Interview mit Maryam Namazie

"Wir müssen uns unserer Stärke bewusst werden"

Die iranische Menschenrechtsaktivistin Maryam Namazie ist eine der wichtigsten Akteurinnen der weltweiten Ex-Muslim-Bewegung. Sie musste den Iran 1980 nach der Islamischen Revolution verlassen und lebt seitdem in Großbritannien, wo sie sich als Sprecherin des Council of Ex-Muslims of Britain gegen Islamismus engagiert. Im Interview mit der stellvertretenden hpd-Chefredakteurin Daniela Wakonigg sprach Maryam Namazie über Hidschab-Barbies, Kinderrechte und Rassismus.

hpd: Frau Namazie, in den USA ist jüngst die Hidschab-Barbie auf den Markt gekommen und in Großbritannien stand bei einem großen Fußballspiel gerade erst ein kleines Mädchen mit muslimischem Schleier als Ballkind vor den Kameras. Was sagen Sie dazu?

Maryam Namazie: Dazu muss man mehrere Dinge sagen. Bei Erwachsenen kann der Schleier tatsächlich in einem gewissen Maße eine Wahl sein. Auch wenn wir davon überzeugt sind, dass eine solche Wahl auf falschen Informationen beruht. Sklaven, die ihre Versklavung akzeptieren. Erwachsene können diese Entscheidung also – wie gesagt in gewissem Maße – treffen, auch wenn sie unter großem Druck getroffen wird, mit Einschüchterung verbunden ist und so weiter. Aber wenn es um Kinder geht, muss man klar sagen, dass es nicht die Entscheidung des Kindes ist. Es ist die Entscheidung der Eltern, dem Kind den Schleier aufzuzwingen.

Und genauso wie Eltern nicht das Recht haben, einem Kind ihre politische Meinung aufzuzwingen – sie haben beispielsweise nicht das Recht die Kinder als Mitglieder einer Partei registrieren zu lassen – sollten sie auch nicht das Recht haben, Kindern ihre Religion aufzuzwingen. Denn der Schleier ist nicht nur ein Kleidungsstück, auch wenn es oft so dargestellt wird. Er symbolisiert etwas sehr Schlimmes, nämlich dass ein weiblicher Körper bereits in diesem jungen Alter als etwas betrachtet wird, das die Gesellschaft durcheinander bringt. Er zeigt, dass man kleine Mädchen verantwortlich macht für das sexuelle Verlangen von Männern. Allein die Vorstellung, dass man bei Kindern so denken kann! Und darum müssen sich Frauen und Kinder verhüllen. 

Der Schleier sagt Mädchen, dass sie anders sind als Jungs. Das ist sehr gefährlich für die Entwicklung eines Kindes, eines Mädchens. Und es ist etwas, das wir einfach ernster nehmen müssen.

Unglücklicherweise sind wir sehr tolerant, sobald es um Religion geht. Nicht nur, was den Islam betrifft, sondern in Bezug auf alle Religionen. Besonders wenn es um Kinder geht, ist das sehr gefährlich.

Stehen wir, stehen unsere Gesellschaften nicht in der Verantwortung, Kinder zu schützen, ganz egal, woher sie stammen und wer ihre Eltern sind? Und darum ist die Sache mit der Verhüllung von Kindern sehr bedeutsam. Wir müssen das tatsächlich als Kindesmissbrauch betrachten. Wir müssen es betrachten als etwas, das die kindliche Entwicklung hemmt, und nicht als kulturelle Eigenheit, die toleriert werden muss.

Es gibt Menschen, die eine ganz andere Meinung vertreten und sagen, Fußballmädchen und Barbies mit Schleier seien hilfreich bei der Integration von Muslimen in die westlichen Gesellschaften …

Wie kann etwas, das Menschen voneinander trennt, zu einem Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Gesellschaft und zu Integration führen? Das ist doch irgendwie ein Widerspruch, nicht?

Sie können nicht Scharia-Gerichte zulassen, Geschlechtertrennung, die Trennung von Jungs und Mädchen an islamischen Schulen oder dass einige Kinder verhüllt sind und dann behaupten, dass diese sogenannte Toleranz zu Integrationen führen wird.

