Wenn Menschen mit psychiatrischen Diagnosen keine Chance auf eine Freitodbegleitung haben

Zum Leben verdammt

arzt_beratung.jpg

Symbolbild

Zwei Ärzte wurden wegen Totschlags angeklagt, weil sie Suizidhilfe bei einem psychisch kranken Menschen geleistet hatten. Am 1. Februar wurde der Psychiater und Neurologe Dr. Johann F. Spittler vom Landgericht Essen zu drei Jahren Haft verurteilt. Am 8. April lautete das Urteil des Landgerichts Berlin im Fall Dr. Christoph Turowski ebenfalls drei Jahre Haft. Ulla Bonnekoh versucht für den hpd eine Einordnung.

Die juristische Bewertung dieser Verfahren und Urteile ist den Fachleuten vorbehalten. Generell haben es Menschen mit psychischen Erkrankungen schwer, Zugang zu Sterbehilfe zu finden. Nur in wenigen Ausnahmen finden sie einen Arzt oder eine Sterbehilfeorganisation, die zur Freitodbegleitung in ihrem Fall bereit ist. Hinzu kommt, dass es sehr schwer ist, Gutachter:innen für die Feststellung der Freiverantwortlichkeit zu finden. Hier sollen nun die Fälle aus der Sicht von betroffenen Patient:innen mit psychiatrischen Diagnosen in den Blick genommen werden.

Man versetze sich einmal in die Lage der Betroffenen. Stellen Sie sich vor, Sie befinden sich in einer ähnlichen Situation wie Oliver H. oder Isabell R. (der Patient von Dr. Spittler und die Patientin von Dr. Turowski) oder andere Menschen, die sich wegen ihrer psychischen Erkrankung eine Suizidhilfe wünschen. Sie leben seit Jahren mit einer psychischen Erkrankung. Sie haben eine ganze Reihe von Behandlungen mit Medikamenten, Psychotherapie und stationären Aufenthalten in der Psychiatrie hinter sich. Doch die Behandlungen bringen aus Ihrer Sicht keine ausreichende Besserung. Ihre Ansprüche an Lebensqualität und Wohlbefinden werden nicht erfüllt. Sie leiden unter tiefen seelischen Schmerzen, haben keine Kraft mehr, am Leben teilzuhaben. Sie sind nicht mehr in der Lage, einen echten Kontakt zu anderen Menschen herzustellen, eine menschliche Beziehung aufzubauen. Sie sehen keine Aussicht auf Erfolg. Nach langen Jahren und vielen Therapieversuchen wollen Sie nicht mehr.

Oder vielleicht befinden Sie sich gerade in einer Krankheitsphase, in der Sie weitgehend symptomfrei sind. Aber Sie wissen, dass der nächste Schub, die nächste Krankheitsphase wieder kommen kann und wahrscheinlich auch wird. Vielleicht ertragen Sie auch die Nebenwirkungen der Medikamente oder die Nachwirkungen und Folgeerscheinungen der bisherigen Therapieversuche nicht mehr. Sie entscheiden, dass Sie so nicht mehr leben wollen, mit dem Leiden und den seelischen Schmerzen, die durch die Krankheit und ihre Folgen verursacht werden. Sie wollen keine weiteren Therapieversuche. Sie wollen eine Freitodbegleitung in Anspruch nehmen.

Mögliche Therapieoptionen als Ablehnungsgrund

Müssen andere denkbare Therapien trotzdem erst versucht werden? Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts verlangt, dass sich Sterbewillige mit Alternativen auseinandersetzen, aber nicht, dass alle therapeutischen Möglichkeiten ausgeschöpft sein müssen, damit eine Freitodbegleitung zulässig ist. Voraussetzung ist eine freiverantwortliche Entscheidung, zu der auch die Auseinandersetzung mit Alternativen gehört. Die Betroffenen müssen sich also von Fachleuten mögliche Therapieoptionen aufzeigen lassen und sich ernsthaft damit auseinandersetzen.

