Offener Brief an Alexander Dobrindt

"Religion ist Privatsache und hat in der Politik nichts verloren"

Vergangene Woche veröffentlichte die Tageszeitung "Die Welt" einen Gastbeitrag von CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt, in dem er eine konservative Wende in Deutschland fordert. Er bezeichnet darin die CSU als Bindeglied - auch zwischen Christen und Konfessionsfreien. Die hpd-Autorin Gisa Bodenstein hat ihm in einem offenen Brief geantwortet.

Sehr geehrter Herr Dobrindt,

ich habe Ihren Gastbeitrag in der Zeitung "Die Welt" gelesen, in dem Sie eine konservative Wende fordern, die Bürgerlichkeit feiern und die 68er-Bewegung geißeln. Sie schreiben unter anderem: 

"Die CSU war von ihrem Beginn an ein kraftvolles Bindeglied aller gesellschaftlichen Gruppen – Arbeitern und Angestellten, Landbevölkerung und Städtern, Katholiken, Protestanten und Konfessionslosen, Liberalen und Konservativen, Kosmopoliten und Nationalen. Damit waren wir die erste Volkspartei der jungen Bundesrepublik – und damit sind wir heute die erkennbare Volkspartei Deutschlands."

Wenn wir mal davon absehen, dass es angesichts eines deutschlandweiten Wahlergebnisses von 6,2 Prozent etwas kühn ist, sich als Volkspartei zu bezeichnen, widerspreche ich Ihnen in dieser Aussage. Eine Partei, die das "C" als ersten Buchstaben ihres Parteikürzels trägt, macht vor allem für eine gesellschaftliche Gruppe Politik: für Christen. Und die sind ein stetig schrumpfender Teil unseres Landes, was Zahlen der Forschungsgruppe Weltanschauungen in Deutschland (fowid) zeigen: Nur noch 28,5 Prozent der Bevölkerung sind katholisch, 26,5 Prozent evangelisch. Zusammengerechnet ergibt das einen Anteil von 55 Prozent – es sind also gerade noch knapp über die Hälfte der Deutschen Mitglieder in den zwei christlichen Großkirchen.

Ich finde es anmaßend, zu behaupten, die CSU sei unter anderem ein Bindeglied zwischen Christen und Konfessionslosen. Ihre Partei macht eine Politik, die einigen zentralen Anliegen von Menschen ohne Religion entgegenstehen: Diese sind nicht der Auffassung, dass der christliche Glaube das Fundament unserer Politik sein sollte. Im Gegenteil: Der deutsche Staat ist per Verfassung zu weltanschaulicher Neutralität und zur Trennung von Staat und Kirche verpflichtet – eine Aufgabe, die seit mittlerweile 99 Jahren unerledigt ist. Dafür setzen sich Organisationen für konfessionslose Menschen ein, wie die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), der Bund für Geistesfreiheit (bfg) oder der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA). Religion ist Privatsache und hat in der Politik nichts verloren. Warum das so sein sollte, zeigt ein Blick in die Geschichte oder in heutige Staaten, in denen diese Trennung nicht herrscht (beispielsweise in Saudi Arabien). Aus dem gleichen Grund lehnen Konfessionslose auch Kreuze in Klassenzimmern ab – in der Schule geht es um Wissen und nicht um Glauben. Deshalb fordert beispielsweise der IBKA seit Jahren die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts zugunsten eines weltanschaulich neutralen Ethikunterrichts für alle.

Auch mit der "Bewahrung der Schöpfung" können Menschen ohne Religion nichts anfangen – sie glauben an keinen Schöpfer. Der Begriff "Schutz des Lebens" ist ebenfalls vorbelastet. Steht er doch für fundamentalistisches Denken und die Aberkennung der Selbstbestimmung des Menschen. Diese Selbstbestimmung ist Konfessionslosen elementar wichtig, sowohl am Beginn, als auch am Ende des Lebens. Die Positionen der CSU hierzu sind ja bekannt, stehen denen von Religionsfreien aber entgegen. Diese wollen keiner Frau aufzwingen, ein Kind zur Welt zu bringen, wenn sie das nicht möchte – aus welchen Gründen auch immer –, noch wollen sie einen Menschen dazu zwingen, zu Ende zu leiden, wenn es für ihn keine Heilung gibt und er nicht mehr leben möchte. "Die Unantastbarkeit der Würde des Menschen", die Sie in einem Atemzug mit diesem "Schutz des Lebens" aufführen, hat damit nichts zu tun – im Gegenteil. Einem Menschen per Gesetz die Möglichkeit eines selbstgewählten, würdigen Todes zu nehmen, verachtet die Menschenwürde und die Selbstbestimmung des Individuums. Und was die "körperliche Unversehrtheit" angeht: Warum hat sich Ihre Partei in der Beschneidungsdebatte dann nicht entschieden gegen die medizinisch nicht notwendige Verstümmelung Minderjähriger ausgesprochen?

Die "christlich-abendländische Leitkultur" bilde "den Grundkonsens unseres Zusammenlebens" und sei "die zentrale Voraussetzung für funktionierende Integration", behaupten Sie. Die Errungenschaften unseres Zusammenlebens fußen auf den Werten von Renaissance und Aufklärung. Sie wurden gegen die christliche Kirche erstritten. Das Christentum hingegen hatte uns in den 1000 Jahren zuvor eine beispiellos menschenverachtende Epoche beschert. Inwieweit soll das Voraussetzung einer gelungenen Integrationspolitik sein? Die Menschenrechte, die Sie in einem Satz mit der "christlich-jüdischen Glaubenstradition" nennen, hat der Vatikan bis heute (!) nicht anerkannt.

Seltsam finde ich auch die Aussage, Patriotismus sei Voraussetzung für Weltoffenheit. Wer sein eigenes Land zu sehr liebt, neigt zu Selbstüberschätzung und Überheblichkeit anderen gegenüber. Was das für Folgen haben kann, zeigt wiederum die Geschichte. Aus den negativen Erfahrungen zweier Weltkriege heraus wurde dieser Begriff abgelehnt. Darin und in zahlreichen anderen Punkten kritisieren Sie die Revolution von 1968, vergessen aber, ihr auch ihre positiven Errungenschaften zuzugestehen. Die Befreiung der Sexualität – das Natürlichste der Welt, vom Christentum als Sünde gebrandmarkt – war unbedingt nötig. Die Angleichung der Rollenbilder, die maßgeblich ist für unsere moderne Gesellschaft, wurde hier erkämpft. Man kann sicherlich Kritik üben, allerdings sollte man dabei nicht einseitig vorgehen.

Übrigens: Sie werfen den Aktivisten der 68er einen "unverrückbaren Glauben an die eigene moralische Überlegenheit" vor. Wer macht das sonst noch? Tipp: Es hat etwas mit dem Namen Ihrer Partei zu tun und fängt mit C an…

Mit freundlichen Grüßen,

Gisa Bodenstein