Die etwas absonderlichen Geschichtsdeutungen des Philosophen Edgar Dahl

Im Irrgarten der Zeitgeschichte

Der Philosoph Edgar Dahl legt mit "Warum sie Hitler folgten. Die andere Hälfte der Wahrheit" eine Deutung der Geschichte des Nationalsozialismus und Zweiten Weltkriegs vor. Dabei meint er u.a. die Hauptkriegsschuld nicht bei Hitler, sondern bei Roosevelt sehen zu können und bewegt sich auch ansonsten im Irrgarten der Zeitgeschichte.

Die Frage, warum viele Deutsche den Nationalsozialisten folgten, kann mit dem heutigen Wissen um den Holocaust und den Weltkrieg nur schwer beantwortet werden. Denkt man Geschichte nicht vom Ende, sondern aus der Zeit heraus, dann ist dies einfacher möglich. Dabei muss die damit einhergehende Blickrichtung bei der Erklärung keineswegs mit einer Verteidigung verbunden sein. Denn beide Denkperspektiven liegen auf unterschiedlichen Ebenen. Letzteres lässt sich indessen bei dem neuen Buch von Edgar Dahl konstatieren. Der studierte Philosoph ist durch bioethische und religionskritische Publikationen bekannt geworden. In seinem Buch "Warum sie Hitler folgten. Die andere Hälfte der Wahrheit" widmet er sich einem historischen Thema. Dieses erfüllt, es muss gleich zu Beginn deutlich gesagt werden, keine wissenschaftlichen Ansprüche. Denn der Autor belegt seine Ausführungen nicht genauer, gleiches gilt für die vorgetragenen Zitate. Man findet gegen Ende nur ein Literaturverzeichnis mit einigen problematischen Veröffentlichungen.

Bereits im Vorwort beklagt er sich über mediale Darstellungen zur Geschichte des Nationalsozialismus: "Sie haben Angst, die wahren geschichtlichen Zusammenhänge darzustellen" (S. 7) – welche dafür der Autor zu kennen meint. Es gehe nicht um "Geschichtswissenschaft", sondern um "Volkspädagogik" (S. 7). Ein anderer Blick sei möglich bei einem "Zuschauer, der sich während seiner Schulzeit einer Gehirnwäsche entziehen konnte" (S. 8). Demnach geht Dahl davon aus, dass absichtlich ein grundlegend falsches Geschichtsbild vermittelt werde. Er beansprucht nun dagegen, ein richtiges Geschichtsbild zu vertreten, was nach dem Untertitel "Die andere Hälfte der Wahrheit" sei. Dabei läuft die ganze Darstellung darauf hinaus, der damaligen deutschen Bevölkerung eine moralische Mitschuld oder Mitverantwortung abzusprechen, aber auch die nationalsozialistische Regierung zumindest von dem Vorwurf der Hauptkriegsschuld frei zu sprechen. Denn für Dahl hatte nicht Hitler, sondern Roosevelt die Verantwortung.

Nach kurzen Ausführungen zum Versailler Vertrag, der auch mit den Aufstieg des Nationalsozialismus erkläre, geht der Autor auf Hitlers Politik vor und nach 1938 ein. Es heißt dazu: "Und Hitler hat in den ersten sechs Jahren tatsächlich mehr erreicht als alle 16 Regierungen der Weimarer Republik zusammengenommen" (S. 27). Genannt werden die Beseitigung der Arbeitslosigkeit und die Überwindung der Wirtschaftskrise. Dabei berücksichtigt Dahl aber nicht, dass bereits direkt vor der "Machtübertragung" an die Nationalsozialisten die Wirtschaft wieder ansprang und die von ihm gemeinten Erfolge "auf Pump" zur enormen Staatsverschuldung führten. Gerade die letztgenannte Entwicklung spielte für die ökonomische "Notwendigkeit" des späteren Weltkriegs eine wichtige Rolle. Zwar spricht der Autor auch von der Diskriminierung der Juden und der Inhaftierung von Kommunisten. Aber die Errichtung einer totalitären Diktatur mit der Zerschlagung republikanischer Strukturen findet demgegenüber geringeres Wahrnehmungsinteresse.

