Jahrestag einer Lüge

Der 28. Februar 1998 – heute vor 20 Jahren – ist in die Medizingeschichte eingegangen als der Beginn einer der größten Medizinskandale überhaupt. An diesem Tag hatte "The Lancet" die Studie eines gewissen Andrew Wakefield veröffentlicht, die bis heute die Impfgegnerszene beflügelt, Eltern verunsichert, Verantwortlichen für das Impfwesen die Haare zu Berge stehen lässt und Wakefield selbst nach wie vor einen höchst zweifelhaften Ruhm verschafft, den er zum eigenen Vorteil auszuschlachten versteht. Darüber hinaus hat die "Autismus-Lüge", wie diese Geschichte durchweg in der Fachwelt genannt wird, zweifellos ihren Anteil an der beklagenswerten Wissenschaftsfeindlichkeit, die leider derzeit den Zeitgeist beherrscht.

Andrew Wakefield, damals Kinderarzt für Magen-Darm-Erkrankungen an einer Londoner Klinik, hat am 28.2.1998 eine "Studie" im hoch renommierten Wissenschaftsmagazin "Lancet" veröffentlicht und darin einen Zusammenhang der MMR-Mehrfachimpfung mit dem Entstehen von Autismus behauptet. Sein Eigeninteresse bestand darin, dass Wakefield Inhaber eines Patents für einen Einzelimpfstoff war, das wegen der MMR-Dreifachimpfung wertlos zu werden drohte. Es ist jedoch – von kritischer Presse ebenso wie von wissenschaftlicher Seite – offengelegt worden, dass diese "Studie" (auf der Basis von acht Personen!) auf manipulierten und gefälschten Daten beruhte, von keiner Ethikkommission je genehmigt worden war und ihre Ergebnisse unter keinem Aspekt haltbar waren.

Der Klinik, an der Wakefield damals "forschte", wurde ein erheblicher Betrag zugewendet, Wakefield selbst profitierte in einer Größenordnung von rund einer halben Million Pfund. Quelle dieses Geldregens waren Anwälte, denen seine "Ergebnisse" bei geplanten Prozessen gegen Impfmittelhersteller gerade richtig kamen.

Die britische Gesundheitsbehörde führte eine Untersuchung durch, die in die Einleitung eines Strafverfahrens gegen Wakefield wegen Betruges mündete. Wakefield kam einer öffentlichen Verhandlung mit der Anerkennung des Klagevorwurfs zuvor. "The Lancet" hat bis heute die Veröffentlichung mit der Kennzeichnung als "zurückgezogen" im Internet belassen – als Mahnung. (Siehe Titelbild)

In Großbritannien erhielt Wakefield, der sich seinen von der englischen Presse verliehenen Spitznamen "Fakefield" redlich verdient hat, Berufsverbot. Er siedelte in die USA über und fand Anschluss an die dortige Impfgegnerszene, als deren "Guru" er inzwischen fungiert. Mit dem finanziellen und wohl auch politischen Rückenwind aus den USA betreibt Wakefield mit seinem Kinofilm VAXXED nach wie vor Propaganda mit einer an den Haaren herbeigezogenen Verschwörungstheorie, die längst ihrerseits widerlegt ist. Im vorigen Jahr unternahm er eine "Europatournee" mit seinem Film, fand dabei allerdings heftigen Widerstand. So wurden ihm – im letzten Moment – ein Auftritt und eine Vorführung im Europäischen Parlament verwehrt. Er wollte der Einladung einer EU-Abgeordneten folgen, die als Ikone der französischen Impfgegnerszene gilt. Die Auseinandersetzung zu diesem Film in Deutschland zeigte einmal mehr auf, mit welcher Verbissenheit die hiesige Impfgegnerszene Wakefield als eine ihrer großen "Ikonen" verteidigt und dabei vor Beleidigungen und Verleumdungen nicht zurückschreckt.

In England fand Wakefield niemanden, der ihm eine Vorführung ermöglichen wollte; er musste sich "bei Nacht und Nebel" Räumlichkeiten für eine "geheime" Vorführung verschaffen (was für seine Helfershelfer sehr unangenehme Folgen hatte). In Irland wurde im Parlament Wakefields Ankündigung seiner "Tournee" als "Rückkehr von Zauberei und Hexenwerk" gebrandmarkt. Die Presse im Vereinigten Königreich positionierte sich deutlich gegen Wakefield.