Die Geltung von Recht und Gesetz ist doch keine Frage der Toleranz. Gesetze müssen für jeden gelten. Besonders für Kinder. Aber immer wieder geht es darum, kulturelle oder religiöse Überzeugungen zu tolerieren – zu Lasten von Kinderrechten.

Ich finde, wir müssen die Diskussion hier komplett anders führen. Statt Religionen und Kulturen zu privilegieren, tolerieren, entschuldigen oder legitimieren, müssen Kinder und Menschen im Zentrum der Diskussion stehen.

Ihre klare Positionierung gegen Sonderrechte für Religionen im Allgemeinen und den Islam im Besonderen, hat – wie auch bei anderen humanistischen Kritikern des Islam – schon einige Male dazu geführt, dass Sie als Rednerin an Universitäten ausgeladen wurden. Man wirft Ihnen vor, Sie würden mit Ihrer Haltung islamophobe Ressentiments schüren. Stimmt das?

Egal welche Universität mich bisher ausgeladen hat, ich habe mich immer gewehrt und überall gesprochen. Tut mir leid, aber mich kann keiner verbieten – auch wenn sie’s versuchen. Der Vorwurf der Islamophobie ist de facto der Versuch, dem Westen islamische Gesetze gegen Blasphemie und den Abfall vom Glauben aufzuzwingen.

In Saudi-Arabien oder im Iran spricht man nicht von Rassismus oder Diskriminierung oder Islamophobie, man spricht von Blasphemie, Häresie oder Apostasie. Und man wirft Menschen dafür ins Gefängnis oder verhängt die Todesstrafe gegen sie. Im Westen wird die Diskussion bei der Islamophobie-Debatte so geführt, als ginge es um einen Kampf für Rechte. Tatsächlich geht es jedoch darum, islamische Blasphemie- und Apostasie-Gesetze zu etablieren, deren Ziel es ist, Rechte zu beschneiden. Es ist also ein Scheinargument.

Was nicht bedeutet, dass Rassismus und Diskriminierung nicht existieren. Natürlich tun sie das. Und davon sind Ex-Muslime ebenso betroffen wie Muslime. Denn diejenigen, die Rassisten und Faschisten sind, denken, dass wir sowieso alle gleich aussehen. Die sehen keinen Unterschied zwischen einem Sikh, einem Hindu und einem Muslim – ganz zu Schweigen vom Unterschied zwischen einem Ex-Muslim und einem Muslim.

"Rassismus betrifft uns alle und es ist etwas, das wir bekämpfen müssen."

Rassismus betrifft uns alle und es ist etwas, das wir bekämpfen müssen. Aber Sie können Rassismus nicht bekämpfen, indem Sie Kritik an Religion und religiösen Rechten mundtot machen.

Trotzdem wird genau dieser Versuch immer wieder unternommen, weil die Islamisten das Narrativ geändert haben. Sie benutzen die Forderung nach mehr Rechten als Mittel, um andere Rechte einzuschränken oder abzuschaffen. Denn der Vorwurf der Islamophobie führt zu einer Beschränkung der freien Meinungsäußerung. Das ist aber das einzige Mittel, das wir haben, um etwas in Frage zu stellen.

Wenn wir nicht mehr sprechen dürfen, weil es für beleidigend oder rassistisch gehalten wird, gibt es keine Möglichkeit mehr für uns, Dinge zu verändern.

Natürlich bedeutet das, dass auch Rassisten sprechen werden. Aber ich bin allgemein für das Recht auf freie Meinungsäußerung, selbst bei Hate Speech. Solange es keine Anstiftung zur Gewalt ist: Lass sie doch reden! Wenn sie Hassreden schwingen, werden wir antworten mit Reden, die für Liebe und Gleichheit werben und die sich gegen diese Hassreden stellen.

Aber man muss reden können, damit Menschen die Möglichkeit haben zu erkennen, was an bestimmten Meinungen und Glaubensüberzeugungen falsch ist, damit sie mit einer anderen Sicht auf die Dinge konfrontiert werden und selbst nachdenken können. Ich halte das für sehr wichtig, wenn wir die extremen Rechten in Europa bekämpfen wollen – und auch den Islamismus, der ebenfalls extrem rechts ist. Beides sind zwei Seiten derselben Medaille.

