Der französische Psychologe Fethi Benslama schlägt einen anderen Ton an, wenn es darum geht, den Ursachen des islamischen Fundamentalismus auf den Grund zu gehen. In seinem Buch "Der Übermuslim" legt er die individual-psychologischen Ursachen für die Radikalisierung junger Muslime offen und fordert eine Abkehr von den immer gleichen Vorurteilen.
Fetih Benslama horcht auf, als ein Jugendlicher in seiner psychotherapeutischen Beratungsstelle im Norden von Paris das erste Mal erklärt, dass er sich für sein unislamisches Leben so sehr schäme, dass er sich am liebsten umbringen wolle. Dabei ging es dem Jugendlichen nicht darum, zu sterben, sondern seine schwache muslimische Identität auszumerzen. Als Benslama nachfragte, was er damit meine, erklärte der Jugendliche, dass er sich in seinem Alltag nicht ausreichend an die Vorgaben des Koran und des Predigers in seiner Moschee halte. Diese seien aber derart weitgehend gewesen, erinnerte sich der Psychologe am vergangenen Donnerstagabend bei einer Buchvorstellung in Berlin, dass sie mit der Vorstellung eines normalen muslimischen Alltags schon nichts mehr zu tun hatten. Sein Patient habe ein "Super-Muslim" werden wollen, die Bezeichnung schien ihm im Gespräch aber irgendwie falsch. Er hat sie sich gemerkt und aus dem "Supermuslim" ist sein Konzept des "Übermuslim" geworden.
Einen entsprechenden Titel trägt auch sein neues Buch, das man als eine der wichtigsten Publikationen für die Ergründung des religiösen Fundamentalismus insbesondere junger Muslime, aber auch junger Menschen im Allgemeinen bezeichnen muss. Denn wenn Benslama behauptet, dass der "Übermuslim" als psychotherapeutische Diagnose einen nicht unbedeutenden Teil der Muslime trifft, dann ist damit nicht ausgeschlossen, dass seine Diagnose des "Über-Religiösen" nicht auch auf junge Evangelikale und Katholiban sowie ultraorthodoxe junge Juden oder die Nachwuchsheere radikaler Hinduisten und Buddhisten zutrifft.
"Mit 'Übermuslim' soll die Zwangsvorstellung bezeichnet werden, die einen Muslim drängt, den Muslim, der er ist, durch die Vorstellung von einem Muslim, der noch muslimischer sein muss, zu überbieten."
So definiert der Franzose sein Konzept im Buch. Diese Art des Fundamentalismus könne man "heute in allen Religionen" beobachten, erklärt Benslama. Selbst im Buddhismus, dem man ja meist eine besondere Friedfertigkeit und Ausgeglichenheit zuschreibe, gebe es bewaffnete Mönche. Die Moderne habe die Traditionen zerbrochen, "die traditionelle Religion hält vor der Säkularisierung nicht mehr stand", erklärte der in Tunis geborene Psychoanalytiker. Ursächlich für die religiöse Krise ist das Voranschreiten der Modernisierung, wie auch der Schweizer Religionssoziologe Jörg Stolz unlängst in einem Interview mit der NZZ begründete. "Moderne Gesellschaften brauchen keine Religion mehr", sagte er in dem Gespräch und begründete den Trend mit den säkularen Techniken, die religiöse Praktiken verdrängt und die Grundhaltungen der Jugendlichen geprägt hätten.
In der muslimischen Welt habe dieser Konflikt der Religion mit der Moderne zu "einem Bürgerkrieg innerhalb der muslimischen Gemeinschaft" geführt, führt Benslama im Gespräch mit dem Maghreb-Experten Samuel Schirmbeck aus. Dieser sei so schlimm wie noch nie zuvor in der Geschichte der Religion. Der in Paris lebende Analytiker vergleicht diesen Krieg mit den blutrünstigen Religionskriegen während der Renaissance in Europa. Nun finde die Renaissance in der arabischen Welt statt, in der sich nun jene Muslime, die aufklärerisch wirken und sich gegen den Fundamentalismus stellen, einer fanatisierten Gemeinschaft von Radikalen gegenüberstehen, die sich für die wahren Muslime halten und alle anderen wie "Unter-Muslime" behandeln. Dem "Muslim der Aufklärung" steht also der "Muslim der Anti-Aufklärung" gegenüber.
Doch warum kann sich der aufgeklärte Islam nicht gegen die fanatisierte Form durchsetzen? Liegt es tatsächlich daran, wie so viele mutmaßen, dass die arabische Welt nun die blutrünstige Phase der Gegenaufklärung durchmachen müsse, um die Tabula Rasa zu bereiten, auf der die Moderne dann aufsetzen kann? Benslama widerspricht dem stark. Die Erklärung ist für ihn ganz einfach. "Diejenigen, die den Islam einhegen und in die Grenzen der Menschenrechte bringen wollen, können den Krieg nicht gewinnen, weil Saudi-Arabien mit seinen westlichen Unterstützern dies verhindert", erklärt er dem anwesenden Publikum im Institut Français.
Dort weiß man, wovon er redet, denn der saudisch finanzierte Wahhabitismus wanderte von Afghanistan zunächst nach Algerien, wo radikale Islamisten gegen den französischen Einfluss vorgingen und einen folgenschweren Bürgerkrieg provozierten. Von dort ging es zurück auf die arabische Halbinsel, in den Irak, nach Syrien und die Türkei. Die demographische Explosion, die die arabischen Staaten in den vergangenen Jahrzehnten erlebt haben, wirkte in dieser Konstellation als Krisenauslöser, weil die Staaten nicht hinterherkamen, den Menschen eine "ökologische Nische" innerhalb der Moderne zu schaffen, in der sie sich sozial, ökonomisch und psychologisch aufgefangen fühlen.
