Der Kunstfurzer

Womöglich wäre Sigmund Freud nie auf eines der zentralen Dikten der Psychoanalyse gestossen, das der analen Fixierung, wäre er in Paris nicht einem gewissen Joseph Pujol begegnet. Vielleicht gäbe es überhaupt keine Psychoanalyse ohne diese Begegnung.

Pujol, ein Jahr jünger als Freud, stammte aus Marseille und war eigentlich gelernter Bäcker. Ein einzigartiges Talent indes, das ihm in die Wiege gelegt worden war, ließ ihn zum berühmtesten Varietékünstler seiner Zeit aufsteigen, zum gefeierten Star des Pariser Moulin Rouge mit Tagesgagen, die das Monatseinkommen eines französischen Ministerialdirektors weit überstiegen. Pujol war weltweit unter seinem Künstlernamen "Le Pétomane" bekannt. Dieser Name leitete sich vom französischen Verb péter her, das soviel bedeutet wie furzen: Pujol war Kunstfurzer.

10 Jahre hpd
Untertitel

Während seines Militärdienstes hatte Pujol entdeckt, daß er durch willkürliche Kontraktion seiner Bauchmuskeln große Mengen Luft in seinen Enddarm einziehen und nach Belieben wieder ausströmen lassen konnte, wobei er durch Kontrolle der Anusmuskulatur Töne in verschiedener Höhe und Lautstärke zu produzieren vermochte. Er verfeinerte diese Fertigkeit durch fleißiges Üben, so daß es ihm letztlich gelang, einfache Melodien zu furzen. Nach seiner Entlassung aus der Armee begründete er mit ein paar Freunden ein kleines Varietétheater in Marseille, in dem er als Musiker und Coupletsänger auftrat. Zunehmend baute er auch petomanische Kunststücke in sein Programm ein. Das Haus war jeden Abend ausverkauft: jeder wollte "Le Pétomane" sehen und hören. Nach erfolgreichen Gastspielen in Toulon, Bordeaux, und Clermont-Ferrand - Pujol hatte inzwischen ein eigenständiges Kunstfurzprogramm entwickelt - kam er 1892 nach Paris, wo er ein hochdotiertes Engagement am weltberühmten Moulin Rouge erhielt. In kürzester Zeit hatte er der Schauspielerin Sarah Bernhard, die zur gleichen Zeit dort auftrat, den Rang abgelaufen.

Joseph Pujol
Plakat

Bei seinen Auftritten trug Pujol ein rotes Jackett mit Seidenkragen, schwarze Reiterhosen aus Satin, weiße Socken und schwarze Lackschuhe. Er stellte sich förmlich vor und tat kund, er werde dem geschätzten Publikum im folgenden eine Einführung in die "Kunst der Petomanie" geben. Ausführlich erklärte er seine Technik und betonte, daß seine Kunstfürze keine Verdauungsgase enthielten und deshalb völlig geruchsfrei seien. Zunächst demonstrierte er einige Tenor-, Bariton- und Bassfürze, dann die Fürze einer Braut vor und nach der Hochzeitsnacht sowie das wohlgefällige Furzen der dazugehörigen Schwiegermutter. Er führte Donnergrollen vor und Kanonendonner, dazwischen imitierte er verschiedene Blasinstrumente und furzte ein paar Kinderlieder. Im zweiten Teil seiner Vorstellung trat er mit einem in den Anus gesteckten etwa einen Meter langen Schlauch auf. Am Ende dieses Schlauches war eine Flöte befestigt, auf der er eine Instrumentalversion von Au Claire de la Lune und andere bekannte Melodien spielte. Auf dem Höhepunkt der Show steckte er in das Ende des Schlauches eine brennende Zigarette, deren Rauch er komplett in sein Rektum zog, um ihn nach Entfernen der Kippe in einer große Qualmwolke ins Publikum zu pusten. Beim grand finale furzte er mit Hilfe des Schlauches die Gasbeleuchtung der Bühnenrampe aus. Anschließend zog er den Schlauch aus dem Anus und sang gemeinsam mit dem Publikum ein paar Gassenhauer, zu denen er rhythmisch furzend den Takt vorgab.