Innerhalb der Linken gibt es Strömungen, die Ihnen vehement widersprechen würden und die jegliche Kritik am Islam als rassistisch oder kulturchauvinistisch motiviert betrachten. Wieso erkennt man in diesen linken Strömungen nicht die von Ihnen geschilderten Zusammenhänge?

Tja, ich bin ja selbst links. Ich glaube einfach, sie haben sich in die Irre führen lassen. Sie betrügen linke Prinzipien. Die Linke stand immer in der ersten Reihe, wenn es darum ging, die Rolle der Religion im Staat zu bekämpfen oder auch Diskriminierung von LGBT oder Frauen.

Wenn Sie sich all diese Kämpfe seit der Suffragetten-Bewegung ansehen, Kämpfe für Rechte von Homosexuellen: große Teile davon waren Kämpfe gegen die Kirche. Wie kommt es also, dass unser Kampf gegen den Islam für rassistisch und intolerant gehalten wird? Ist es nur ok, wenn Ihr für Eure Rechte gegen die Kirche kämpft, aber wir dürfen nur innerhalb der Grenzen leben, die der Islam vorgibt? Nein. Wir weigern uns. Ich denke, dass solche Linken linke Prinzipien verraten.

Linke sind die Ersten, die von der islamistischen Bewegung getötet werden. In jedem Land, in dem Islamisten Macht haben, attackieren sie Freidenker, Abtrünnige, die Aktivisten der Arbeiterschaft.

Im Iran bekommen Sie beispielsweise langjährige Haftstrafen, wenn Sie irgendwas zum internationalen Tag der Arbeit am 1. Mai organisieren. Und diese Linken glauben tatsächlich, es handelt sich bei den Islamisten um eine Widerstandsvereinigung? Das sind sie nicht. Der Islamismus ist unser Faschismus. Und die Linken, die ihn unterstützen, sind Kollaborateure.

Frau Namazie, ein Ex-Muslim zu sein ist eine gefährliche Angelegenheit. Besonders dann, wenn man ein Aktivist dieser Bewegung ist, so wie Sie. Todesdrohungen durch islamische Fundamentalisten, Polizeischutz – das alles ist für viele Aktivisten der Ex-Muslimen-Bewegung der Normalfall. Ich frage mich, wie Sie diese permanente Bedrohung aushalten.

Ich denke, die müssen Angst vor uns haben, nicht wir vor ihnen. Wirklich. Denn wir sind viel mehr als sie. Und der Grund, warum sie uns bedrohen, ist, dass sie Angst vor uns haben. Denn es gibt so viele von uns, überall.

Schauen Sie sich doch die ganzen Ankündigungen von offiziellen Regierungsstellen in islamischen Ländern zur Bekämpfung des Atheismus an. Die haben Angst. Die haben sehr viel Angst.

Ich denke, wir müssen uns unserer Stärke bewusst werden.

Eines der Probleme ist, dass Menschen noch immer zu viel Angst haben. Sie müssen sich darüber klar werden, dass in Wahrheit wir diejenigen sind, die auf der Gewinnerseite stehen. Nicht nur, was unsere schiere Menge angeht, sondern auch, weil das, was wir sagen, richtig ist: Dass man ein Recht auf Religion hat aber eben auch ein Recht darauf, von Religion frei zu sein. Wir sind viel mehr als sie. Aber sie haben staatliche Macht und das führt zu dem falschen Eindruck, dass sie enorm stark sind. Allerdings können Sie in den Sozialen Medien sehen, wie schnell sich das Ganze auflöst und wie sehr unsere Argumente die Menschen in ihren Bann ziehen.

Die Stärke dieses Tsunamis überrascht mich immer wieder – vor allem, weil er so stark von Menschen getragen wird, die in Ländern leben, in denen auf Kritik am Glauben die Todesstrafe steht. Und ich? Ich lebe in Großbritannien. Also kein Vergleich, was die Bedrohungssituation angeht.


Das Interview wurde auf Englisch geführt. Übersetzung: Daniela Wakonigg.