Religiösen Menschen werden oftmals sehr positive Eigenschaften wie vermehrte Hilfsbereitschaft, Altruismus oder Empathie zugeschrieben. Befasst man sich näher mit der Materie, bekommt man jedoch ein anderes Bild vermittelt. Die Autorin hat ihre Bachelorarbeit mit dem Titel: "Der Zusammenhang zwischen Religion bzw. Religiosität und prosozialen Tendenzen: Ein systematisches Review der empirischen Forschungsliteratur" für den hpd zusammengefasst.
Gesellschaftlich hoch angesehene Eigenschaften wie Hilfsbereitschaft, Mitgefühl, Selbstlosigkeit sowie ehrenamtliches Engagement (Armstrong, 2007; Haggard, Kang, Rowatt, & Shen, 2015; Myers, 2008; Putnam & Campbell, 2012) werden oft in Verbindung mit Religiosität gebracht. Der wissenschaftliche Begriff hierfür lautet religious prosociality hypothesis (RPH). Was allerdings genau prosoziales Verhalten beinhaltet und was nicht, ist u. a. abhängig von der Sichtweise und Gruppenzugehörigkeit des Handelnden sowie von der des Beobachters oder der Zielperson (Gollwitzer, Schmitt, Schalke, Maes, & Baer, 2005). Untersuchungen haben ergeben, dass Religiosität nicht nur mit prosozialem Verhalten verbunden sein kann, sondern auch mit dem Gegenteil, dem antisozialen Verhalten (Hobson & Inzlicht, 2016). Religiöse Menschen zeigen zwar tatsächlich eine große Hilfsbereitschaft, diese bleibt aber auf die Personen oder Gesellschaften, bzw. Organisationen beschränkt, welche die gleichen Werte und Normen teilen. Von einem allgemeinen Altruismus kann also nicht gesprochen werden. So stellt ein Homosexueller für jemanden, der sich selbst als streng gläubig bezeichnen würde, ein Verstoß gegen die für ihn geltenden Werte dar. Das Hilfsverhalten, dass die hoch religiöse Person noch gegenüber einem Mitglied der Kirchengemeinde gezeigt hat, bleibt der homosexuellen Person versagt.
Religiöse Menschen zeigen zwar tatsächlich eine große Hilfsbereitschaft, diese bleibt aber auf die ... beschränkt, welche die gleichen Werte und Normen teilen.
"Although superficially paradoxical, theists’ ingroup generosity and outgroup derogation actually represent two sides of the same coin." (Shariff, Piazza, & Kramer, 2014, S. 439)
Auch die Art der religiösen Orientierung hat Einfluss auf prosoziales Verhalten. Menschen, die an einen sehr strengen, bestrafenden und autoritär handelnden Gott glauben zeigen mehr Aggressionen gegenüber jemanden, der nicht die eigenen Ansichten und Werte teilt, als jemand, der an einen milden und wohlwollenden Gott glaubt. Interessanterweise aber schützt wiederum der Glaube an den bestrafenden Gott vor Betrugsverhalten, auch wenn keine realen Beobachter anwesend sind, wohingegen der Glaube an einen wohlwollenden Gott eher die Betrugstendenz vermehrt. Weitere Effekte und Einflüsse konnten in der vorliegenden Arbeit offengelegt werden.
Das systematische Review der aktuellen Forschungsliteratur befasst sich mit fünf komprimierten Fragestellungen und kommt zu folgenden Ergebnissen:
- Ein Großteil aller Effekte oder sogar alle Effekte in Bezug auf prosoziale Tendenzen, welche in diesem Zusammenhang der Religion zugeschrieben werden, weisen eher auf einen Ingroup-Bias hin (Galen, 2013). Eigengruppenfavorisierung ist ein bekanntes Phänomen, welches allerdings häufig nicht statistisch kontrolliert wird.
- Das Ausmaß und die Richtung des Zusammenhangs von Religion bzw. Religiosität und prosozialen Tendenzen hängen von der religiösen Orientierung bzw. dem Glaubenskonzept der Befragten ab. Verschiedene Gott-Konzepte können durchaus differierende Ergebnisse in Bezug auf prosoziale Tendenzen liefern. Hier kann aufgezeigt werden, dass Religiosität eben nicht per se mit prosozialen Tendenzen zusammenhängt, sondern dass verschiedene Glaubenskonzepte eben auch verschiedene Auswirkungen haben können. Zudem besteht noch eine Notwendigkeit der empirischen Validierung (Schloss & Murray, 2011).