Die Diskriminierung von Juden wird nicht verschwiegen, aber in ihrer Relevanz und Wirkung doch eher verharmlost. Immerhin verloren viele Bürger jüdischen Glaubens bereits 1933 ihre berufliche Existenz. Gleichwohl meint Dahl: "Auch die Maßnahmen gegen die Juden hielten sich bis 1938 in Grenzen" (S. 32). Die Betroffenen von den "Arisierungen" jüdischer Geschäfte haben dies sicherlich anders gesehen. Gleiches gilt für die Opfer der "Nürnberger Gesetze". Dahl spricht übrigens immer von "Juden und Deutschen": "Untersagt waren auch außereheliche Beziehungen zwischen Juden und Deutschen" (S. 72). Die gemeinten Juden waren aber auch Deutsche. Angemessener wäre die Rede von "jüdischen und nicht-jüdischen Deutschen". Durch eine derartige Formulierungswahl erfolgt eine erneute Ausgrenzung, durchaus im Einklang mit den damaligen Machthabern. Dies mag von dem Autor einfach nur unüberlegt formuliert worden sein, es passt aber zu seiner sonstigen Gesamtargumentation. Indessen verurteilt Dahl derartige Taten durchaus als unangemessen.

Eine ganz andere Geschichtsdeutung nimmt er indessen hinsichtlich der Kriegsschuldfrage vor. Denn es habe alliierte Pläne gegeben, "die Hitler nötigten, die Deutsche Wehrmacht nahezu ganz Europa besetzen zu lassen" (S. 129). Dieser erscheint von Anfang an, also bereits beim Polenfeldzug, als zum Krieg gedrängter Politiker. Dahl erklärt sich auch so die Akzeptanz der Bevölkerung: "Die deutschen Mütter hatten ihre Söhne nicht in den Krieg ziehen lassen, um ‚die Welt zu erobern‘, sondern um ihre Heimat zu verteidigen" (S. 141). Eine Auflistung der angegriffenen Länder soll hier unterbleiben, aber alle wurden in dieser Lesart eigentlich um der Verteidigung willen erobert. Dies gilt für Dahl ebenso für den Angriff von 1941: "So paradox es zunächst auch anmuten mag, doch selbst die ‚Operation Barbarossa‘, also der Feldzug gegen die Sowjetunion, war ursprünglich nur zur Wiederherstellung des Friedens geplant" (S. 134). Denn England sollte so zum Frieden gezwungen werden, was aus nationalsozialistischer Blickrichtung zutreffend wäre.

Beachtenswert im Buch sind auch andere Deutungen und Einschätzungen. Dahl zitiert Churchill, "der 1938 unumwunden erklärte: ‚Wenn Deutschland zu mächtig wird, werden wir es wieder vernichten.‘" Selbst wenn es sich um ein korrektes Zitat handeln würde - der Autor weist es nicht nach - belegt dies gerade nicht den englischen Kriegswillen. Denn Churchill war 1938 ein politisch völlig isolierter Privatier, der erst nach Beginn des Krieges und politischen Umbrüchen 1940 an die Regierung kam. Insofern bestätigt die Aussage genau das Gegenteil von dem, was Dahl suggerieren will. Für ein derartiges Agieren gibt es viele Belege. Hier ein weiteres Beispiel: "Angesichts der Tatsache, dass nicht einmal der britische Nachrichtenddienst Kenntnis von den Gaskammern von Auschwitz hatte, muss man die Behauptung, die deutsche Bevölkerung hätte vom Holocaust gewusst, also wohl als unhaltbar zurückweisen" (S. 164). Die Gaskammern waren aber nur ein Teilaspekt der Vernichtungspolitik. Darüber bestand in der Allgemeinheit sehr wohl ein Wissen.

Über die erwähnte Frage der Kriegsschuld heißt es: "Ich selbst gehöre den Vertretern der Hypothese von ‚Roosevelts Krieg‘ an. In meinen Augen hat die Theorie, wonach es Franklin Delano Roosevelt war, der bereits ab 1937 auf einen Weltkrieg drängte, die größte Erklärungskraft" (S. 184). Und weiter schrieb Dahl zum Denken der Bevölkerung: "Aus ihrer Sicht war der Krieg ein Verteidigungskrieg" (S. 185). Das sieht er offenbar auch selbst so, denn nicht Hitler, sondern Roosevelt soll ja der Verantwortliche gewesen sein. Worauf sich Dahl bei all seinen Deutungen genau stützt, bleibt eher unklar. Im Literaturverzeichnis tauchen mit den Hinweisen auf Dirk Bavendamm, Dirk Kuhnert oder Heinz Magenheimer auch Publizisten auf, welche in der seriösen Geschichtsforschung nicht ernstgenommen werden. Dafür fanden sie Beifall bei rechtsextremistischen "Geschichtsrevisionisten". Dahl selbst gehört wohl nicht dazu, leugnet er doch weder die Diktaturpraxis noch den Völkermord. Er wandert aber auf den Irrwegen der Zeitgeschichte.

Edgar Dahl, Warum sie Hitler folgten. Die andere Hälfte der Wahrheit, Alsdorf 2017 (Nibe-Verlag), 205 S., 9,95 Euro