In der neunten Episode des Podcasts Justitias Wille, der sich mit dem Fall Turowski befasst, kommt Julian zu Wort. Der 35-Jährige hat sich bei verschiedenen Organisationen und Ärzten um Suizidbeihilfe bemüht. Dort wurde er abgelehnt. Als Gründe wurden unter anderem sein junges Alter, eine mögliche Besserung in der Zukunft oder noch bestehende Therapiemöglichkeiten genannt. Er weiß, dass seine Entscheidung zu sterben dem Kriterium der Wohlerwogenheit entsprechen muss. Deshalb hat er Vorgespräche mit Therapiefachleuten über die vorgeschlagenen Therapieoptionen geführt, um die Voraussetzung zu erfüllen, dass er sich über Alternativen informiert und diese ernsthaft erwogen hat. Dieses ernsthafte Bemühen darum, die Voraussetzung für die Freitodbegleitung zu erfüllen, wurde jedoch von seinem Psychiater als Lebenswille interpretiert. Julian sagt, dieser habe ihn nicht wirklich verstanden. Ihm selbst sei es nur darum gegangen, zu zeigen, dass er eine informierte Entscheidung getroffen habe. Generell falle es Psychiater:innen schwer zuzugeben, dass sie keine erfolgversprechenden Angebote mehr hätten, kritisiert er.

Niemals aufgeben oder lerne, dein Leiden zu ertragen

Die psychiatrische Fachwelt betrachtet einen Sterbewunsch in der Regel als Teil der Krankheit. Einem Wunsch nach Suizidhilfe zuzustimmen, würde bedeuten, dass der Psychiater den Patienten ebenfalls abgeschrieben hat. Hoffnung und Perspektive zu geben, ist im psychiatrischen Denken ein Behandlungsinstrument, auch wenn der Patient das Gefühl hat, längst austherapiert zu sein. Dies verdeutlicht Dr. Ute Lewitzka, die ebenfalls in dieser Podcast-Episode zu Wort kommt. Sie ist Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Carl Gustav Carus in Dresden und Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Auch ihr fällt es schwer, einen Patienten aufzugeben. Wenn sie an einen Punkt komme, sagt sie, an dem sie keine therapeutischen Möglichkeiten mehr habe, sehe sie es als ihre Aufgabe an, dem Patienten mit Hilfe der Psychotherapie zu helfen, sein Leiden und seine Krankheit zu akzeptieren. Sie sei überzeugt, dass dadurch Momente von Lebensqualität erkannt und von den Patienten wertgeschätzt werden könnten. So würden sie in die Lage versetzt, mit ihrer Krankheit und ihrem Leiden zu leben. Sie regt also selbst ein neues Therapieziel an. Aber muss ein Patient oder eine Patientin dieses Ziel für sich akzeptieren und aktiv daran mitarbeiten?

Zu jung für eine Suizidhilfe

Vor allem bei jungen Menschen hat Lewitzka Bedenken, eine Suizidhilfe zuzulassen. Sie sagt, sie glaube, dass viele Psychiater Schwierigkeiten hätten, einem jungen Menschen zuzugestehen, dass er die Tragweite dieser Entscheidung wirklich überblicken und verstehen könne. Sie meine das nicht auf einer kognitiven Ebene, also nicht im Sinne von er verstehe nicht, dass er dann nicht mehr lebe. "Aber was das bedeutet für ihn, nämlich nicht gelebtes Leben, also Leben nicht mehr zu erfahren, sich dieser Chance zu berauben. Die Konsequenz einer solchen Entscheidung wirklich zu überblicken, glaube ich, das fällt vielen schwer." Deshalb könne man ihnen nicht das Recht absprechen, dies zu tun. Aber deswegen sei man extrem zögerlich bei diesen Gutachten oder Bewertungen, dass dies jetzt ein Sterbewunsch sei, der grünes Licht bekommen müsse.

Stationäre Aufenthalte – wie komme ich hier schnell wieder raus?

