Kommentar

523.912.215 Euro oder die Frage: Wie christlich ist Deutschland?

Der Islam gehört nicht zu Deutschland ... Deutschland ist durch das Christentum geprägt, so tönt der neue Bundesinnenminister Seehofer landauf, landab durch die Medien. Angesichts dessen ist zu fragen: Von welchem Deutschland spricht er? Meint er den Staat Bundesrepublik Deutschland, die Nation, die sich auf verschlungenen Wegen bildete? Sind nur die Deutschen gemeint, die auch den deutschen Reisepass besitzen? Von welchem Christentum redet er? Dem evangelikalen, dem orthodoxen, dem der Zeugen Jehovas, dem katholischen?

Die Antwort kann freilich auch kurz und negativ ausfallen: Keine Religion, keine Weltanschauung gehört zu Deutschland. Seit Einführung der Reichsverfassung von Weimar aus dem Jahre 1919 leben wir in einem säkularen Staat. Vorbei die Zeiten der Staatskirche, vorbei damit auch die Zeiten einer Volkskirche, vorbei die faktisch erzwungene Kirchenzugehörigkeit.

Doch unglaublich: Die Kirchen erhielten 2017 die Rekordsumme von 523.912.215 Euro an verfassungswidrigen Staatsleistungen durch die Bundesländer. Alle Bundesländer (mit Ausnahme von Bremen und Hamburg) zahlen an die Kirchen. Die Spitzenposition hält wiederholt Baden-Württemberg mit über 118 Millionen Euro, es folgen Bayern mit über 95 Millionen Euro und Rheinland-Pfalz mit über 56 Millionen Euro. Von 1949 bis 2017 haben die Kirchen insgesamt über 17,3 Milliarden Euro nur an Staatsleistungen eingestrichen. Staatsleistungen verstehen sich als Zahlungen ohne Zweckbindungen. Sie haben nichts mit den kirchlichen Einnahmen aus der Kirchensteuer (über die wäre ohnehin extra zu sprechen) zu schaffen und sollten keinesfalls verwechselt werden mit staatlichen Subventionen, die von der öffentlichen Hand zur Erreichung eines bestimmten öffentlichen Zweckes gezahlt werden.

Im Jahre 2019 feiern wir alle miteinander das unrühmliche Jubiläum der Missachtung des Verfassungsauftrages zur Ablösung der Staatsleistungen an die Kirchen. CDU, CSU und SPD sträuben sich im Bundestag trotzdem gegen eine Abschaffung dieser Zahlungen. Grüne, AfD, Linke und FDP zeigen sich schwankend, sind aber zunehmend willens, sich des Themas anzunehmen. Bund und Länder weisen sich zudem gegenseitig den Schwarzen Peter zu. So verweisen die Länder darauf, dass es ein Grundsätzegesetz des Bundes noch nicht gibt, sie daher keinen Handlungsspielraum besitzen. Die Bundesregierung begründet das politische Unterlassen mit der Verlautbarung, dass weder von Seiten der Länder noch der Kirchen ... Bestrebungen nach einer Neugestaltung bekannt seien. Der Verfassungsauftrag in Artikel 140 des Grundgesetzes formuliert es in Verbindung mit Artikel 138 Absatz 1 der Weimarer Reichsverfassung klar und deutlich: "Die ... Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden ... abgelöst."

Von interessierter Seite wird immer wieder behauptet, daß die staatlichen Leistungen an die christlichen Großkirchen sich als Ausgleich für die Säkularisation und die damit einhergegangenen Enteignungen der Kirchen verstehen. Für diese Behauptung wird immer wiederholend der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 herangezogen. Allein dieser weiß nichts von Entschädigung, die über Jahrhunderte andauern soll. Zudem waren die betroffenen Gebiete nie das Eigentum der katholischen Kirche, vielmehr handelte es um Lehen im Eigentum des Kaiserreichs. Vereinbart wurde damals, den Erhalt der Dome zu sichern und eine Apanage (lebenslang!) nur für den konkret entthronten Landesherren zu gewähren. Die katholischen Fürstbischöfe und Fürstäbte amtierten nur auf Lebenszeit, aufgrund des Zölibates konnten bzw. durften sie keine Dynastien begründen.

