Ganz Deutschland feierte am 31. Oktober Martin Luther und das Reformationsjubiläum. Ganz Deutschland? Nein, ein kleines humanistisches Dorf versammelte sich auf Einladung der Humanistischen Akademie in der Berliner Urania, um einen kritischen Blick auf Geschichte und Gegenwart von Religion und Weltanschauung zu werfen. Und nicht zu vergessen: Die große Mehrheit im Lande dürfte schlichtweg nur einen zusätzlichen arbeitsfreien Tag genossen haben.
Eine ganze Dekade lang wurde auf das 500. Jubiläum der als Reformationsbeginn betrachteten Veröffentlichung der lutherschen Thesen hin gefeiert. Unberücksichtigt blieb dabei vielerlei: Luthers religiöser Dogmatismus und politischer Autoritarismus, sein Frauen- und Familienbild, die innere Vielfalt der reformatorischen Bewegung und des Protestantismus, die Entfesselung eines brutalen konfessionellen Fundamentalismus, die historische Einbettung der Reformation in Neuzeit und Renaissance, die humanistisch-säkularen Beiträge zur Entwicklung der modernen Kultur. Und übertrieben wurde sicherlich auch die Relevanz des Protestantismus für aktuelle gesellschaftliche und globale Krisenlagen.
Annähernd 60 Gäste hörten an diesem Abend in der Urania zunächst einen sehr dichten Impulsvortrag von Thomas Leinkauf, Philosoph an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Autor des 2016 erschienenen Zweibänders "Philosophie des Humanismus und der Renaissance (1350-1600)". Er stellte vier "Grundspannungen" bzw. "Irritationen" dieser Epoche vor, eine davon diejenige von "Glauben und Unglauben". Auf diese Weise wurde die Reformation – anders als zumeist von den Veranstaltern der Lutherdekade – historisch genau in einen breiteren Horizont eingelassen, ohne doch ihre besondere Bedeutung zu negieren. Aber: Ohne Humanismus keine Reformation.
Es folgte der Berliner Literatur- und Religionssoziologe Richard Faber mit seinem Vortrag "Gegen Personenkult, Reformationsmonopol und weltanschauliche Exklusivität". Faber verwies auf den in Deutschland gerne unterschlagenen "nationalen Charakter" des Luthertums und plädierte für einen Blick auf Reformation und Protestantismus im Plural, dabei auch die für die Lutherdekade kennzeichnende Verengung auf die Person Luther kritisierend. Abschließend präsentierte er Vorschläge für entsprechend verbreitetere Reformationsfeierlichkeiten und ließ es sich auch nicht nehmen, eine Alternative zu Wittenberg als Pilgerziel vorzuschlagen: In das in der Nähe von Hamburg gelegene Friedrichstadt, "mitten im dreißigjährigen Krieg für Glaubensflüchtlinge verschiedenster Denominationen gegründet".
Richard Fabers Vortrag ist in verschriftlichter Form, zusammen mit 13 anderen, abgedruckt im soeben erschienenen und auf der Veranstaltung frisch präsentierten Band 10 der Schriftenreihe der Humanistischen Akademie Berlin-Brandenburg: "Vielfalt statt Reformation. Humanistische Beiträge zum Dialog der Weltanschauungen", herausgegeben von Ralf Schöppner. Dort findet sich neben Aufsätzen zu Reformation und Lutherdekade noch mehr Lesenswertes zur Vielfalt von Lebensformen und zu humanistischer Integration, zu den Konfessionsfreien und zum Religions- und Weltanschauungsrecht, zum Reformationsjahr 2017, zu arabischem Freidenkertum und zum Humanismus im Islam. Mitgeschrieben haben u.a. Enno Rudolph, Wilhelm Schmid, Mouhanad Khorchide, Hubert Cancik, Frieder O. Wolf, Carsten Frerk und viele andere.
Der Abschluss der Impulsreferate kam von Sarah Jäger, einer evangelischen Theologin mit dem Forschungsschwerpunkt Feministische Theologie, von der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft (FEST) in Heidelberg. Sie machte "Individualisierung", "Pluralisierung" und das "Eröffnen neuer Räume" als die zentralen Potentiale der Reformation geltend, ausdrücklich ohne sie exklusiv dem Protestantismus zuzuschreiben. In Hinblick auf das sogenannte Familienpapier der Evangelischen Kirche Deutschlands, das intern auf heftige Kritik – "Bibelferne", "Abwertung der klassischen Familie" – gestoßen war, stellt sie klar, dass man nicht die sozialen Verhältnisse biblischer Zeiten samt damit verbundener Bilder von Familie und Geschlecht auf die heutige Zeit übertragen dürfe: "Geschlecht ist keine Naturgegebenheit, sondern eine gesellschaftliche Konstruktion.“"
Für Teile des Publikums waren naturgemäß die Abgrenzungen zu vergangenen und gegenwärtigen christlichen "Untaten" nicht deutlich genug: Nicht diejenigen von Sarah Jäger zu den Auswirkungen christlicher Familientraditionen und nicht diejenigen von Thomas Leinkauf zu Luthers "Bauernverrat". Die Frage, bis zu welchem Grad es sinnvoll ist, unsere heutigen ethischen Maßstäbe auf vergangene Epochen anzuwenden, wurde dank Wortmeldungen aus dem Publikum auf dem Podium sehr lebhaft diskutiert.
