Arzu Toker las in Mainz aus ihrem Buch "Kein Schritt zurück"

"Der Mann soll dann seine Augen zubinden"

Die Regionalgruppe Mainz/Rheinhessen der Giordano Bruno Stiftung lud ein zu einer spannenden und hochpolitischen Lesung im Rahmen der interkulturellen Woche in Mainz unter dem diesjährigen Motto "Gemeinsam leben lernen". Hedwig Toth-Schmitz begrüßte die türkischstämmige Journalistin und Schriftstellerin Arzu Toker als Gastrednerin, die zum thematischen Schwerpunkt "Frauen und Ehre im Islam" las. Unser Autor Bernd Kammermeier war für den hpd vor Ort.

Im Gerty-Spies-Saal der Landeszentrale für Politische Bildung RLP in Mainz sitzt eine ruhige Dame mit schwarzen Locken und einigen interessanten grauen Strähnen vor 54 interessierten Zuhörern. Ihr Gesicht wirkt nach außen gelöst, doch ihre innere Anspannung schimmert durch. Jedes ihrer pointiert vorgetragenen, fast genussvoll zelebrierten Worte wirkt fein abgewogen, als wolle sie niemandem wehtun, die Wahrheit aber auch nicht verschweigen. Arzu Tokers Buch "Kein Schritt zurück" präsentiert eine Sammlung aus wahren Begebenheiten und trefflich Erfundenem – stets dicht an ihren eigenen Erinnerungen an ihre Kindheit in Südostanatolien, ihre Jugend in Istanbul, ihre Ausreise nach Deutschland 1974 und ihre Erlebnisse in einer neuen Kultur.

"Meine Kindheit verbrachte ich im Osten der Türkei. Die Ehre konnte dort das Leben kosten. Meine Jugend lebte ich in Istanbul, die Ehre war kein Thema. Seit 1974 lebe ich mitten in Europa, klammheimlich kam die Ehre nach. Sen benim namusumsun. Du bist meine Ehre." So beginnt sie ihre Lesung. Es ist der Anfang ihres Features "Die Balkonmädchen", das sie ursprünglich für den WDR geschrieben hatte, und nun den Beginn ihres leidenschaftlichen Buches bildet. Anrührende Texte, die sich mit der Realität muslimischer Frauen in der Türkei und Deutschland auseinandersetzen, mit ihren Zwängen und einem grotesken Ehrbegriff, der sich stets nur um die Ehre des Mannes dreht. Frauen, Mädchen, Kinder – sie alle dienen ausschließlich als Werkzeuge für die Ehre ihres Paschas.

Immer wieder muss die Autorin im Text springen, weil sie fürchtet, ihr könne die Zeit an diesem Abend nicht reichen. Immer wieder stockt ihr beim Lesen die Sprache. Viele im Saal spüren ihre Ergriffenheit. Es ist diese schonungslose Ehrlichkeit in ihren Texten, die auch die Zuhörer packt. Da schwingt nichts Beschwichtigendes mit, kein "Appeasement". Arzu Toker hat eine klare Position zur Rolle des Islams in der orientalischen Welt, die sie in ihren literarischen Texten unmissverständlich zum Ausdruck bringt.

Cover

Im Anschluss an die Lesung stellt sich die Autorin den Fragen des Publikums. Warum diese Rückkehr der Religiosität gerade unter den Muslimen zu beobachten sei, will ein Zuhörer wissen. Die Autorin erläutert ihre Sicht der Dinge: Nachdem die ersten türkischen Gastarbeiter in den 50-er-Jahren des 20. Jh. in Deutschland zunächst eher unreligiös in Erscheinung traten, weil sie einfach nur auf der Suche nach Jobs waren, habe in den 70-er-Jahren eine schleichende Islamisierung durch Al Rabita (eine saudi-arabische Stiftung) begonnen. Z.B. durch Missionierung mit Hörkassetten, aus denen muslimische Männer in Deutschland lernen sollten, wie sich ihre Frauen zu verhalten hätten. In den 80-er-Jahren habe Al Rabita von Saudi-Arabien aus die Imame von ca. 80 deutschen Moscheen der Diyanet (dem türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten) finanziert, um in Europa Einfluss zur Verbreitung des wahhabitischen Islams zu gewinnen. Arzu Toker habe bereits damals auf diese Umstände hingewiesen, doch es interessierte nicht einmal die Presse. Schuld an dieser schleichenden Islamisierung seien auch die Deutschen gewesen, die glaubten stets tolerant sein zu müssen. Dabei hätten sie das bereits mühsam Erreichte verraten: die Befreiung der Frau. Doch davon - so der eindringliche Appell der Autorin - sollte man keinen Schritt zurückweichen. Daher der Titel ihres Buches.