Im Publikum fielen regelmäßig einige Frauen in Ohnmacht, die vor Lachen keine Luft mehr bekamen. Ein älterer Herr, wie die Pariser Tagespresse berichtete, soll so heftig gelacht haben, daß er einen Herzinfarkt erlitt und tot vom Stuhl fiel. Das Management des Moulin Rouge postierte jedenfalls während der Vorstellung von "Le Pétomane" uniformierte Rote-Kreuz-Helferinnen im Saal, die gegebenenfalls die Korsetts der in Ohnmacht gefallenen Damen lösen oder Riechsalz verabfolgen konnten.

Pujols wachsender Ruhm sprengte alle Grenzen, desgleichen die astronomischen Gagen, die er verdiente. Er holte seine Frau und seine zehn Kinder nach Paris und bezog ein vornehmes Chalet in Saint Maur des Fosses. Um Gerüchten vorzubeugen, er setze bei seinen Vorführungen unlautere Tricks ein, gab er gelegentlich eigene "Herrenabende", zu denen Damen nicht zugelassen waren. Er trat dabei in einem Badeanzug auf, der am Gesäß ausgeschnitten war, so daß seine Furztechnik genau beobachtet werden konnte.

Zu den Bewunderern Pujols zählte neben Künstlern und Literaten jeder Sparte auch der belgische König Leopold II, der eigens nach Paris reiste, um "Le Pétomane" live zu erleben. Auch Sigmund Freud besuchte die Vorstellungen Pujols, wann immer er Zeit dazu fand. Später in Wien hatte er ein Portrait des Künstlers in seinem Behandlungszimmer hängen und pflegte darauf hinzuweisen, daß er "Le Pétomane" wesentliche Erkenntnisse in der Entwicklung der analen Fixierung verdanke. Ob er Pujols rektale Kunstfertigkeit amüsant fand, ist nicht überliefert.

1895 verließ Pujol das Moulin Rouge und gründete sein eigenes Theatre Pompadour, mit dem er auch auf Tournee ging. Eine Kunstfurzerin, die seine Nachfolge am Moulin Rouge antreten sollte, wurde schnell als Betrügerin entlarvt: sie hatte einen Blasebalg unter dem Rock versteckt, mit dem sie furzähnliche Geräusche produzierte. Für sein neues Theater hatte "Le Pétomane" das Repertoire erheblich erweitert, er konnte nun eine Vielzahl an Tier- und Vogelstimmen imitieren. Glanzstück seines Programms ab 1906 wurde eine Improvisation über die Geräuschkulisse des großen Erdbebens in San Franzisko. Das Theatre Pompadour war durchaus erfolgreich, bis der erste Weltkrieg ausbrach und niemand mehr Interesse an kabarettistischen Unterhaltungsshows hatte.

Joseph Pujol
Joseph Pujol

Nachdem einer seiner Söhne in deutsche Gefangenschaft geraten war und zwei andere als Invaliden aus dem Krieg zurückkamen, hatte auch Pujol jede Lust am Theatermachen verloren. Anfang der 1920er zog er mit seiner Familie nach Toulon, wo er eine Bisquitfabrik eröffnete. Mit Freud hatte er keinen weiteren Kontakt, auch wenn ein Dokumentarfilm von Igor Vamos aus dem Jahr 1998 solches suggeriert. Ebensowenig hatte er Kontakt zu Hollywoodgrößen wie Max Linder oder Charles Chaplin, die gerne Furzsequenzen in ihre Stumm(!)filme einbauten und dabei auf ihn Bezug nahmen.

Joseph Pujol starb 1945. Kaum jemand erinnerte sich mehr des einst weltbekannten Varietéstars. Eine zwanzig Jahre später veröffentlichte Biographie über ihn blieb weitgehend unbeachtet, desgleichen ein Kurzfilm, den Ian MacNaughton Ende der 1970er drehte. Ein Dokumentarstreifen Igor Vamos’, der Pujol zwanghaft zum musikalischen Anarchosurrealisten oder Prä-Rock'n'roll-Revolutionär aufbläht, zum genial-exzentrischen Modernisten à la Erik Satie, geht am simplen Kommödiantenwesen des Furzkünstlers radikal vorbei. Pujol hätte vermutlich laut darüber gelacht, auch über Freud und seine anale Fixierung, und einen krachen lassen.