Bundesvorstand legt Parteitag Reformkonzept vor

Grüne wollen Religionsverfassungsrecht reformieren

Immer mehr Menschen sind frei von Religion, aber auch von Weltanschauung. Die religiös-weltanschauliche Landkarte in Deutschland wird immer vielfältiger. Neue Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sind dazu gekommen und auch innerhalb der Gemeinschaften wird es bunter. Eine grüne Fachkommission hat sich intensiv mit den großen Fragen der Religionspolitik befasst und einen Abschlussbericht geschrieben. Auf dessen Grundlage hat der Bundesvorstand Bündnis 90 / Die Grünen einen Antrag für die nächste Bundesdelegiertenkonferenz (Bundesparteitag) im November 2016 formuliert.

Fest steht: Der Veränderungsbedarf im Verhältnis von Religion, Weltanschauung und Staat ist erheblich. Aus der Zeit gefallen ist dem gegenüber das "Staatskirchenrecht" von 1919. Ganz im Sinne der großen Kirchen bewahrt es ihnen bis heute ihre privilegierte Stellung; Seine alten Zöpfe lassen selbst Rapunzel vor Neid erblassen. Sie stammen noch aus einer Zeit, als sich letzte Deutsche Kaiser nach verlorenem 1. Weltkrieg gerade ins Exil davongemacht hat. Wilhelm der II. war als preußischer König auch Oberhaupt der evangelischen Kirche. "Von Gottes Gnaden" eingesetzt – folgten dem himmlisch Gesalbten die meisten Untertanen umso gehorsamer in den Krieg.

Neutralität und Trennung von Religion, Weltanschauung und Staat bedeuten auch nach Auffassung der säkularen Mitglieder der Kommission kein Verbot jedweder Kooperation von Staat und Kirchen. Gerade die wachsende Ausdifferenzierung der religiösen Landschaft verlangt vielfach eine aktive Rolle des Staates, Er kann und darf zwar nicht Theologie betreiben, muss aber einen neuen Ordnungsrahmen für Religionen und Weltanschauungen schaffen und dabei auch klare Grenzen setzen, beispielsweise bei Missbräuchen in der Kindererziehung. Die Glaubensfreiheit darf indes nicht länger in himmlischen Sphären über den anderen Grundrechten schweben, sondern ein gleichwertiger Teil der Verfassungsordnung werden. Der Glaube an die Abstinenz des Staates bei der Werteerziehung verkennt zudem, dass der Staat längst in vielen Gesellschaftsbereichen präsent ist und umgekehrt gesellschaftlichen Organisationen zahlreiche Mitwirkungsmöglichkeiten in öffentlichen Belangen erlaubt. Der gesamte öffentliche Planungsbereich ist ohne derartige Kooperation nicht denkbar. Grüne Christen, Säkulare und andere vertreten von daher gemeinsam die Überzeugung, dass Religionsfreiheit auch das öffentliche Bekenntnis erfasst. Zu dem zivilgesellschaftlichem Engagement, das der Staat unterstützen solle, gehört mithin auch die Arbeit von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. So ist es völlig richtig, wenn der Berliner Senat beispielsweise die populäre "Lange Nacht der Religionen" unterstützt. Grundsatz der Religionspolitik muss es aber sein, die Pluralität der verschieden Religionen und Weltanschauungen zu respektieren und deren Gleichberechtigung zu gewährleisten. Jede Form der Diskriminierung von Menschen aufgrund ihres Glaubens lehnen Grüne geschlossen und entschlossen ab, sei es durch den Staat oder durch Teile religiöser Gemeinschaften selbst.

Das Eintreten für die individuelle Freiheit zu glauben – oder es nicht zu tun – hat nichts zu tun mit einem Festhalten an den überkommen Privilegien der Amtskirchen. Ob beim Kirchensteuereinzug durch die Finanzämter, dem Fortbestehen der Gotteslästerung als Straftatbestand, christlich dominierten Friedhofsordnungen, albernen Tanzverboten an christlichen Gedenktagen und dem musealen Arbeitsrecht für die 1,2 Mio. Beschäftigen: Reformbedarf allerorten! Bei den Kirchen, ihren Kindergärten und Krankenhäusern darf nicht gestreikt werden, In der katholischen Kirche ist den Angestellten sogar bei Strafe des Arbeitsplatzverlustes eine neue Ehe untersagt. Auch Absonderlichkeiten aus der Mottenkiste der großen und teuren historischen "Staatsleistungen" stehen endlich zur Diskussion. Noch bis zum Jahre 2010 zahlte beispielsweise der Freistaat Bayern den Domkapitularen ihre Wohnungen. Die Beispiele lassen sich beliebig erweitern, was aber diesen Text sprengen würde.