Von Psychiatrie-Erfahrenen hört man auch, dass sie nach wiederholten Einweisungen die Klinik so schnell wie möglich wieder verlassen wollen. Sie schildern, dass sie nach mehreren Klinikaufenthalten sehr schnell lernen, wie sie sich verhalten und was sie sagen müssen, um die Klinik wieder verlassen zu können. So schilderte es auch Turowski vor Gericht, wie die Berliner Zeitung berichtet. In einer anderen Episode von Justitias Wille sagt er, dass Isabel R. mehrere Psychiater getäuscht habe.

Tragfähige Beziehungen als Voraussetzung für Suizidprävention

Will man spontane und einsame Suizide verhindern, sind gute und tragfähige Beziehungen eine wesentliche Voraussetzung für die Suizidprävention. Die Psychologin Dr. Elke Lemke (Autorin dieses Artikels) berichtet von ihren Erfahrungen in der Therapie mit verzweifelten und frustrierten Patient:innen, die sich Suizidhilfe wünschen. Sie sähen jedoch keine Chance, einen Arzt oder einen Sterbehilfeverein zu finden, der in ihrem Fall zu einer Suizidhilfe bereit sei. Die Therapeutin ist überzeugt, dass es bei ihren Patient:innen bisher keine einsamen, harten Suizidversuche gab, weil den Betroffenen diese Methoden zu unsicher seien. Entscheidend sei, dass sie eine tragfähige Beziehung zu ihrer Therapeutin haben. Sie berichtet aber auch, dass sie bei dieser Patientengruppe sehr viele indirekte Suizide erlebe. Sie zählt auf: ununterbrochener Nikotinabusus, "Fressen" im wahrsten Sinne des Wortes, aber auch nicht mehr essen, Vernachlässigung der Körperpflege, Vermüllung der Wohnung, Abkapselung und Kontaktabbruch, nicht mehr aus dem Haus gehen, Risikoverhalten wie ungeschützte Promiskuität, gefährliches Autofahren, Alkoholkonsum am Rande des Komas etc.

Zum Leben verdammt

Viele Menschen, denen der assistierte Suizid verwehrt wird, sind tief verletzt, weil ihnen die Fähigkeit abgesprochen wird, kompetent über ihr Leben zu entscheiden. Sie fühlen sich herabgesetzt und entmündigt. Resignation und verzweifelte Wut sind häufige Reaktionen. Sie sind de facto zum Leben verdammt, wenn sie keinen harten Suizid wollen. Selbst Sterbefasten, also der freiwillige Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit mit dem Ziel, dadurch zu sterben, was bei körperlich Kranken von vielen Ärzten akzeptiert wird, ist für diese Menschen nicht möglich. Sterbefasten kann ohne entsprechende ärztliche Begleitung sehr qualvoll sein und ohne Pflege, besonders zum Ende hin, nicht möglich. Aber auch die Hilfe und Unterstützung beim Sterbefasten ist nur unter der Voraussetzung der Freiverantwortlichkeit erlaubt. Überhaupt, müsste man nicht schon zu Beginn, wenn ein psychisch kranker Mensch die Entscheidung zum Sterbefasten nicht freiverantwortlich trifft und das Essen und Trinken konsequent einstellt, eine Zwangseinweisung herbeiführen? Müsste dann nicht eine Zwangsbehandlung, notfalls sogar eine Zwangsernährung erfolgen?

Die Grenze

In welchen Situationen kann die Freiverantwortlichkeit sicher ausgeschlossen und muss die Suizidhilfe abgelehnt werden? Bei schweren kognitiven Einschränkungen, die das Urteilsvermögen dauerhaft beeinträchtigen, wie zum Beispiel bei einer fortgeschrittenen Demenzerkrankung, wird man sicher von einer fehlenden Freiverantwortlichkeit ausgehen müssen. Dies ist dann der Fall, wenn die Person nicht mehr in der Lage ist, ihre Situation zu erfassen, Alternativen zu verstehen und abzuwägen.

Freiverantwortlichkeit ist sicher auch nicht gegeben in akuten Phasen einer psychiatrischen Erkrankung, in Krisen und emotionalen Ausnahmesituationen, unter Drogen und bei Wahnvorstellungen. Es liegt in der Natur akuter Krisen, dass sie vorübergehen. Nach Abklingen der Akutsituation kann eine Abklärung der Freiverantwortlichkeit erfolgen, wenn der Sterbewunsch weiterhin stabil besteht.

