Atheismus, Religion und Wissenschaft

Ein Problemfeld zu klärender Verhältnisse

GRAZ. (hpd) Bei der Zeitschrift “Erwägen - Wissen - Ethik” handelt es sich um ein Forum für Erwägungskultur. Günter Kehrer, Professor an der Philosophischen Fakultät, Abteilung Indologie und Vergleichende Religionswissenschaft an der Universität Tübingen, stellt zunächst seine Position zu diesem Thema in einem Hauptartikel zur Diskussion. Hierauf antworten 69 von den Herausgebern als kompetent ausgewählte Wissenschaftler.

Der überwiegende Teil dieser Experten[1] sind Theologen der beiden großen christlichen Konfessionen; aber auch Philosophen, Religionswissenschaftler, Soziologen und Naturwissenschaftler sind ausreichend vertreten. Auf die Kritiken antwortet Kehrer in einem umfangreichen Replik, bei dem er sich auch für den sachlichen und fairen Ton bedankt.

Kehrers Impulsreferat diskutiert zunächst die Mechanismen des weitgehend konfliktfreien Verhältnisses von Religion und Wissenschaft und die offensichtliche Marginalität des Atheismus. Die Forschungspraxis der (Natur)Wissenschaften ist atheistisch: Gott kommt nicht vor.

Während noch vor 200 Jahren viele Naturwissenschaftler auch theologisch argumentierten, hat sich die Gotteshypothese aus der Forschung zurückgezogen. Diesem Vorgang entsprach der stillschweigende allmähliche Verzicht der christlichen mainstream Kirchen auf gehaltvolle Aussagen über Gott und die Welt. In diesem schweigenden konfliktfreien Verhältnis können atheistische Positionen nur schwer Gehör finden. Auch ein mögliches religionskritisches Potential der empirisch und historisch arbeitenden Religionswissenschaften konnte sich nicht entwickeln, da die Position des methodologischen Agnostizismus auf das Stellen der Wahrheitsfrage verzichtet. Es wird befürchtet, dass eine dominierende funktionalistische Betrachtung von Religion sogar eine unspezifische religionsaffirmative Haltung erlaubt.

Das führt zu der Frage, ob dabei den Vertretern des Atheismus nur noch der Kampf gegen Kreationismus und Fundamentalismus an den erstarkenden Ränder des christlichen Religionssystems bleibt?

Neben sehr vielen Details und weiteren Fragen befasst sich Kehrer dann hauptsächlich mit der Entkonkretisierung religiöser Lehrmeinungen. Danach kann Religion definiert werden als ein System von Glaubenssätzen und Praktiken, mit deren Hilfe eine Gruppe von Menschen mit den letzten Problemen des menschlichen Lebens ringt. Kehrer widerspricht jedoch auch nicht der Definition des Ethischen Humanismus, der Religion als Orientierung im Dasein sieht, in sozialer Gebundenheit und höchster Reflexion von Geist und Gefühl. Schließlich stellt er die rhetorischen Frage: Lohnt sich der Kampf überhaupt noch, den Atheisten gegen Religion über Generationen hinweg führen? Die Antwort lautet: Intellektuell nicht mehr, aber gesellschaftlich wird er als noch notwendig gesehen, um die nicht mehr zu rechtfertigende Privilegien von Religion aufzuheben und wieder auftauchende Versuche, Meinungsfreiheit einzuschränken, zu bekämpfen.

Die Diskussion

Dem Hauptartikel schließt sich eine umfangreiche Diskussion auf sehr hohem intellektuellem Niveau an. Nur einige wenige Punkte können hier angeführt werden, hauptsächlich um eine angemessene Aufmerksamkeit zu provozieren. So kam es zu dem Vorwurf, dass Kehrer in Gefahr läuft, Religion abzuwerten, wenn er sie nicht scharf genug von Konfession trennt und dass er die pantheistische Vorstellung vernachlässigt, die nicht Gott sondern das Sein im Mittelpunkt von Religion sieht. Bei dem Versuch die Meinungsfreiheit einzuschränken wird auch auf die Ambivalenz des Böckenförde-Theorems verwiesen.

Interessant ist die Formulierung akademischer Atheismus für die Form eines Atheismus, der nicht konfessionell öffentlich auftritt. Unter der Überschrift “Atheismus und Agnostizismus” lesen wir, dass die wissenschaftliche Forschung, sowohl in den Kulturwissenschaften als auch in den Naturwissenschaften, methodisch atheistisch ist. Das führt zu der Feststellung, dass das Kennzeichen der heutigen Zeit kein kämpferischer Atheismus, sondern ein Gewohnheitsatheismus ist.

Wenn auf der anderen Seite ein Rückgang des Anteils von religiösen Menschen konstatiert wird, die nicht primär an Lehren interessiert sind, sondern so genannte Rollenmenschen, für die Religion in erster Linie die Verbindung zu einem übermenschlichen Wesen darstellt, könnte man darin eine Entwicklung hin zum Kulturchristentum vermuten.

Eine gesellschaftliche Relevanz von Religion und Atheismus wird dann darin gesehen, das unabhängig von einem religiösen Fundamentalismus ein religiöser Markt entsteht, dessen Angebote vielfältige Beziehungen zu anderen gesellschaftlichen Teilbereichen, wie Medizin, Kunst usw. unterhalten - und wörtlich: Ein weiteres Feld bietet sich in der Kooperation zwischen alternativer Medizin und alternativer Religiosität an.