Angesichts von mehr als einer Million verkaufter Luther-Spielfiguren und anderer ebenfalls gut gehender Merchandising-Produkte wie Lutherbier oder Luthersocken vermag es nicht zu verwundern, dass eine Reihe prominenter evangelischer Theologen und Kirchenhistoriker in den letzten Jahren den dürftigen Inhalt und die mangelnde historische Tiefenschärfe dieser Kampagne kritisiert haben. Es muss stark angezweifelt werden, dass es den Veranstaltern der Lutherdekade gelungen ist, wirklich Interesse für das historische Ereignis, seine Bedeutung und seine Folgen zu wecken.
Die Veranstaltung in der Urania hat dies in bescheidenem Rahmen und in kritischer Absicht versucht. Insgesamt hätte man sich gewünscht, dass die Impulsreferate etwas kürzer gewesen wären und stattdessen das Gespräch der Vortragenden auf dem Podium länger: Denn alle drei hatten pointierte und kontroverse Standpunkte, die einem weiteren produktiven Schlagabtausch nicht im Wege gestanden hätten.
4 Kommentare
Kommentare
Axel Stier am Permanenter Link
Götter, Geister und Gespenster: Nein danke!
Empfehle Epikur, Lukrez und/oder J.S. Mill zu lesen, um aus der Indoktrinationsblase der Glaubensmärchen herauszukommen (selbstverschuldete Unfreiheit)
Ein Kind fragt man
willst du die Milch aus dem roten oder blauen Becher?
Der Zweck wird erreicht: Das Kind trinkt die Milch.
Roland Fakler am Permanenter Link
Ich erlaube mir hier einen Leserbrief zu posten, den ich gestern an meine Tageszeitung verschickt habe:
Dialoge muss es zwischen allen geben. Dazu gehören inzwischen 38% Konfessionsfreie …und ihr Anteil wächst rasant.
Für Religionen und Ideologien, die uns in Auserwählte und Verdammte, in Rechtgläubige und Falschgläubige einteilen und für unfehlbare Offenbarungen ist die Zeit abgelaufen. Luther und Calvin waren nicht toleranter als die Päpste und Mohammed, als die Faschisten und Kommunisten.
Der Weg zur Freiheit und Mündigkeit führt über den säkularen Staat, der neutral über den Weltanschauungen stehen muss, der allen gleiche Rechte gibt und über einen Werteunterricht, der informiert, nicht indoktriniert, der die Schüler zu selbständigem Denken erzieht.
Was uns verbindet, sind die Werte der Aufklärung: Demokratie, Menschenrechte, Toleranz in einer offenen Gesellschaft… die es gegen ihre Feinde zu verteidigen gilt.
Über das, was wir nicht wissen können, muss jeder frei philosophieren dürfen!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
"Die Frage, bis zu welchem Grad es sinnvoll ist, unsere heutigen ethischen Maßstäbe auf vergangene Epochen anzuwenden, wurde dank Wortmeldungen aus dem Publikum auf dem Podium sehr lebhaft diskutiert."
Das ist aus meiner Sicht ein zentraler Punkt, der oft Ursache für Missverständnisse war und noch immer ist. Theologen, die an der Bibel festhalten, werden diesem Spannungsfeld nicht entrinnen können, da sich die Ethik der Bibel zwangsläufig immer weiter von unserer Gegenwart entfernt. Die Medizin nutzt heute bessere Lehrbücher/Methoden, die Schifffahrt bessere Karten/Methoden als die zur Zeit der Bibelerstellung üblichen.
Die Theologie alle Religionen müsste also die alten Schriften als überholt deklarieren und sich ein neues Regelwerk geben, neue zeitgemäße Werte entwickeln, ohne das überholte und im Grunde alberne Bild eines Weltraumgeistes zu verwenden. Die Grundkonstruktion der Bibel ist derart auf elementar Falschem aufgebaut (Erbsünde, Erlösung etc.), dass marginale Korrekturen keinen Sinn machen würden.
Wäre die Theologie dazu bereit, fähig? Was käme nach der Bibel, evtl. nach dem Koran? Hat die Theologie Angst vor der entstehenden spirituellen Leere? Was auch immer folgt, das wäre die wahrhaftige Reform der Religionen. Die "Zurückformung" zum Ursprungsgedanken von Religion: Das Zusammenleben der Menschen zu organisieren.
Dies kann bei aufgeklärten Menschen heute unmöglich mit Geistern, Wundern und Jenseitigem geschehen. Dies kann auch nicht mit veralteten Gesellschaftsmodellen geschehen. Wenn heute Religion entstünde, als neuer Impuls für eine aus den Fugen geratene Gesellschaft, dann würde sie dies im Zusammenspiel mit Wissenschaft, Philosophie und Kunst tun. Mit moderner Ethik, modernen politischen Systemen, neuen soziobiologischen und psychologischen Erkenntnissen.
Die Theologen können sich gerne an diesem Prozess beteiligen. Ihren bronzezeitlichen Ballast abwerfen müssen sie allein...
Wolfgang am Permanenter Link
Religion heißt nicht Luther und ein Reformationstag hat auch keine Religion. Er bietet einen willkommenen Anlass, einfach mehr mal gut auszuschlafen und die Liebe bekommt einen zusätzlichen "Feiertag"!