere. Das wäre der Beginn eines postfaktischen Zeitalters, in dem ein grotesker Begriff wie "alternative Fakten" scheinbar Sinn ergibt. Von der Idee einer "Bildungsrepublik Deutschland" hätten wir uns dann zu verabschieden.

Übernahme des Artikels mit freundlicher Genehmigung von spektrum.de.

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