Und in Deutschland? Zwar zogen etliche Kinos nach Protesten ihre Ankündigungen zurück, andere zeigten aber den Film und ließen Wakefield persönlich auftreten. Protestierende Skeptiker wurden als "Impffaschisten" beschimpft, die "Inquisition und Meinungsterror" betreiben würden. Kinobetreiber sagten Kritikern ins Gesicht, sie würden "moralischen Druck" ausüben, dem man nicht nachgebe. Vielmehr wolle man "türkische Verhältnisse vermeiden", womit gemeint war, dass man den skeptischen Protest für einen Versuch hielt, Meinungszensur einzufordern. Die deutsche Presse berichtete – so gut wie nicht.

Die wissenschaftliche Community beantwortete die Verbreitung der "Autismus-Lüge" mit einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung zum Thema Impfen und Autismus. Anders als Wakefield sah man sich in der Verantwortung, um den Ängsten und Sorgen verunsicherter Eltern fundiert antworten zu können. Inzwischen gibt es kaum mehr Forschung im Impfbereich als zum Zusammenhang mit Autismus.

Die umfassendste Betrachtung dazu stammt von der Cochrane Collaboration, einer unabhängigen, international tätigen Institution zur Bewertung medizinisch-wissenschaftlicher Ergebnisse. Mit einem klaren Ergebnis, auf der Basis von 1,5 Millionen ausgewerteten Impfungen: Diesen Zusammenhang gibt es nicht. Zitat:

"Wir können keinen signifikanten Zusammenhang zwischen der MMR-Immunisierung und den folgenden Krankheitszuständen bestätigen: Autismus, Asthma, Leukämie, Pollenallergien, Typ 1-Diabetes, Lauf- und Gehstörungen, Morbus Crohn, Myelinschäden (Vorstufe von Multipler Sklerose) oder bakteriellen bzw. viralen Infektionen…"

Weitere Einzelstudien haben inzwischen dieses umfassende Ergebnis bestätigt. Inzwischen ist ohnehin klar, dass "Autimus" keine "Krankheit", sondern eine zumindest teilweise genetisch bedingte Entwicklungsstörung ist – wo sollte da ein Auslöser durch eine Impfung plausibel liegen können?

Es gibt in der Geschichte der modernen Medizin wohl kaum einen vergleichbaren Fall, der auf der Basis einer glatten Lüge eine solche anhaltende Reaktion ausgelöst hat. Überall trifft man nach wie vor die besorgte Frage von Eltern nach einem Zusammenhang von Autismus und Impfungen an (längst nicht mehr nur mit der MMR-Impfung, um die es ursprünglich allein ging). Und in der Impfgegnerszene ist das "Autismusargument" ein unausrottbarer Dauerbrenner. Die Autismus-Lüge, die man ruhig offen so nennen sollte, ist selbst inzwischen wie ein Virus, das sich der Ausrottung widersetzt und sich ohne ständigen Widerspruch von skeptischer Seite wohl weiter ungehindert ausbreiten würde. Das muss man nun 20 Jahre nach der Lancet-Veröffentlichung leider konstatieren.

Woran uns der heutige Jahrestag mahnen sollte? Daran, dass es weder in der Wissenschaft noch im täglichen Leben ohne Redlichkeit und Ehrlichkeit, ohne eine ethisch fundierte Grundhaltung, geht. Dass Vertrauen wichtig ist, aber auch Gegenseitigkeit voraussetzt. Dass Aufklärung über Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit unverzichtbar ist. Dass diejenigen, die über das entsprechende Wissen verfügen, in einer Bringschuld gegenüber dem breiten Publikum sind, es aber letztlich ohne die Bereitschaft des Publikums, sich die Informationen auch abzuholen und sich ein wenig selbst damit auseinanderzusetzen, auch nicht geht. Letztlich darum, dass Wissenschaft, richtig verstanden, ein zutiefst humanistisches Projekt ist.