Das fehlen dieser Nische ist entscheidend, wenn es um die Radikalisierung junger Menschen aus allen Schichten und Verhältnissen geht. Denn die Todessehnsucht, die er in seinem Buch kurz und knapp "Himmelswahn" nennt, der Muslime könne es nur geben, "wenn irdische und menschliche Hoffnungslosigkeit herrschen." Und weil diese Hoffnungslosigkeit in weiten Teilen der arabischen Welt unstrittig ist, spricht Benslama auch von einer muslimischen Verzweiflung.
Allein in Frankreich seien zwei Drittel der 17.000-18.000 radikalisierten Muslime, also bis zu 12.000 Menschen, zwischen 15-25 Jahre alt, erklärt Benslama.40 % davon hält er für psychisch mindestens belastet. Die Soziologen hat das nicht interessiert. Sie waren sich schnell einig, dass das im Kern die hoffnungslosen jungen Männer aus den heruntergekommenen Trabantenstädten an der Peripherie von Paris, Lyon und Marseille sind. Doch die Soziologie habe sich bei dem Phänomen "Radikalisierung" geirrt, so Benslama, es sei weder nur ein Phänomen der Unterschicht, noch eines, das vorwiegend Männer trifft. Ein bedeutender Anteil der Muslime, die aus der Mittelschicht kommen und sich dem IS anschließen, sei weiblich. "Es gibt einen Dschihadismus der Frauen".
Entscheidend für die Anfälligkeit junger Muslime für radikales Gedankengut sein die Empfänglichkeit der Jugendlichen für starke Idealen während der Adoleszenz. "Sobald die Religion entdeckt wird, schießt der Fahrstuhl des Narzissmus in die Höhe", schreibt Benslama in seinem Buch. Hier setze die Propaganda der Islamisten in den Moscheen und im Internet an. Sie hole die Jugendlichen dort ab, wo sie stehen. Das Ich, das sie nicht mehr ertragen, können sie im Namen Allahs töten. Sie können entweder für eine vermeintlich größere Sache sterben oder eine neue Identität wählen, ohne zu sterben. "Deshalb kann man sagen, dass aus Sicht des Subjekts die Radikalisierung ein Weg zur »Heilung« ist. Es stellt sich unter den Schutz Gottes, um nicht krank zu werden. Die säkularisierte Welt Europas hat diese Lösungsmöglichkeit vergessen", heißt es in "Der Übermuslim". Die Radikalisierung ist eine Art Autotherapie.
Im Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit brachte Fethi Benslama diese Autotherapie in Bezug auf die Jugendlichen, die ihm in seiner Beratungsstelle gegenübersaßen, folgendermaßen auf den Punkt:
"Diese Jugendlichen radikalisieren sich, um ihre Nöte zu heilen und die Symptome zu lindern. Andere Menschen trinken oder nehmen Drogen, um mit ihrem Leid zurechtzukommen. Der Islamismus erfüllt eine vergleichbare Funktion. Das erklärt auch, warum so viele der Radikalisierten Konvertiten sind. Die winzige Minderheit der Jugendlichen, die sich radikalisiert, wertet sich im Gefühl der eigenen Nichtigkeit durch die Ideale des Islamismus auf: miteinander einen gemeinsamen Körper zu bilden, in dem das eigene Leid verschwindet. Der Islamismus tritt als antipolitische Utopie auf, in der ein Einzelner sehr mächtig sein kann, wenn er sich mit dem Ziel der idealen religiösen Gemeinschaft identifiziert, die das Gegenbild zum weltlichen modernen Staat ist, in dem diese Jugendlichen leben."
Es ist also das Aufeinandertreffen der psychischen Identitätskonflikte der Adoleszenz mit einer extremen und auf Missionierung ausgelegten Form der Religion, die die Radikalisierung junger Muslime befeuert. Dazu kommt der durch das Verbot von Lust erzeugte Leidensdruck, der zu Wut und Aggression gegenüber Ambivalenzen und sogar bis zum Terror führen kann. Wie dies zusammenhängt, erklärt Benslama in seiner im französischsprachigen und angloamerikanischen Raum längst zum Standardwerk avancierten "Psychoanalyse des Islam", die in den nächsten Wochen erscheint und eine ideale Ergänzung zu seiner bahnbrechenden Analyse der psychischen Umstände, die junge Menschen zur Radikalisierung treiben, ist.
2 Kommentare
Kommentare
David Z am Permanenter Link
"Diese Jugendlichen radikalisieren sich, um ihre Nöte zu heilen und die "Symptome zu lindern. Andere Menschen trinken oder nehmen Drogen, um mit ihrem Leid zurechtzukommen.
Das ist sicher mit ein Punkt. Aber mMn nicht wirklich neu. Jede totalitäre Bewegung kennt das sich-selbst-ūberhöhen als Flucht aus der Marginalität. Und es ändert auch nichts an der Tatsache, dass islamistische Bewegungen eine ganz spezifische Form sind mit ganz spezifischen Ideen, die offensichtlich gefährlicher sind als die von Saufgemeinschaften oder Fussballclubs (siehe auch Scott Atran).
Kay Krause am Permanenter Link
Frage: schreibt Herr Benslama denn auch etwas darüber, was wir - der sogenannte moderne, aufgeklärte Westen, der ja offensichtlich die Ursache dieser Entwicklung ist - dafür tun können, dass diese Fanatisierung sich w
Frage: ist es genug, die Polizei aufzustocken und die Grenzen zu schließen?
Frage: werden wir die Fanatisierung im Islam dadurch beruhigen, dass wir hier in Europa immer weiter rechts wählen?