BONN. (hpd) Der Historiker Thomas Weber erklärt sich in seinem Buch "Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde" die Entwicklung des späteren Diktators zum Antisemiten und Rassisten aus der politischen Verarbeitung des Versailler Vertrages als Erweckungserlebnis. Auch wenn der Autor eng an den historischen Quellen arbeitet, ist er doch allzu sehr auf die Bestätigung seiner Deutung fixiert, was ihn sowohl zu einer einseitigen Darstellung motiviert wie ihn eine Gesamtinterpretation unterlassen lässt.
Warum wurden ab Ende der 1920er Jahre immer mehr Deutsche Nazis? Diese Frage wird bis heute noch in Öffentlichkeit und Wissenschaft kontrovers diskutiert. Man kann aber auch eine andere und besondere Frage stellen: Warum wurde der Obernazi ein Nazi? Ihr geht der Historiker Thomas Weber, der an der University of Aberdeen lehrt, in seinem Buch "Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von 'Mein Kampf'" nach.
Wie der Untertitel schon andeutet, folgt die Rekonstruktion eines Politisierungsprozesses. Denn wie man heute angesichts der Präsenz von Rechtsextremisten sagt "Niemand wird als Neonazi geboren", gilt dies auch für Hitler selbst. Was machte aus ihm einen fanatischen Antisemiten und Rassisten?
Der Autor, der durch sein Buch "Hitlers erster Krieg" über die Soldatenzeit des späteren Diktators bekannt geworden ist, beschreibt darin dessen Entwicklung von 1918 bis 1926 anhand von historischen Quellen, wobei diese im Lichte des Erkenntnisinteresses und der Problemstellung gedeutet werden.
Bereits in der Einleitung heißt es bei Weber: "Adolf Hitlers Metamorphose zu einem Führer mit festen nationalsozialistischen Überzeugungen begann erst 1919" (S. 8). Demnach sei er zuvor ein unbeschriebenes politisches Blatt, ja sogar eher dem linken Spektrum zurechenbar gewesen. Somit komme den Jahren in Wien keine Relevanz für Hitlers spätere Entwicklung zu. Die damit einhergehende Auffassung vom "unpolitischen Soldaten", wie es im Untertitel heißt, betont Weber anhand von akribischen Beschreibungen jener Ereignisse am Ende des Ersten Weltkriegs im Übergang zur Weimarer Republik.
Für das Jahr 1918 konstatiert Weber: "Er war ein Suchender, ja Opportunist gewesen, der sich schnell an die neuen revolutionären politischen Gegebenheiten angepasst hatte. In seinem Verhalten hatte nichts Gegenrevolutionäres gelegen" (S. 29). Der Autor geht aber noch weiter und schreibt: "Hitler stand der SPD nahe …" (S. 116). Eine später behauptete frühe Abneigung gehe auf eine falsche Deutung des überlieferten Quellenmaterials zurück.
Eine Frontstellung gegenüber der Partei sei erst am 9. Juli 1919 aufgekommen. An diesem Tag ratifizierte Deutschland den Versailler Vertrag, womit das ganze Ausmaß der Kriegsniederlage überdeutlich wurde. Dieses Ereignis hält Weber für das "Damaskuserlebnis", das fortan Hitler zu einem Nationalsozialisten gemacht habe. Auch sein Antisemitismus sei erst in der Folge der Interpretation dieser Wirkung hervorgetreten. So betont Weber für den Sommer 1920: "Obwohl der Antisemitismus seit dem Sommer 1919 ein fester Bestandteil von Hitlers Weltbild war, hatten sich bisher nur zwei seiner Reden intensiv mit diesem Thema befasst" (S. 266). Erst danach habe er als Agitator einen antikapitalistischen mit einem rassistischen Antisemitismus kombiniert. Gleichwohl sei damals noch nicht klar gewesen, auf welche Art von Antisemitismus Hitler sich im Sommer 1920 festgelegt habe. Dazu kam es nach Weber erst danach. Der spätere Diktator habe auch zunächst Büchern zur "Rassentheorie" wenig Aufmerksamkeit geschenkt.
Da Weber eine Fülle von historischen Quellen präsentiert und sich auch mit deren Deutung reflektierend auseinandersetzt, beeindruckt seine Argumentation und Deutung zunächst. Gleichwohl neigt er allzu sehr dazu, die jeweils passenden Aspekte einseitig hervorzuheben.
Manchmal wird es dabei auch falsch, so schreibt er über den Grundlagentext der NSDAP von 1920: "Merkwürdigerweise befasste sich das Programm kaum mit Juden" (S. 247). Der Blick auf den Artikel 4 und die vielen Anspielungen darauf, hätten den Autor aber eigentlich vom Gegenteil überzeugen müssen. Hinzu kommt, dass lediglich historische Details referiert und als Unterstützung gedeutet werden.