Der grüne Bundesvorstand fordert Einschnitte in die überlebten Vorrechte der Kirchen und zugleich eine Stärkung der Rolle der vielen kleineren Glaubensgemeinschaften sowie der nicht- oder antireligiösen Weltanschauungsvereine. Gemeint sind nicht allein Muslime oder Buddhisten, sondern gerade auch Religionskritiker, Atheisten und Säkulare wie der "Humanistische Verband", der in Berlin mit großem Erfolg einen eigenen Lebenskunde-Unterricht organisiert. Konfessionslose können nicht mehr länger ignoriert werden. Das ist eine wichtige Botschaft, die hoffentlich auch von der Bundesdelegiertenkonferenz so mitgetragen wird. Zur Erinnerung: Aktuell sind das etwa 40 Prozent der Bevölkerung konfessionsfrei; als die Bundesrepublik 1949 gegründet wurde, gehörten noch rund 95 Prozent der katholischen- oder evangelischen Kirche an. Heute sind es weniger als 60 Prozent mit deutlich fallender, Tendenz. Grüne treten deshalb dafür ein, unter anderem das Monopol der Kirchen in offiziellen Gedenkritualen zurechtzustutzen. Der Staat kann die Sinnstiftung nicht mehr länger bei jeder Trauerfeier für Katastrophenopfer ausschließlich an die beiden Großkirchen delegieren.

Für viel Unruhe bei den Kirchen sorgt bereits jetzt die Haltung der Partei im Bereich der Kirchenfinanzen. Dabei hat die Mehrheit der Kommission hier einen äußerst vorsichtigen Weg vorgeschlagen. Sogar die Kirchensteuer wird innerparteilich von vielen durchaus als vernünftige Lösung angesehen. "Dieses solide Finanzierungssystem (hat) die Kirchen für die Gesellschaft geöffnet, statt sie zu radikalisieren", heißt es noch im Bericht der Kommission. Ohne Steuern könnten die Kirchen von reichen Gönnern abhängig werden oder etwa ihre Hilfe für Menschen ohne Papiere nicht mehr finanzieren. Nicht beantworten die Befürworter der geltenden Regelung indes, warum sogar die Kirchensteuer in voller Höhe von der Einkommenssteuer abgezogen werden kann, was auch Religionsfreie zuletzt im Jahr 2016 mit rund 2,7 Mrd. Euro subventionieren mussten. Hier wird es bei der BDK zu einer Debatte kommen bei der sich die Partei entscheiden muss, wie konsequent sie überkommene kirchliche Privilegien abbauen möchte.

Entschlossener als beim lieben Geld ist der Antrag bei der Reform des kirchlichen Arbeitsrechts. So soll das Betriebsverfassungsgesetz grundsätzlich auch für Angestellte der Kirchen, Diakonie und Caritas gelten. Immerhin sind sie mit 1,2 Millionen Beschäftigten nach dem Staat der größte Arbeitgeber in deutschen Landen. Hier haben Grüne zahlreiche Verbündete in den Kirchen selbst. Auch sie beklagen, dass vielerorts kirchliche Anbieter ein Monopol als Anbieter haben, beispielsweise bei der Kinderbetreuung und der Versorgung mit Krankenhäusern. Wichtig in diesem Kontext ist auch die Forderung, dass Angehörige von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften das Recht haben sollen, von Schulen und Arbeitgebern einen Sonderurlaub zu verlangen. Eine Erweiterung religiöser Feiertrage lehnen Grüne hingegen ab.

Politisch hoch brisant ist die Haltung der Partei zu den konservativen muslimischen Verbänden, die zwar nur rund 15 Prozent der in Deutschland lebenden Gläubigen vertreten, aber so tun, als sprächen sie für den Islam in seiner Gesamtheit. Grüne, nach wie vor auf Seiten muslimischer Emanzipation, sprechen den vier großen islamischen Verbänden das Recht auf Anerkennung als öffentlich-rechtliche Körperschaft ab: Ditib, Islamrat, Zentralrat der Muslime und VIKZ erfüllen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht die vom Grundgesetz geforderten Voraussetzungen an eine Religionsgemeinschaft. Im November 2015 waren bereits Grünen-Vorsitzender Cem Özdemir und das Kommissionsmitglied Volker Beck mit einem entsprechenden Papier an die Öffentlichkeit gegangen. Der Initiative war eine intensive Beratung in der Kommission vorausgegangen.

Grüne betreten mit der Diskussion in Münster Neuland, einmal für sich selbst und zum anderen auch im Verhältnis zu den anderen Parteien. Ein religionspolitisches Grundsatzpapier haben weder Unionsparteien, noch SPD und Linke bislang zustande gebracht. Grüne waren auch die ersten, bei denen Säkulare als Bundesarbeitsgemeinschaft nunmehr einen offiziellen Status in der Partei haben. Es bleibt zu hoffen, dass die Partei programmatisch und organisatorisch nicht allzu lange allein bleiben. Erst wenn die Diskussion über eine Neubestimmung von Kirchen und Staat über die Grenzen einer einzelnen Partei hinausgeht, entsteht der notwendige gesellschaftlich Druck, ohne den sich nichts bewegen wird.