67. Berlinale

Zwischen Theo-Populismus und heiliger Pornografie

Der wahhabitische Islam aus Saudi-Arabien überflutet die Welt im Netz mit seiner Propaganda. Darin rufen salafistische Prediger zum weltweiten Dschihad auf und Versprechen im Gegenzug 72 Jungfrauen im Paradies. Davon fühlen sich vor allem junge und sexuell frustrierte Menschen angesprochen. Der algerische Regisseur Merkaz Allouache hat in seiner Heimat die Folgen dieser religiösen Einflussnahme untersucht, sein halbdokumentarischer Film "Investigating Paradise" erzählt davon.

Die Versuchsanordnung dieses filmischen Experiments ist so simpel wie genial. Eine junge Journalistin reist mit Laptop, Kamera und Mikrofon durch ein Land und zeigt Männern und Frauen jeden Alters, Geistlichen und Atheisten (hier mehr zu deren Situation in Algerien), Internetcafé-Betreibern und Markthändlern, Schriftstellern und politischen Aktivisten Videobotschaften von saudischen Predigern, in denen sie über das Paradies sprechen. Im Anschluss werden sie gefragt, was sie von dem, was sie eben gesehen haben, halten, wie sie selbst zum Paradies und dessen Beschaffenheit stehen und was diese salafistische Beeinflussung des eigenen Glaubens persönlich und gesellschaftlich anrichtet.

Merkaz Allaouches "Investigating Paradise" ist ein mutiges Werk, denn die Protagonisten wagen sich bis in die salafistische Szene Algeriens vor. Dass diese in Algerien überhaupt erstarkt, ist eine Ironie der Geschichte, denn nach dem religiösen Terrorismus während des Bürgerkrieges in den neunziger Jahren hätte man eine gesellschaftliche Distanzierung von der religiösen Sphäre erwarten können. Dem ist jedoch nicht so.

Formal ist der Film ein Hybrid aus Dokumentation und Fiktion. Die Rahmenhandlung des Films ist schauspielerisch inszeniert, die Interviews und Gespräche wurden mit echten Menschen geführt. So erhält der Film den dramatischen Aufbau einer journalistischen Recherche und dokumentiert zugleich die Verhältnisse in Algerien.

Die Videoausschnitte, die die fiktive Journalistin Nedjma ihren echten Probanden vorspielt, entsprechen in verschiedenen Ausprägungen dem klassischen salafistischen Märchen. Muslime, die sich für einen reinen Islam einsetzen, werden demzufolge nach dem Tod ins Paradies einziehen und dort von 72 Jungfrauen erwartet.

Diejenigen, die diesen Mythos als gesetzt annehmen – mehrheitlich Männer, aber auch einige Frauen –, konfrontiert die Journalistin mit konkreten Nachfragen: Wer wartet denn auf die Frauen, die ins Paradies einziehen, weil sie ein gutes Leben geführt haben? Wo kommen denn Mütter im Paradies hin, wenn dort vermeintlich nur Jungfrauen sind? Was passiert mit verheirateten Frauen? Müssen die zugunsten der 72 Jungfrauen auf ihren Mann verzichten oder werden sie Teil des jungfräulichen Harems? Und was ist mit alleinstehenden Frauen? Wo kommen die hin? Wer erwartet die? Wie sieht deren Gotteslohn für ein gutes Leben aus?

Auf diese Fragen haben die meisten Befragten in diesem Film keine Antwort – mutmaßlich weil sie von den Imamen und radikalen Islamisten nicht öffentlich diskutiert werden. Deren Konzept des Paradieses hört beim Versprechen der 72 Jungfrauen auf. Insbesondere für junge Männer ist dieses verlockend, denn in den sexuell frustrierten islamischen Gesellschaften zielt diese Botschaft genau dahin, wo sie Wurzeln schlagen. Denn mit dem eindeutig sexuell konnotierten Verweis auf den Männern dienende Jungfrauen werden Sehnsüchte, Gelüste und Begehren geweckt – ein erneuter Trigger von religiöser Radikalisierung und frauenfeindlicher Gewalt.

Das Perverse daran ist, dass die in Saudi-Arabien sitzenden radikalislamischen Prediger mit Videobotschaften in den sozialen Netzwerken die Idee verbreiten, dass sich Salafisten sicher sein können, ins Paradies zu kommen. Die gute Lebensführung als Voraussetzung für ein paradiesisches Nachleben wird ersetzt von einer möglichst radikalen Auslegung des Islam. Oder anders gesagt: Wer auf ein freudvolles echtes Leben verzichtet, darf auf ein solches nach dem Tod hoffen. Das Paradies wird als Belohnung ausgesetzt, um den Tod im "heiligen Krieg" zu legitimieren. Vor allem die junge Generation, die mit diesen Dogmen aufwächst, hinterfragt diese nicht. Und je stärker sich die streng-religiöse Auslegung des Islam durchsetzt, desto weniger Menschen wagen es, diese zu hinterfragen oder sich zu diesen zu äußern. In der algerischen Kleinstadt Timimoun will sich beispielsweise keine einzige Frau den Fragen der Journalistin stellen. Das Paradies sei ein Faktum, das hinterfrage man nicht.