Somit wurden die Immobilien auf Grundlage zweifelhafter rechtsstaatlicher Umstände erworben, zum Teil geschieht das bis in die Gegenwart. So wäre es nunmehr an den Kirchen, in einer wissenschaftlichen Aufarbeitung darzulegen, wie ihrerseits Ablöseforderungen überhaupt ethisch zu begründen sind und weshalb sie nach Jahrhunderten für den angeblichen Vermögensverlust vom deutschen Steuerzahler noch immer einen Ausgleich verlangen. Und noch nebenbei bemerkt: Viele Menschen, Vereine, Organisationen sind im Verlaufe der Jahrhunderte durch historische Ereignisse um ihr Vermögen, ihre Existenz gebracht worden. Sie wurden vertrieben, ausgelöscht, enteignet durch politische Herrschaft, Kriege, Inflation. Nie aber fühlte sich der jeweilige Staat auf endlos fortdauernde Zeiten zum Ausgleich dieser Schäden verpflichtet.

Nach erhobenen Daten (Stand 2013) von infratest dimap sind 81 Prozent der Bürger der Bundesrepublik Deutschland für eine klare Trennung von Staat und Kirche und eine weitere Mehrheit der Befragten (57 Prozent) spricht sich gegen die besondere Förderung der Kirchen in ihrer Rolle als zentrale religiöse Instanzen aus. Das System der staatlich erhobenen Kirchensteuer lehnen zwei Drittel (64 Prozent) ab. Die Kirchen verlieren jährlich zigtausende Mitglieder, der Trend dauert fort. Wenige Jahre noch, dann schrumpft der katholische und evangelische Anteil der Bevölkerung unter 50 Prozent, vielleicht sind 5-7 Prozent muslimisch, zwei Millionen Menschen gehören kleinen religiösen Verbänden an (orthodoxe Christen, Buddhisten, Hindus, Juden), die größere Gruppe von Menschen aber ist dann konfessionsfrei. Weshalb dann aber die fortgesetzte politische Arroganz gegenüber sich wandelnder soziologischer Gegebenheiten? Dabei läuft die Spannungslinie nicht zwischen Kirchenmitgliedern und Nicht-Kirchenmitgliedern. Länger schon bemerken auch maßgebliche Vertreter der Kirchen wie Reinhard Marx (katholisch) und Heinrich Bedford-Strohm (evangelisch) zunehmenden öffentlichen Druck und haben daher bereits vor Jahren schon ihre Bereitschaft zu "Ablöse-Gesprächen" erklärt.

Die Trennung von Staat und Kirche sollte in Deutschland längst eine Selbstverständlichkeit sein, sie ist es nicht. Politische Konsequenz? Fehlanzeige. Dafür lässt sich derzeit ein Trend beobachten, der nahezu absurd ist. Die Kirchen und religiösen Verbände schrumpfen, doch Kirchen und Christen verstärken die Präsenz in Politik und öffentlichem Raum. Begleitet werden sie dabei mit unglaublich aufgeblasenem medialem Pomp. Dass die Konfessionsfreien in diesem Land jünger sind als der Bevölkerungsdurchschnitt, sie häufig eine höhere Bildung aufweisen, einem eher städtischen Umfeld angehören, sollten auch Parteien registrieren, sofern sie noch gewählt werden wollen. Doch weltanschauliche Neutralität? Fehlanzeige. Im soeben neu gefassten Koalitionsvertrag finden Konfessionslose und Nicht-Religiöse keine Erwähnung, dafür wird vielfach von Kirchen und Religionsgemeinschaften gesprochen: "Die Koalitionsparteien würdigen das Wirken der Kirchen und Religionsgemeinschaften. Sie sind wichtiger Teil unserer Zivilgesellschaft und Partner des Staates. Auf Basis der christlichen Prägung unseres Landes setzen wir uns für ein gleichberechtigtes gesellschaftliches Miteinander in Vielfalt ein. Wir suchen das Gespräch mit den Kirchen und Religionsgemeinschaften und ermutigen sie zum interreligiösen Dialog, denn das Wissen über Religionen, Kulturen und gemeinsame Werte ist Voraussetzung für ein friedliches Miteinander und gegenseitigen Respekt." (Zeilen 7843 ff.) Das ist beängstigend, es ist beängstigend umso mehr, als der ehemalige Salzburger Weihbischof Laun soeben die Segnung Homosexueller mit der Segnung von Konzentrationslagern vergleicht. Wie er auf die Idee verfällt, Konzentrationslager segnen zu wollen, will ich hier dahingestellt sein lassen. Dem ehemaligen Glaubenswächter der katholischen Kirche, Gerhard Ludwig Müller, ist die Segnung Homosexueller "ein Gräuel an heiliger Stätte". Sind das also die Voraussetzungen "für ein friedliches Miteinander und gegenseitigen Respekt"?

Es ist endlich an der Zeit, die Trennung von Staat und Kirche in Deutschland zu vollziehen: Einhundert Jahre politischer Untätigkeit sind genug!