Kommentar zu einem Schweizer Abstimmungstag

Schwächung oder Stärkung der Demokratie?

KONSTANZ. (hpd) Das Schweizer Stimmvolk hat wieder einmal entschieden: Auch wenn die rechtspopulistische "Schweizer Volkspartei" (SVP) eine Niederlage erlitten hat und ihre "Durchsetzungsinitiative" nicht griff (und damit "kriminelle Ausländer" nicht pauschal abgeschoben werden), hat der Tag doch über die eigentliche inhaltliche Thematik hinaus eine Botschaft, über die bereits seit Wochen vor allem in den nicht-schweizerischen Medien diskutiert wurde: Wie steht es im Land der Autorität des Volkes tatsächlich um die Demokratie?

Vielerorts wird im fachlichen Diskurs das sogenannte "Schweizer Modell" als ein Muster für basisnahe Partizipation gewürdigt – und seine Vorteile heraufbeschworen. Zweifelsohne: In der Alpenrepublik haben tatsächlich noch die Bürger die Möglichkeit, über das zu befinden, was denn so auf der Seele eines noch immer durch auffälligen Nationalstolz geprägten Eidgenossen brennen mag. Wenn – wie gestern – über eine zweite Tunnelröhre am Gotthard oder die Besteuerung von Ehepaaren und unverheirateten Paaren entschieden wurde, mag man das als wichtigen Beitrag zur Mitgestaltung der Politik sehen. Sollte es dann aber vielleicht auch wieder einmal über das neuerliche Einführen der Todesstrafe gehen, für das bereits in der Vergangenheit das Referendum ergriffen werden sollte, in letzter Minute aber doch noch zurückgezogen wurde, kommen doch Zweifel auf, wie sinnvoll eine solche Art der Mitbestimmung letztlich sein kann.

Wer in den letzten Wochen den Wahlkampf in der Schweiz beobachtete, der war schon ein Stück weit irritiert: Hier vor Ort, ganz direkt an der Grenze zur Schweiz, kam man nicht umhin, zu spüren, dass selten ein derartiger Populismus das Vorfeld einer Abstimmung prägte. Da fanden sich Hakenkreuze auf Wahlplakaten und unbescholtene Ausländer wurden offen zum Verlassen des Landes aufgerufen. Im Vergleich zum "Schwarzen Schaf" als Motiv, was noch beim letzten Mal auf den Leinwänden der Straßen für Empörung sorgte, hatten die Kampagnen jetzt noch deutlich härtere Geschütze aufgefahren. Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind an der Tagesordnung gewesen, Hilferufe von jungen Migranten schafften es auch in die ausländische Presse. Und selbst, wenn all das am Image der Schweiz kratzen möge, störte es kaum jemanden. Denn die Schweizer Bürgerinnen und Bürger scheinen abgestumpft zu sein – und das aufgrund ihrer Überheblichkeit, ihres Selbstbewusstseins und nicht zuletzt auch ihrer "direkten Demokratie".

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Screenshot blick.ch

Wenn Hetze normal wird und es selbstverständlich ist, mit Parolen abseits von jeglicher Moral werben zu können – weil man als Souverän eben das Recht dazu hat –, dann werden Probleme eines Systems offenbar, das eben doch keinesfalls so erstrebenswert ist, wie es mancher Anhänger propagiert. Im Zweifel ließen sich auch gegen den Willen der Politik Verträge, bilaterale Vereinbarungen bis hin zu verbindlichen völkerrechtlichen Verpflichtungen aufkündigen – das Stimmvolk hätte es in der Hand. Erste Anzeichen dessen, dass man unter den Helvetiern nicht davor zurückschreckt, auch das, was in Deutschland unter einer Ewigkeitsklausel stehend dauerhaften Schutz vor Willkür und humanitärem Unrecht bietet, in Frage zu stellen, werden durch die Vorstöße deutlich, die in Sachen EU-Politik vorangetrieben wurden. Die Beschränkung der Personenfreizügigkeit gegenüber Bürgern anderer europäischer Länder, gerade Deutschlands, setzte sich in Form der Massenzuwanderungsinitiative nicht zuletzt deshalb durch, weil viele Schweizer vor lauter Hybris kaum noch laufen können.

Sicherlich ist das auch eine Besonderheit: Eine lange Geschichte von Unabhängigkeit, in der man sich in einem Europa, umrahmt von einer Gemeinschaft anderer Staaten, behaupten musste, hat die Konföderation stark in ihrem Gefühl von Zusammengehörigkeit gemacht. Wirtschaftlicher Erfolg mag diesem Alleingang vielleicht einerseits Recht geben, die Isolation des Landes auf der anderen Seite verdeutlich aber auch, dass das „Anderssein“ nicht unbedingt attraktiv machen muss – es sei denn, man ist Gutverdiener oder möchte einer davon werden. Und zu dieser Eigenart in der schweizerischen Identität gehört eben gleichsam die lange Tradition der Volks- und Ständehoheiten, die den nationalen Parlamenten, aber auch den kantonalen Vertretungen bedeutende Macht nehmen. Was toll klingt, führt nicht selten zur Unregierbarkeit – nicht umsonst ergriff die SVP aktuell neuerlich die Initiative, weil sich der Bundesrat kaum in der Lage sah, die vom Volk gut geheißene "Ausschaffungsinitiative" menschenrechtskonform umzusetzen. Doch wenngleich die Historie dem direktdemokratischen Ansatz in der Schweiz einen speziellen "Beigeschmack" gibt, garantiert niemand, dass auch andernorts Nationalismus nicht zum Missbrauch einer solchen Partizipationsform anregen würde.

Dort, wo letztlich über alles verhandelt werden kann, haben verbindliche Dokumente, auf die man sich verlassen können müsste, keine Bedeutung mehr. Wenn eine Mehrheit an Populisten die Verfassungsänderung fordert und ausreichend Anhänger mit aufstachelnden und Angst schürenden Aufrufen zur Wahlteilnahme mobilisiert, dann kann – und muss – sie umgesetzt werden. Im Gegensatz zur repräsentativen Demokratie fehlt es an Kontrollmechanismen und notwendigen Grenzen dessen, über was schlussendlich votiert werden darf. Dem System mangelt es an unverrückbaren Säulen, die das Volk vor seinem eigenen Opportunismus zu bewahren versuchen.

Bürgerbeteiligung à la "Schweizer Modell" bedeutet somit zwar, eine wahrhaftige Diktatur des Plebs zu ermöglichen und dem Souverän vollkommen freie Bahn zu lassen. Gleichzeitig können Minderheiten mit ihren Ideologien die Richtung bestimmen, wenn sie Geld, Einfluss und gute Marketingexperten an ihrer Seite haben. Und sollte sich schlussendlich doch noch ein Gericht oder missliebige Gesetze gegen Volkes Wunsch stellen – stimmt es eben nochmals ab…