Schätzungen zufolge leben allein in Europa mehr als anderthalb Milliarden Singvögel. Etwa die Hälfte davon bricht im Herbst in nicht einmal einem Dutzend Nächten in Richtung Süden auf. Dort ist es zwar wärmer, und es gibt ausreichend Nahrung. Der Flug dorthin ist jedoch entbehrungsreich und gefährlich. Lohnt sich der Aufwand für Zugvögel also überhaupt?
Forscher des Max-Planck-Instituts für Ornithologie in Radolfzell haben jetzt in einer neuen Studie erstmals nachgewiesen, dass eine nach Süden ziehende Vogelart den Winter im Süden eher überlebt als die in Mitteleuropa verbleibenden Artgenossen.
Amseln sind sogenannte Teilzieher. Das bedeutet: Manche der Vögel fliegen in ein Winterquartier, andere trotzen den harschen Bedingungen lieber zuhause. Die heute milderen Winter in Mitteleuropa verlocken offenbar etliche Amseln, sich den Reisestress zu ersparen. In kälteren Perioden als heute dürfte das wohl anders gewesen sein. Welche Mechanismen die Entscheidung "Wandern oder Bleiben" kontrollieren, ist noch nicht geklärt.
Das Team um Studienleiter Jesko Partecke und Max-Planck-Direktor Martin Wikelski hat von in den Sommerhalbjahren 2009 bis 2016 fast 500 Amseln rund um Radolfzell am Bodensee kurzzeitig gefangen, sie mit kleinen Peilsendern ausgestattet sowie in klassischer Weise beringt. Dank der Sender konnten die Forscher die Vögel mehrere Jahre lang im Untersuchungsgebiet verfolgen: Nach jedem Winter durchsuchten die Wissenschaftler die Gegend um den Bodensee nach den Amseln, die den Winter überlebt hatten und aus ihren Wintergebieten zurückgekehrt waren. Zudem zeigten automatische Registrierungsanlagen im Untersuchungsgebiet an, ob ein Vogel mit Radiosender tot oder lebendig sowie ob und wann er aus dem Habitat verschwunden war.
Mit ihren Daten haben die Wissenschaftler ein Computerprogramm gefüttert und so die Überlebenswahrscheinlichkeit der gewanderten oder sesshaften Tiere berechnet. Das Resultat: "Der Winter ist die kritischste Phase im Leben einer Amsel: In dieser Zeit sterben die meisten von ihnen, egal ob sie in den Süden ziehen oder hierbleiben. Die Zugvögel überleben ihn aber deutlich häufiger als die Standtiere", erklärt Daniel Zuñiga, Erstautor der Studie.
Zwischen Männchen und Weibchen gibt es hinsichtlich der Sterblichkeit dagegen keine Unterschiede. Grundsätzlich aber ziehen mehr Weibchen als Männchen in den Süden. Vermutlich bleiben viele Männchen lieber daheim, um die Chance zu erhöhen, sich nach dem Winter beizeiten ein gutes Brutareal zu sichern und damit ein Weibchen anzulocken. Für die Weibchen ist eine frühe Präsenz im Brutrevier dagegen wohl weniger ausschlaggebend.
Angesichts des hohen Aufwands, den die Max-Planck-Forscher betreiben mussten, um den Vögeln mit ihren Peilantennen auf der Spur zu bleiben, haben Partecke und Wikelski eine neue revolutionäre Technologie im Auge: Das weltraumgestützte Beobachtungssystem Icarus wird es erstmals erlauben, auch kleine Singvögel wie die Amseln per GPS noch genauer zu verfolgen – und so zu klären, was die Vögel wirklich in ihrem Winterquartier tun, wann sie zurückkommen und warum sie nicht einfach im Süden bleiben.
Das unter anderem von Martin Wikelski ins Leben gerufene Projekt soll ab dem Sommer 2018 startbereit sein. Die Wissenschaftler versprechen sich von den dann zur Verfügung stehenden Daten bahnbrechende Erkenntnisse über das Leben, Verhalten und Sterben der Tiere auf unserem Planeten. (KW/HR)