Religion first? Die ganz normale christliche Selbstüberschätzung

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Monika Grütters, Staatsministerin und Mitglied des CDU Bundesvorstandes auf dem 29. Parteitag der CDU Deutschlands am 6. Dezember 2016 in Essen
Monika Grütters auf dem 29. Parteitag der CDU Deutschlands am 6. Dezember 2016 in Essen

Keine Demokratie und keine Lebensorientierung ohne Religion: Das ist die Kernaussage von Monika Grütters, Staatsministerin für Kultur und Medien, in ihrem Gastbeitrag in der Wochenzeitung DIE ZEIT am 9. Mai 2018. Da kommt eine Veranstaltung verschiedener Weltanschauungsgemeinschaften im Roten Rathaus Berlin am 6. Juni gerade recht, um erneut die Frage nach einer Diskriminierung aufgrund von Weltanschauung und der Zukunft der hiesigen Religions- und Weltanschauungspolitik aufzuwerfen.

Es ist nahezu unmöglich, auch nur einen Satz aus diesem Artikel der Ministerin, betitelt mit der Frage "Wie viel Religion verträgt die Demokratie?", unwidersprochen stehen zu lassen.

Nein, die Ablehnung eines Kreuzes auf der Kuppel des Berliner Schlosses ist keine "kulturelle Selbstverleugnung", sondern die Akzeptanz einer kulturell pluralistischen Gesellschaft, in der das Kreuz eben nicht mehr allen Bürgerinnen und Bürgern von einer Staatsministerin verordnet werden kann.

Nein, durch die Ablehnung eines Kreuzes auf der Kuppel des Berliner Schlosses wird nicht "jede Form der Rückbindung an das Eigene zum Anachronismus", sondern nur solche Formen der Rückbindung an das Eigene, die das eigene Eigene für das Eigene aller halten.

Nein, die "Kultur des Abendlandes" wäre "ohne die enorme Inspirationskraft der christlichen Theologie" keineswegs "um vieles ärmer an Geist und Sinnlichkeit". Vielleicht wäre sie sogar reicher, wenn die christlichen Kirchen sich nicht so lange machtvoll gegen Demokratie, Menschenrechte und Pluralismus gewehrt hätten.

Nein, die "Entchristlichung der Gesellschaft" (Institut für Demoskopie, Allensbach) ist nicht einfach auf die "Arbeit" der "SED-Diktatur" zurückzuführen. Sie hängt schlichtweg damit zusammen, dass die christliche Religion sehr vielen Menschen heute nichts mehr zu sagen hat, weil sie auf zweifelhaften metaphysischen Voraussetzungen beruht.

Nein, wer nicht christlich ist, der ist nicht "unbehaust", "erbärmlich opportunistisch", "spirituell abstinent", "bindungslos" und "genusssüchtig". Selbstverständlich kann man auch ohne christliche Religion ein gutes und verantwortungsvolles Leben führen. Im Übrigen ist die alte christliche Leib- und Genussfeindlichkeit doch eigentlich auch innerhalb des Christentums zu den Klosterakten gelegt worden.

Nein, nicht "nur eine Gesellschaft, die ihre eigene Identität pflegt" kann "dem Fremden Raum geben, ohne sich bedroht zu fühlen". Eine pluralistische Gesellschaft kann durchaus unterschiedliche Identitäten pflegen, ohne dass sie deshalb fremdenfeindlich ist. Und die Pflege einer gemeinsamen politischen Identität darüber hinaus bestünde gerade darin, einen Abstand zu der jeweils eigenen partikularen kulturellen Identität zu gewinnen.

Nein, das Geben von "Halt" und "Orientierung" ist genauso wenig ein christliches Monopol wie das Ringen um "Antworten auf letzte Fragen" oder das Lenken des Blicks "über Vordergründiges hinaus". Was denkt die Staatsministerin für die Kultur aller Bürgerinnen und Bürger eigentlich über den Teil der Kultur, der nicht so christlich ist wie sie?

Nein, die Menschenwürde in der deutschen Verfassung hat nicht ihre "Quelle im christlichen Glauben", sie hat ihre Quelle im antiken Humanismus (Ciceros dignitas hominis), in Renaissance, Aufklärung und verlorenem Krieg. Wahr ist aber, dass die Menschenwürde auch mit "dem christlichen Glauben, in dem der Mensch Ebenbild Gottes ist und jeder Mensch dieselbe Würde hat" begründet werden kann, selbst wenn diese Begründung oftmals keine Entsprechung in der historischen Praxis des Christentums fand.

Nein, das Christentum hat auch nicht das Monopol auf "Barmherzigkeit". Nicht nur, dass wir diese auch schon beim Heiden Cicero und in der stoischen Ethik finden (misericordia), man sollte vor allem nicht annehmen, dass anderen Kulturkreisen Dinge wie Güte, Erbarmen und Mitmenschlichkeit fremd seien.

Nein, "Verständigung erfordert" keineswegs "ein Bewusstsein der eigenen Identität: Klarheit darüber, was uns ausmacht als Deutsche und als Europäer". Identitäten sind zumeist unklar, fragil, hybrid und in Bewegung. Sie setzen Verständigung eher voraus als dass sie eine Vorbedingung von Verständigung wären. Wie sollte es überhaupt interkulturelle und interreligiöse Verständigung geben können, wenn alle zunächst erst ihre Identitäten vollends zu klären hätten? Es gäbe dann gar keine Verständigung mehr, sondern nur noch Abschottung.

Nein, der deutsche Staat ist kein christlicher Staat, sondern er ist und sollte sein: religiös neutral. Dass eine Staatsministerin sich so deutlich vom Geist des Grundgesetzes abwendet und in Richtung Gottesstaat denkt, muss irritieren. Religiöse Neutralität, und hier liegt wohl die gedankliche Konfusion, bedeutet ja keineswegs Wertneutralität bzw. die von der Ministerin gefürchtete "schlichte Indifferenz".

Nein, Demokratie braucht keine "Kultur des Glaubens". Sie kann auch ausgezeichnet ohne christlichen oder anderen religiösen Glauben funktionieren. Selbstverständlich aber ist eine "Kultur des Glaubens" innerhalb der Demokratie willkommen, solange sie sich deren Institutionen und Prozessen unterordnet. Sie kann Bestandteil einer pluralistischen Kultur sein. Glauben sollte man nur nicht, dass nur Christen an etwas glauben, für das sie einstehen und sich engagieren.

Diese Äußerungen der Staatsministerin zeigen einmal mehr, dass es aktuell in Deutschland keine moderne, pluralismuskompatible Religions- und Weltanschauungspolitik gibt. Die Verunglimpfung nicht religiöser Menschen wirft darüber hinaus erneut die Frage auf, ob konfessionsfreie und nicht religiöse Menschen in Deutschland diskriminiert werden.

So ist es gut, dass diese Themen am 6. Juni 2018 in Berlin auf dem Abendpodium Religion first? mit Vertreterinnen der Regierungsparteien des Berliner Abgeordnetenhauses diskutiert werden. Die am Runden Tisch der Weltanschauungsgemeinschaften im Land Berlin teilnehmenden Gruppen laden ein zur Präsentation einer Studie der Antidiskriminierungsstelle des Bundes - Weltanschauung als Diskriminierungsgrund – im Roten Rathaus.