Sitte & Anstand: Geschichten aus dem Prenzlauer Berg

Die zweite Welle

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Berlin-Prenzlauer Berg, Stargarder Straße mit Gethsemanekirche
Berlin-Prenzlauer Berg, Stargarder Straße mit Gethsemanekirche

Die diese Wochen erlebt haben, nannten die erste Welle des Corona-Homeoffice das "Stalingrad des kleinen Prenzlbergers": Was für eine entbehrungsreiche Zeit! Ganze Familien hockten auf wenigen hundert Quadratmetern Altbau aufeinander, das total süße schallgedämpfte Vegancafé ums Eck und der schwedische Lakritzladen waren nicht zugänglich, auf der Straße musste man viele Passanten streng anschauen, die sich nicht an die Abstandsregeln hielten.

Zeitungen und Zeitschriften waren voller Artikel, die im Homeoffice entstanden waren und von den Härten des Homeoffice berichteten: Geschichten, die zu Tränen gerührt hätten, hätte man es nicht selber, im eigenen 4. Stock mit Doppelbalkon, noch viel schlimmer gehabt. Noch die Prenzlkinder werden einst den Prenzlenkeln davon berichten, wie die Hüpfkarrees auf den abgesperrten Spielplätzen unbehüpft blieben, total knuffige Hunde vorsichtshalber nicht gestreichelt werden durften, weil Doc Drosten sich da noch nicht letztgültig zur Ansteckungslage geäußert hatte, und wie, vor lauter Langweile, Mutti und Vati anfingen, sich für die Spiele auf der Playstation zu interessieren: die Hölle!

Da wird die zweite Welle uns, so steht zu vermuten, nicht derart unvorbereitet treffen. Um die Gehwegbreite effektiv zu verdoppeln, werden Gehwege nur noch in einer Richtung begehbar sein (und Riesenpfeile werden auf die Gehwegplatten verklebt werden).

In Facebookgruppen und auf nebenan.de werden die Termine der Balkonkonzerte bekannt gegeben, mit denen zunächst viertelbekannte Musiker, dann engagierte Sängerinnen aus dem Gethsemane-Kirchenchor, dann auch Noelle (7), Noah (8) und Kriemhild (6) die Nachbarschaft beglücken werden. Den Applaus in die Abendstunden hinaus, vom Balkon runter, an all die tüchtigen Krankenschwestern, die sich die Gegend schon längst nicht mehr leisten können, den spart man sich jetzt: Es wird da eine praktische Klatsch-App geben, die man zu gegebener Uhrzeit betätigt, und deren Klatschen sich die Krankenschwestern dann in einer Zigarettenpause runterladen können, da haben die doch viel mehr von, naja, und um die Moral der gebeutelten Pberg-Bevölkerung am Leben zu halten, wird das total süße, schallgedämpfte Vegancafé um die Ecke, nach einer mehrwöchigen Medienkampagne, als systemrelevant anerkannt werden und öffnen. Der Lakritzladen übrigens auch. Aber glauben Sie mal nicht, dass sie was von den leckeren schwarzen Fudge-Brocken abkriegen, die habe ich längst alle gehamstert auf Jahre hinaus.

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