Die Impfung als Opfer ihres eigenen Erfolgs

Uns geht’s wohl zu gut!

Wir sind es nicht mehr gewohnt, dass ein Kind stirbt. Doch leider werden wir uns wieder daran gewöhnen müssen, wenn sog. "Impfkritiker" ihre Kinder nicht impfen lassen. Für die aktuelle Ausgabe des SKEPTIKERS hat Natalie Grams dazu einen Artikel verfasst.

Neulich starb in einem Kindergarten in einem benachbarten, wohlhabenden Heidelberger Stadtviertel ein Kind völlig unerwartet. Die Todesursache konnte meines Wissens nicht geklärt werden, gleichwohl befand sich der Stadtteil in einer Art Schockzustand. Es gab gemeinsame Trauerveranstaltungen, Elternabende und Stunden zur Aufarbeitung mit den Kindern. Manche Eltern konnten ihre eigenen Kinder tage- oder wochenlang nicht zurück in den Kindergarten schicken.

Wir haben vergessen, wie das ist, wenn Kinder sterben. Dass Krankheiten Kinder aus dem Leben reißen. Wir haben es wohl deshalb vergessen, weil es hierzulande zum Glück sehr, sehr selten vorkommt. So selten, dass man es mitunter nicht einmal im entfernten Umfeld je erlebt. Und doch ist es gar nicht so lange her, da war es Realität, ich möchte nicht "Alltag" sagen, dass Kinder starben – an bakteriellen Infektionen, an Viruserkrankungen, an Wundinfektionen. Oder dass sie nach schwerer Krankheit mit Behinderungen zurückkamen – mit Taubheit nach Masern, mit Lähmungen nach Kinderlähmung.

Unsere Großeltern und Eltern kennen diese Realität noch. Meine Generation kennt sie nicht mehr. Und tut gerne so, als sei es gar nie Realität gewesen. Sie hält Impfungen für überflüssig, wenn nicht gar krankmachend, lehnt Schutzmaßnahmen und Medikamente ab, glaubt nicht an Viren und impfpräventable Erkrankungen – je besser es ihnen geht, umso weniger.

Wohlhabend und impfkritisch

Natalie Grams (2017), Foto: © Frank Nicolai
Natalie Grams (2017), Foto: © Frank Nicolai

Jüngst erschien dazu auch eine Studie: In Regionen mit hohem Haushaltseinkommen, geringer Arbeitslosenquote und geringer gesundheitlicher Belastung liegt die Impfquote niedriger. Durch den Süden von Bayern und Baden-Württemberg zieht sich eine zusammenhängende Region, die von Impfskepsis geprägt ist. Dort sind Kinder sowohl gegen Masern als auch gegen Meningokokken, die Erreger von Hirnhautentzündung, schlechter geschützt als in anderen Teilen Deutschlands. Auffallend ist, dass diese Gebiete wirtschaftlich wohlhabender sind als andere Regionen.

Bei Masern beispielsweise fehlt fast zwei Dritteln der Kinder in den Landkreisen Bad Tölz, Rosenheim und Garmisch-Partenkirchen die zweite Impfung. Neben Bayern gibt es auch in Baden-Württemberg Landkreise mit signifikant niedrigeren Impfquoten. Neben anderen Gründen, die dabei eine Rolle spielen können, vermuten auch die Verfasser des "Versorgungsatlasses 2017" einen Zusammenhang zwischen geringen Impfquoten und den persönlichen Überzeugungen derjenigen, die sich oder ihre Kinder einer Immunisierung verweigern:

"Die derzeitige Studienlage deutet darauf hin, dass es teilweise deutliche regionale Unterschiede der Impfquoten gibt. Dabei fallen u. a. auch Regionen auf, in denen sich die Impfquoten gegen unterschiedliche Infektionskrankheiten ähnlich verhalten, also z. B. besonders hoch oder besonders niedrig ausfallen. Dies deutet darauf hin, dass die regionale Variation der Impfquoten zumindest teilweise durch grundsätzliche regional vorherrschende Einstellungen gegenüber Impfungen bzw. unterschiedliches Impfverhalten bedingt sein kann.“