Eine Gesamteinschätzung fehlt, bricht doch das Buch abrupt nach einem Blick auf das Jahr 1926 mit der Fertigstellung von "Mein Kampf" ab. Denn dass sich ein so fanatischer Judenhass mit weltanschaulicher Perspektive ohne latente Dispositionen binnen so kurzer Zeit entwickelt, widerspricht den Kenntnissen über Politisierungs- und Radikalisierungsprozesse nicht nur hinsichtlich der Judenfeindschaft.
Thomas Weber, Wie Adolf Hitler zum Nazi wurde. Vom unpolitischen Soldaten zum Autor von "Mein Kampf", Berlin 2016 (Propyläen-Verlag), 528 S., ISBN-13 9783549074329, 26,00 Euro
4 Kommentare
Kommentare
Wolfgang Brosche am Permanenter Link
Es ist zutiefst ennervierend, immer wieder dieses Historikerherumgetaste zu lesen...
Wir müssen uns eher fragen, woher die Triebkraft eines allumfassenden Hasses kommt - die Ursache ist keineswegs politisch! - Und Historiker haben sich mit politischen Begründungen die Zähne ausgebissen.
Goldhagen ist der Ursache in Teilen nahegekommen, aber nicht konsequent gewesen...denn das hätte geheißen, sich das Fortbestehen von Haß über Generationen vor Augen zu führen - und sich nicht auf einen billigen deutschen Volkscharakter hinaus zu reden.
Solange wir nicht endlich nachdenken über das generationenzerstörende 4. Gebot (und ähnliches gibt es in allen anderen Religionen), über den Machtmißbrauch schon im frühesten Stadium des Menschwerdens, über Unterwürfigkeit, Gehorsam und Kinderbesitz und Kinderbrechen, sind wir immer wieder in Gefahr (ud das zeigt auch der aktuelle europäische Rechtsruck) jede Grausamkeit zu akzeptieren.
Speziell zu Hitlers Kindheit und Jugend empfehle ich das entsprechende Kapitel bei ALice Miller: "Am Anfang war Erziehung".
Wäre Hitler eine gefestigte, weniger schon in der Kindheit geschädigte und beschädigte Person gewesen, wäre er den rechten Rattenfängern gar nicht auf den Leim gegangen.
Das Kind Hitler ist schon ganz früh in den Brunnen gefallen - daß er dann den Rechten ins Netz ging, lag nicht an seiner politischen Unbildung und Indifferenz, sondern an seiner anerzogenen Disposition fürs Autoritäre...
So hat es auch keinen Zweck mehr, darüber nachzudenken, wie man die Neofaschisten wieder zu braven Wählern der Mitte machen kann - der Zug ist abgefahren.
Das entmenschte System der Nazis und die entmenschte Weltvorstellung der Neorechten, ist schon früh installiert worden; sie sind nicht mehr der Vernunft und der Menschlichkeit zugänglich!
Hitler wandte sich der Unmenschlichkeit der Rechten zu, weil er diese Unmenschlichkeit schon ganz früh anerzogen bekommen hat - und dazu die Blendung erfahren hat, Grausamkeiten, Irrationalität und Haß nicht mehr wahrzunehmen...Ist das so schwer zu verstehen?
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ich sehe das so - der Zug ist an-, aber noch nicht abgefahren. Sonst könnte ich ja die Hände in den Schoß legen. Will ich aber nicht.
Ulf am Permanenter Link
Im Gegensatz zu ihnen Herr Brosche, bin ich der Meinung, dass es keine Neofaschisten in erforderlichem Umfang gibt, die dieses Land oder gar Europa in eine ähnlich dunkle Zeit zurückbringen könnten.
Ich hoffe sehr, dass solch geschürte Endzeitstimmungen, in der Einschätzung von Differenzen ähnlich selten bleiben, wie echte Neofaschisten, dann kommen wir vielleicht wieder zurück, zu einer Freiheit der Meinungen, Thesen und Theorien mit einer Mehrheitsfindung unter kompletter Ablehnung von Gewalt und Ausgrenzung. So könnte meiner Meinung nach unsere Gesellschaft in Europa wieder vorangebracht, auf neue Gleise gesetzt werden. Eine gegen Kritik immunisierte eigene Meinung verbunden mit einer herablassenden Verachtung, ja Hass auf die, welche nicht sofort begeistert den eigenen Ansichten folgen jedenfalls erachte ich persönlich nicht für zielführend, dies gilt selbstredend für Vertreter aller Denkrichtungen, mitte, rechts oder links, religiös oder areligiös. Alle wollen in Frieden und Freiheit leben... Ausgenommen die wirklich Radikalen, welche Gewalt zur Durchsetzung ihrer Ideen legitim finden und diese findet man leider nicht nur rechtsaußen oder in fundamentalen Kreisen einiger Religionen sondern durchaus auch unter vermeintlich Linken...
Grüße
Art Vanderley am Permanenter Link
OB Webers Ansatz ungenau ist , kann ich nicht beurteilen , aber er ist hochinteressant.
Wie alle Konvertiten gehörte er dabei zu den schlimmsten Fanatikern seiner neuen Zunft , daher ist es durchaus plausibel , daß Hitler quasi von heute auf morgen explodierte , was seinen Judenhass anging .