Die kritische Hinterfragung und Beleuchtung der gesellschaftlichen Folgen nehmen dafür Intellektuelle und politische Aktivisten wahr. Auch ihnen spielt die Journalistin zunächst eines der frei zugänglichen radikalislamischen Propagandavideos vor, die von der Predigt über das Paradies bis hin zu militärischen Agitprop-Videos aus Syrien reichen. Der Schriftsteller Kamel Daoud etwa sieht in dem radikalislamischen Paradiesversprechen eine Mischung aus islamistischer Pornografie und Theo-Populismus, dem dringend eine Entzauberung des Paradieses entgegengesetzt werden müsse. Das Problem dabei sei allerdings die mediale Übermacht der Islamisten, die ihre Dogmen über mehr als 1.000 TV-Kanäle an die arabische Bevölkerung Algeriens herantragen können. Dem stünden nur etwa 30 mehr oder weniger säkulare Sender gegenüber. 

Die Autorin Maissa Bey sieht in dem Paradiesversprechen vor allem einen Marketingcoup, der sowohl das Leben als auch die Religion zu einem konsumierbaren Produkt herabstufe. Die Feministin Samia Zenadi stimmt dem zu, sieht dabei aber vor allem die Frauen zu einem Konsummittel herabgestuft. Der selbstverständliche und vermeintlich verdiente Zugriff der Männer auf Frauen nach dem Tod führe dazu, dass Gelüste geweckt und sexuelle Gewalt wahrscheinlicher würde. Der politische Aktivist Fethi Ghares sieht in dem Paradiesversprechen eine Art "heilige Pornografie", mit der Religion und Moral voneinander getrennt würden. Diese Ansicht teilt auch Algeriens bekanntester Schriftsteller Boualem Sansal, der von einer Aufspaltung des Gehirns spricht. "Wenn es uns nicht gelingt, die zwei Teile unsere Gehirns wieder zusammenzufügen, dann sind wir verloren."

So interessant die Aussagen in dieser schwarz-weißen Dokufiktion sind, hat er aber auch eine problematische Seite. Die Gespräche mit der einfachen Bevölkerung und die mit den Intellektuellen und Aktivisten werden zwar in einen gemeinsamen Kontext gestellt, sie bleiben aber nebeneinander stehen. Es findet kein Austausch der Ideen und Gedanken statt, weder zwischen den wirtschaftlichen Schichten noch zwischen den radikalisierten und gemäßigten Gläubigen. Der Dialog, der notwendig wäre, um die Gesellschaft als solche gegenüber den radikalislamischen Einflüssen zu stärken, findet auch hier nicht statt. 

Die Ursache bringt der politische Aktivist Kader Affak auf den Punkt. Man könne all diese Diskussionen zwar führen, allerdings fehle dem Großteil der Bevölkerung die intellektuelle Kompetenz, die komplexen Zusammenhänge zwischen Theologie, Soziologie und gesellschaftlichem Frieden zu durchschauen. Den meisten Menschen in Algerien fehle ein Halt außerhalb der Religion, ergänzt die Schriftstellerin Sarah Haidar. Die wenigsten Algerien führten normale sexuelle Beziehungen, hätten andere Länder bereist oder viele Bücher gelesen. Stattdessen sind sie gefangen in einer verunsicherten Gesellschaft, die einem hohen religiösen Druck von innen und von außen ausgesetzt ist.

Auch hier muss es also auch heißen: it’s the education, stupid! Es braucht Bildung zur Entwicklung eines kritischen Geistes, der (religiöse) Dogmen auf ihre Widersprüche hin befragt, sowie wirtschaftliche Sicherheit, dass Menschen Zeit haben, in Ruhe und Sorglosigkeit über grundsätzliche Fragen des gesellschaftlichen Lebens nachzudenken.

Nachtrag: Man muss sich für diesen Film auf den festen Glauben anderer zumindest so weit einlassen, dass man ihn als gegeben für diese Untersuchung hinnimmt. Aus humanistisch-aufklärerischer Perspektive ist das nur konsequent. Denn es findet keine Erkenntnis statt, wo nicht ein wissbegieriger Blick drauffällt. In diesem Sinne ist "Investigating Paradise" ähnlich wie der Dokumentarfilm "Menashe" von Joshua Z. Weinstein nichts weniger als ein Teil der notwendigen Aufklärung, um die Funktionsweise radikaler Glaubenskonstrukte zu verstehen.