- Höhere Werte in prosozialen Tendenzen sind abhängig von positiv konnotierten Primes, welche dem Kulturkreis entsprechende Normen, Werte, Moralvorstellungen enthalten oder einen belohnenden Charakter beinhalten. Der Zusammenhang von Religion und prosozialen Tendenzen wird durch diese Primes erklärt. Säkuläre Primes haben einen vergleichbar großen positiven Effekt auf prosoziale Tendenzen wie religiöse Primes. Ergebnisse legen nahe, dass allein angedeutete Beobachtung prosoziale Tendenzen fördern kann (Bateson, Nettle, & Roberts, 2006). Das würde als logische Schlussfolgerung beinhalten, dass das Verdeutlichen von Normen jeglicher Art ausreicht, um prosoziales Handeln zu intendieren.
- Demografische Daten haben einen größeren Einfluss auf prosoziale Tendenzen als Religiosität. Einige Forscher weisen auf den wichtigen Einfluss von demografischen Daten hin und stellen die Frage, ob die positiven Effekte von Religion nicht teilweise oder sogar gänzlich durch diese erklärt werden können (Kloet & Galen, 2011). So wird beispielsweise der Zusammenhang von Religion und psychischer Gesundheit durch demografische Daten vermittelt (Flannelly, Galek, Ellison, & Koenig, 2010).
Die Ergebnisse können als Relativierung der RPH angesehen werden. Zum einen bestimmt die Eigengruppenfavorisierung, ob und in welchem Maße prosoziales Handeln erfolgt. Und zum anderen erreichen nicht-religiöse Personen, welche sich einer sozialen Gruppe zugehörig fühlen, die gleichen Werte in vielen verschiedenen Variablen, die originär der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft zugeschrieben wurden, wie z. B. Wohlbefinden, Gesundheit, hohes freiwilliges Engagement (Galen, 2015). Exemplarisch dazu zeigen Mitglieder atheistischer Vereinigungen in den USA eine starke Gruppenidentität (Guenther & Mulligan, 2013). Es stellt sich hierbei die Frage, ob diese Gruppenzugehörigkeit nicht prosoziale Tendenzen ebenso gut fördern kann wie die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft. Alles in allem gibt es viele verschiedene Ansätze und Methoden, sich dem Thema zu nähern und die Forschung hat gezeigt, dass der Zusammenhang von Religiosität und prosozialem Verhalten nicht generell gegeben ist, sondern von vielen verschiedenen Einflüssen abhängt.
11 Kommentare
Kommentare
Stefan Dewald am Permanenter Link
Zu dieser Literaturliste würde ich dieses Buch ergänzen:
David Sloan Wilson
Darwin's Cathedral: Evolution, Religion, and the Nature of Society
University of Chicago Press (2002), ISBN 0226901343
https://en.wikipedia.org/wiki/Darwin's_Cathedral
http://lachsdressur.de/darwins-cathedral/
Hans Trutnau am Permanenter Link
Dieses andere Bild über den religiösen Ingroup-Altruismus hat sich mir schon länger vermittelt, jetzt aber mit einer tollen Arbeit belegbar.
Emmerich Lakatha am Permanenter Link
Ich meine, Religionen fördern und hindern
Thomas am Permanenter Link
"Untersuchungen haben ergeben, dass Religiosität nicht nur mit prosozialem Verhalten verbunden sein kann, sondern auch mit dem Gegenteil, dem antisozialen Verhalten"
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"Religiöse Menschen zeigen zwar tatsächlich eine große Hilfsbereitschaft, diese bleibt aber auf die Personen oder Gesellschaften, bzw. Organisationen beschränkt, welche die gleichen Werte und Normen teilen."
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Dieser vorsätzliche Verzicht auf Anwendung des ethischen Gleichheitsgrundsatzes ist die Essenz des Faschismus und der Hauptgrund, warum die Erde ein dermaßen leiderfüllter Ort ist - für menschliche UND nichtmenschliche Tiere.
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"Von einem allgemeinen Altruismus kann also nicht gesprochen werden."
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Fast möchte ich sagen: gut so. Schließlich verstößt der Altruismus nicht weniger gegen den ethischen Gleichheitsgrundsatz, als der Egoismus.
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"Hier kann aufgezeigt werden, dass Religiosität eben nicht per se mit prosozialen Tendenzen zusammenhängt, sondern dass verschiedene Glaubenskonzepte eben auch verschiedene Auswirkungen haben können."