Der Abschreckungseffekt

Die WAZ schrieb am 12. Dezember 2023 zu Beginn des Prozesses gegen Dr. Spittler: "Die Staatsanwaltschaft wirft Spittler vor, wider besseres Wissen gehandelt zu haben. Er habe den Dorstener beim Sterben begleitet und dabei zumindest in Kauf genommen, dass der 42-Jährige aufgrund seiner depressiven Erkrankung nicht in der Lage war, die Entscheidung zum Suizid freiverantwortlich zu treffen. Auch ein möglicherweise positiverer Verlauf der Erkrankungen sei nicht ausreichend geprüft worden."

Muss ein Arzt oder eine Ärztin angesichts der beiden Prozesse und Urteile nicht davor zurückschrecken, bei psychisch Kranken Suizidhilfe zu leisten? Eine Staatsanwaltschaft kann jederzeit unter Berufung auf ein Gutachten, das die fehlende Freiverantwortlichkeit feststellt, Anklage erheben. Bei psychisch Kranken steht immer der Vorwurf im Raum, sie seien nicht in der Lage, eine freiverantwortliche Entscheidung zu treffen. Man spricht von einem Chilling-Effekt, wenn Verfahren oder gar Verurteilungen dazu führen, dass andere Menschen abgeschreckt werden.

Die Ärztin Dr. Marinou Arends war in den Niederlanden angeklagt. In ihrem Buch "Angeklagt wegen Sterbehilfe"1 berichtet sie ausführlich über ihre Prozesse. Darin weist sie darauf hin, dass "eine Verrechtlichung und Kriminalisierung der Sterbehilfepraxis sowie eine bedrohliche Wortwahl an der Spitze der Staatsanwaltschaft" bei den Ärzten Angst vor der Durchführung einer Sterbehilfe verursachen. Eine der sichtbaren Folgen der Politik der Staatsanwaltschaft in ihrem Fall sei, dass im Jahr 2018 erstmals die Zahl der gemeldeten Sterbehilfefälle zurückgegangen ist. Die Absicht, genau diesen Effekt zu erzielen, kann sicherlich nicht in allen Fällen ausgeschlossen werden.

Check your Dogma!

Die Gerichte müssen sich bei der Urteilsfindung auf das Fachwissen und die Einschätzung forensisch-psychiatrischer Gutachten stützen. Die psychiatrische Fachwelt betrachtet jedoch Suizidgedanken und Suizidentscheidungen in erster Linie als Teil einer psychischen Erkrankung. Sie führt dies auf eine krankheitsbedingte Einengung des Denkens zurück.

Deshalb hier ein Appell an die Psychiaterinnen und Psychiater, angesichts der Tatsache, wie sehr zum Freitod entschlossene Patientinnen und Patienten unter dieser Annahme leiden und sich in ihren Rechten beschnitten fühlen: Check your Dogma!

  • "Diese Entscheidung kann ein psychisch kranker Mensch nicht treffen, weil er in dieser Frage nicht zur Selbstbestimmung fähig ist." Check your Dogma!
  • "Die Möglichkeit einer Besserung muss immer in Betracht gezogen werden." Check your Dogma!
  • "Wenn es keine Aussicht auf Besserung gibt, kann man immer noch lernen, sein Leiden zu akzeptieren und damit zu leben." Check your Dogma!

Vielleicht ist man beim letzten Dogma in die Falle der christlichen Leidensverherrlichung getappt. Letztlich läuft es auch hier, wie bei körperlich kranken oder lebenssatten Menschen, auf die Frage hinaus: Wer bestimmt über unser Leben? Und darf man unter Berufung auf die Fürsorge einen Menschen zum Leben verdammen?

Unterstützen Sie uns bei Steady!

1 Arends, Marinou. Angeklagt wegen Sterbehilfe: Mittelpunkt eines juristischen Tauziehens (S.344). R.G. Fischer Verlag. Kindle-Version. ↩︎