Außerdem zitieren sie eine Studie der "Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung" (BZgA), die den Zusammenhang zwischen den persönlichen Einstellungen und Masernimpfungen untersucht hatte:

"Nicht geimpft wurden Kinder häufig von den Eltern, die ein Misstrauen gegenüber den Impfempfehlungen hegten, Erkrankungsrisiken verharmlosten und gleichzeitig eine hohe Wahrnehmung gegenüber den Impfrisiken hatten sowie sich unzureichend informiert fühlten.“

Demnach wurden Impfschäden in der Regel mehr gefürchtet als die Schäden durch die Krankheit selbst. Dem Bericht zufolge dienen neben dem sozialen Umfeld das Internet und das Gespräch mit dem Arzt als Entscheidung zu Immunisierungen. Und auch hier scheint es eine Tendenz zu geben, wonach Ärzte in Südbayern dem Impfen kritischer gegenüberstehen als im Rest Deutschlands. Die Folge scheint eine impfkritische Einstellung zu sein, die häufig im Gegensatz zu den Empfehlungen der "Ständigen Impfkommission" (STIKO) des Robert-Koch-Institutes (RKI) steht.

Natürlich gilt es auch hier zu beachten, dass Korrelation nicht gleich Kausalität ist. Untersucht wurde in der Studie lediglich die Korrelation zwischen den Impfquoten von Masern- und Meningokokkenimpfung, aber nicht konkret die Einstellung ("Impfgegner"); es bleibt hier bei Vermutungen. Dazu kommt, dass zur Ermittlung des Impfstatus allenfalls Teilstichproben oder Querschnittsuntersuchungen herangezogen werden können. Eine ganz verlässliche Einschätzung der Impfsituation ist nicht möglich, auch weil die Impf-Daten in Deutschland überwiegend dezentral und regional erhoben werden und hier vor allem durch das vom RKI koordinierten Projekt "KV-Impfsurveillance", das in Kooperation mit den 17 Kassenärztlichen Vereinigungen durchgeführt wird.

Was tun?

Dennoch stellt sich nach dem Einblick in die vorhandenen Daten die Frage: Geht es uns zu gut? Denn durch andere Untersuchungen wissen wir, dass die Abneigung gegen Impfungen nur selten ein Wissensdefizit widerspiegelt. Durch mehr Informationen und Fakten kann sie also meist nicht behoben werden. Eher scheint es sich um eine diffuse emotionale Abneigung zu handeln, die oft mit kognitiver Dissonanz einhergeht. In einer Studie stellte man beispielsweise fest, dass Eltern, die zögern, ihre Kinder impfen zu lassen, noch weniger bereit zum Impfen waren, wenn sie mehr Informationen bekamen, zum Beispiel darüber, dass der Zusammenhang zwischen Impfungen und Autismus widerlegt ist (z. B. Nyhan 2014). Die Tendenz zur Impfskepsis lässt sich auch nicht durch niedrigere Intelligenz erklären. Im Gegenteil zeigte sich, dass Menschen mit einem höheren IQ und höherem wissenschaftlichen Verständnis geschickter darin waren, Belege zu ignorieren oder umzudrehen, die nicht in ihre bisherige Vorstellung passten (z. B. Rosenbaum 2017).

Es fragt sich also, wie Skeptiker zu mehr Impfaufklärung beitragen können, wenn die Vermittlung von Wissen und Evidenz keinen Erfolg versprechen. Vielleicht hilft das Verstehen der Ängste, die zur Impfverweigerung führen. Denn kaum jemand entscheidet sich wegen mangelnder Evidenz gegen Impfungen, sondern weil die Evidenz nicht in ein Verhältnis zu irrationalen Ängsten gesetzt wird und keine vernünftige Risikoabwägung stattfindet. Und vielleicht hilft es auch, Geschichten zu erzählen – von früher. So wie der Skeptiker "Onkel Michael" in seinem Blog seine "Omma" erzählen lässt, deren Freunde noch an Tetanus starben oder die gelähmt durch Polio zurückkamen, die aber verstanden hatte: "Sterben ist schlimmer als Pieksen".

Der Artikel erschien zuerst im Vierteljahresheft "SKEPTIKER" der GWUP, Ausgabe 3/2017, Seiten 132/133.