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M.a.W.: ex falso quodlibet - eine weitere "Überraschung".
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"Es stellt sich hierbei die Frage, ob diese Gruppenzugehörigkeit nicht prosoziale Tendenzen ebenso gut fördern kann wie die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft."
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Und wenn schon. Wir müssen endlich damit aufhören, unser Verhalten gegenüber anderen leidensfähigen Wesen von irgendwelchen "Gruppenzugehörigkeiten" abhängig zu machen, denn sonst werden wir den Faschismus mit seinen geradezu apokalyptischen Potenzialen niemals überwinden.
H.-J. Schmidt am Permanenter Link
Zwei Fragen:
1. Die Zusammenfassung macht Appetit auf mehr. Wo kann man denn die komplette Arbeit einsehen?
Wolfgang Graff am Permanenter Link
Es überrascht wenig, dass sich religiös motiviertes prosoziales Verhalten ganz überwiegend auf die Ingroup bezieht.
Da das Thema Flüchtlingshilfe immer noch virulent ist, würde ich beim Gebrauch des Ingroup-Arguments gegenwärtig noch Zurückhaltung empfehlen, auch wenn es durch Studien statistisch gut belegt ist.
Thomas B. Reichert am Permanenter Link
Welche Philosophie (Denkweise) steckt hinter der Ideologie des Christentums bzw. hinter den abrahamitischen Religionen?
Hinter dem Christentum verbirgt sich die Naturrechtsphilosophie bzw. das „böse Naturrecht“! Kurz zusammengefasst: Es gibt intelligente Menschen (Priester) und dumme Menschen (Schafe). Der intelligente Mensch führt den dummen Menschen und profitiert selbstverständlich von diesem.
Das Naturrecht ist ein nicht gesetzlich festgelegtes Recht, es ist im Naturgeschehen und der Naturbeobachtung begründet. Alles was man aus der Natur herauslesen kann oder will projiziert man als Recht gegenüber seinen Mitmenschen und so wurde selbst bis ins 19. Jahrhundert die Sklaverei naturrechtlich begründet. Frisst in der Natur nicht das schnellere Tier das langsamere Opfer? Frisst das größere Tier in der Natur nicht das kleinere Tier? Gibt es nicht Jäger und Opfer? So ist halt die Natur: Das größere, schnellere, stärkere … Tier profitiert von bzw. dominiert das kleinere, langsamere, schwächere Tier. Warum sollte man diese Erkenntnis nicht auch auf den geistigen Menschen übertragen können? Wenn sich der dumme Mensch führen lassen möchte, hat dann nicht der intelligentere Mensch das Recht den dummen Menschen zu führen und hat dieser dann nicht auch das Recht von den Dummen etwas verlangen zu dürfen? Hinter dem "bösen Naturrecht" steht demzufolge auch das „Recht des Stärkeren“ – es ist halt nur sehr viel schöner verpackt – mit Geschenkpapier und Schleife drumherum, damit man es auf Anhieb nicht erkennen kann.
Im Christentum bzw. in den abrahamitischen Religionen wurde und wird der gutgläubige Mensch als Kind bewusst desorientiert und desinformiert – er bekommt einen Wahn eingeredet, ihm wird Angst eingejagt und mit der Zuckerbrot- und Peitschemethode beherrscht, er wurde und wird ja ganz bewusst geistig getötet. Und als Ausrede der Theologen wird vorgeschoben, dass der Mensch doch einen freien Willen hat – er kann sich doch Wissen aneignen, aufstehen und seine Meinung sagen – solange er dies aber nicht tut darf das Opferlamm in einem kollektiven Wahn leben oder als Mitläufer agieren. Solange sich der Mensch belügen und betrügen lässt wird er belogen, betrogen und ausgenommen.
Die Menschen in religiösen Gruppierungen sind Schauspieler, Heuchler, teilwissende Mitläufer, Mitläufer ... und Schafe und sie alle wollen von dem Blutgeld - dem blutigen Geld unserer Ahnen profitieren und belügen und betrügen sich und singen gemeinsam "Halleluja". Ich kann nur noch ungläubig den Kopf schütteln.
Klaus Bernd am Permanenter Link
Laut K. R. Popper sollte man sich zwar nicht allzu sehr mit Begriffsdefinitionen aufhalten, in diesem Fall jedoch scheint es mir angebracht.