Die Kritiken aus theologischer Perspektive sind weitgehend bemüht, darauf hinzuweisen, dass die mythische Sprache der Religion nicht wörtlich genommen werden darf, wenn eine Harmonisierung mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gesucht wird. Die Sprachspiele um Schöpfungsmythen und Daseinsorientierung sind interessant zu lesen, aber ihre Wissenschaftlichkeit erschöpft sich meistens in der Bemühung um Widerspruchsfreiheit. Für einen Naturalisten sind sie dennoch schwer nachvollziehbar.

Erfreulich ist, dass ein Einfluss des Kritischen Rationalismus auf die Theologie erkennbar bleibt. In Bezug auf die Probleme eines militanten Islams, der die gesamte Religion in Verruf bringt, wird festgestellt, dass die islamische Theologie ihre Chance verpasste, indem sie versäumte, die antike Philosophie zu integrieren.

So schlichte Vergleiche, wie eine Gegenüberstellung von Erfahrungen mit so genannten atheistischen Staaten wie DDR, UdSSR, China usw. mit dem akademischen Atheismus, sind glücklicherweise eher selten und unter Immunisierungsstrategien abzuhaken. Wichtig für die Gesamtproblematik bleiben die Argumente unter der Überschrift “Atheismus, Ethik und Moral”. Sie zeigen, dass es vielfältige Gründe dafür gibt, die moralische Autorität der Religion, die diese zweifellos immer noch genießt, zu hinterfragen. Dazu werden zwei Beispiele genannt: die Debatte um einen verpflichteten Ethikunterricht und die Diskussion über die Zusammensetzung von Ethikkommissionen. Hieraus wird geschlossen, dass dem wissenschaftlichen Atheismus doch eine größere Bedeutung zukommt, als Kehrer noch vermutet und deshalb auch eine intellektuelle Auseinandersetzung mit ihm und der Religion notwendig bleibt. Einigkeit scheint darin zu bestehen, dass eine organisierte weltweite atheistische Bewegung dem Religionsfrieden nicht förderlich wäre.

Schließlich fehlt auch der Hinweis auf Jürgen Habermas nicht, bei dem sich die bannende Kraft des Heiligen in der Religion, im Alltag zur bindenden Kraft kritisierbarer ethischer Geltungsansprüche sublimiert, der aber gleichzeitig davor warnt, dass Aufklärung ohne Wissenschaft zur privaten Esoterik führt und Ausbildung ohne Bildung ins Chaos.

Fazit

Erst in seiner Replik outet sich Kehrer als Atheist, für den die Existenz von einem Gott so unwahrscheinlich ist, dass man sie mit hoher Sicherheit ausschließen kann. Dabei stellt er klar, dass er nicht mit den sog. neuen Atheisten verwechselt werden will, deren Religionsverständnis er für schlicht und falsch hält, dass jemand, der sich professionell mit Religion befasst, nur staunen kann (Das Gleiche könnte man allerdings auch von manchem Pfarrer aus der Provinz vermuten - wäre anzufügen). Kehrer ist Mitglied der Giordano-Bruno-Stiftung.

Die umfangreichen und wissenschaftlich korrekten Ausführungen sowie der weitgehende Verzicht auf Polemik macht die Auseinandersetzung mit diesem Forschungsprojekt geradezu zu einem Muss für alle, die sich eine fachgerechte Diskussion über Atheismus, Religion und Wissenschaft zutrauen. Außerdem kann die Studie auch bei einer Namensdiskussion hilfreich sein, die in einigen Freireligiösen und Unitarischen Gemeinden gelegentlich auftaucht.


  1. Die Wissenschaftler sind: Wolfgang Achtner, Lutz-Michael Alisch, Albert J. J. Angelberger und Christian J. Feldbacher, Reiner Anselm, Mariano Barbato und Melanie Barbato, Reinhold Bernhardt, Micheal Blume, Gerhard Czermak, Christian Danz, Philipp David, Tonke Dennebaum, Dirk Evers, Dagmar Fenner, Ulrich Frey, Holger Glinka, Peter Gostmann, Bernd Gräfrath, Wolfgang Hasberg, Hans-Michael Haußig, Heinzpeter Hempelmann, Rolf Hille, Hans Gerald Hödl, Gregor Maria Hoff, Bernd Irlenborn, Monika Jakobs, Thomas Junker, Joachim Kahl, Bernulf Kanitscheider, Andreas E. Kilian, Anja Kirsch, Ulrich Kutschera, Bernhard Lang, Andreas Losch, Vasilios N. Makrides, Charles McCarty, Ralf Miggelbrink, Lazaros Miliopoulos, Hans-Dieter Mutschler, Katharina Neef, Fritz Oser, Matthias Petzoldt, Gert Pickel, Carsten Ramsel, Michael Roth, Eckart Ruschmann, Kornelia Sammet, Erich Satter, Thomas Schärtl, Henning Schluß und Kim Dusch, Jochen Schmidt, Herbert Schnädelbach, Hans Schwarz, Christoph Seibert, Walter Sparn, Michael Städtler, Burkhard Stephan, Klaus von Stosch, Magnus Striet, Bertram Stubenrauch, Thomas Sukopp, Paul Tiedemann, Hagen Weiler, Dorothea Weltecke, Franz Josef Wetz, Maria Widl, Joachim Willems, Folkart Wittekind, Monika Wohlrab-Sahr, Jean-Claude Wolf.  ↩