Auf die Frage, wo sie den Unterschied zwischen Gülen und Erdogan sähe, erwidert Arzu, dass die beiden sich sehr ähnlich seien. Sie hätten sich jedoch gegenseitig kontrolliert und als Gülen Bedenken bekam, dass sich Erdogan noch mehr bereichern könne, hätte er den bekannten Tonmitschnitt veröffentlicht, in dem Erdogan mit seinem Sohn über die Anlage von unterschlagenem Vermögen sprach. Seitdem hätten sich die Wege der einstigen Weggefährten getrennt.

Fast unvermeidbar scheint die Frage nach dem jüngsten Putschversuch in der Türkei. Hierzu zitiert die Autorin ihre vor Ort lebende, 85-jährige Mutter. Diese habe bereits zwei Putsche in der Türkei miterlebt und legte sich – nachdem die ersten Informationen über die aktuellen Ereignisse im Fernsehen kamen – schlafen. "Warum?", wollte ihre Tochter wissen. Die Antwort der alten Dame sei verblüffend gewesen: Bei einem Putsch würde man als Erstes den Ministerpräsidenten verhaften, dann den Präsidenten, dann Minister usw. Doch hier habe man lediglich eine Brücke besetzt. Und was sei das Ergebnis gewesen? Man konnte in einer Richtung nicht mehr über die Brücke fahren. Nach Auffassung Arzu Tokers und ihrer Mutter sei das ein "gefaketer Putsch" gewesen, um unliebsame Intellektuelle des linken Spektrums aus dem Weg zu räumen, für die man jetzt sogar die Gefängnisse räume.

In die sehr lebhafte und doch sachliche Diskussion mischt sich auch eine junge kopftuchtragende Muslimin ein, ganz traditionell gekleidet. Sie steht Arzu Tokers Position in puncto "Frauen und Ehre" diametral entgegen und hält deren Interpretation des Islams für falsch, weil "die Zitate aus dem Kontext gerissen" seien. Arzu Toker erwidert, dass jedes der von ihr verwendeten Zitate überprüfbar sei und bietet der Fragestellerin sogar an, ihr sämtliche Fotokopien ihrer fünfjährigen Übersetzungsarbeit an Ilhan Arsels umfangreichem Werk ("Die Frauen sind eure Äcker", Alibri 2012) zu schicken. Dieses Buch stelle die Position der Frau im Islam detailliert vor. Darin seien alle Belege und Zitate enthalten. Doch davon lässt sich die junge Muslimin nicht beeindrucken und Arzu kommt nach einem zwar freundlichen, aber eher fruchtlosen Disput zu dem Schluss, dass die Fragestellerin, wie alle konservativen Muslime, eine Islamistin sei. "Wenn Sie der Nordpol sind, bin ich der Südpol."

Arzu Toker positioniert sich in der Diskussionsrunde auch deutlich zum Kopftuch, als eine Zuhörerin darauf hinweist, dass sie sehr feministische Musliminnen mit Kopftuch kenne. Die Pflicht zur Verhüllung der Haare, so die Autorin, sei eine Form der Unterdrückung der Frau. Früher habe sie, als Frauen wegen ihres Kopftuches angegriffen worden seien, demonstrativ ein Kopftuch angezogen. Heute nicht mehr. Sie sieht im Kopftuch auch eher eine Beleidigung des Mannes, der sich nach islamischer Vorstellung offenbar sexuell nicht im Zaum habe, sobald er offene Haare sehe. Was wäre also nach Meinung von Arzu Toker besser als die Frau zu verhüllen? "Der Mann soll dann seine Augen zubinden."

Arzu Toker: Kein Schritt zurück, Taschenbuch, 157 Seiten, 2. korrigierte Auflage 2016, Alibri, 12 Euro, ISBN 978-386569-166-8