Was die prosozialen Tendenzen angeht scheint mir eine Unterscheidung wichtig zu sein: die zwischen „Almosen geben“ und „gerechte Teilhabe an den Gütern befördern“. (Letzteres klingt vielleicht etwas sperrig, was besseres fällt mir aber im Moment nicht ein.) Beides muss nicht zwangsläufig mit Altruismus motiviert sein, sondern kann durchaus mit Egoismus erklärt werden. Im ersteren Fall mit einem egozentrischen Schielen auf eine Belohnung in einer transzendenten Welt, im anderen mit einem vernünftigen Vorteil für den Einzelnen, der in einer konfliktfreieren diesseitigen Welt besteht (siehe Manifest des Evolutionären Humanismus).
Desweiteren muss man unterscheiden zwischen religösen Individuen und religiösen, von Amstkirchen verwalteten Institutionen und den Amtskirchen selbst. Erstere zeigen – vermutlich unabhängig von den o.a. unterschiedlichen Ausprägungen von Religosität und Motivation – Großzügigkeit und auch Engagement, letztere aber sind in erster Linie auf Machterhalt ausgerichtet. Ich bin auch davon überzeugt – und so interpretiere ich auch die Tendenz dieses Artikels – dass bei Individuen die Religiosität als „Glaube an eine Lehre“ eine untergeordnete Rolle spielt, und Glaube an absurde Dogmen gar keine.
Dass sich die r.k.K. z.B. eindeutig auf das „Almosen geben“ kapriziert, zeigt sich in ihrer Einstellung zur sogenannten Befreiungstheologie und findet sich in der Ezyklika „Laudato `si“, Abschnitt 71: Da wird wird aus dem AT zitiert: „Wenn ihr die Ernte eures Landes einbringt, sollt ihr das Feld nicht bis zum äußersten Rand abernten. Du sollst keine Nachlese von deiner Ernte halten. In deinem Weinberg sollst du keine Nachlese halten und die abgefallenen Beeren nicht einsammeln. Du sollst sie dem Armen und dem Fremden überlassen“ (Lev 19,9-10).“ Daraus macht die Hermeneutik Bergoglios zwar: „Diejenigen, die das Land bebauten und hüteten, mussten seinen Ertrag teilen, besonders mit den Armen, den Witwen, den Waisen und den Fremden“. Aber abgesehen davon, dass die Witwen und Waisen im Bibeltext gar nicht vorkommen, kann von Teilen keine Rede sein, sondern nur von „übrig lassen“. Das ist genau das Prinzip Almosen, nach dem auch der Vatikan handelt, die Kirche selbst und die kirchlichen Institutionen. Was noch übrig bleibt wird verteilt; wenn die Renten der Kleriker gesichert sind, und ihr Lebensstandard, und die kostbare Ausstattung der Kultbauten und so fort, was dann noch übrig bleibt, nur das wird verteilt. Kunstschätze, Vermögenswerte und Grundbesitz werden nicht angetastet.
Kirchenfürsten muss man daran messen, was ihre Organisationen tun und nicht daran, dass der Papst den Armen Roms mal ein Eis spendiert.
A.S. am Permanenter Link
Der Mensch ist evolutionsbiologisch gesehen ein in Horden lebendes Raubtier.
Schutz gewährt die Horde durch Größe und Kampfkraft. Die Religionen optimieren die Horde durch Gebährzwang für die Frauen (zahlenmäßige Stärke), Abwerbung von anderen Horden (zahlenmäßige Stärke, den Abwerbevorgang nennt man "Mission"), Kampfmoral-Verstärkung durch Vorstellungen vom ewigen Leben, Beschützer-Gott, Gotteslohn für Gehorsam etc.
Die Religions-Horden dienen genausowenig bzw. genausoviel dem Frieden wie die Nations-Horden: Frieden im Inneren, Gewalt nach Außen.
Wolfgang Schaefer am Permanenter Link
"Gottseidank! " gibt es auch Einzelgänger, Einsiedler und Schafhirten. Und im übrigen, "Gott"
war auch kein Herdenmensch. Er erschuf Adam und Eva und machte sich dann vom Acker, gelle?
A.S. am Permanenter Link
Ja, aber auch das sehe ich evolutionsbiologisch: Die Herden benötigen "Kundschafter", die unbekanntes Terrain erkunden. So erfüllen auch die Einzelgänger eine Funktion für die Horde.