Auch in diesem Jahr wird wieder der "Tag der genitalen Selbstbestimmung" in Köln gefeiert. Dies war Rolf Herzberg, Strafrechtsprofessor an der Ruhr-Universität Bochum und Botschafter von "intaktiv e.V. – Eine Stimme für genitale Selbstbestimmung" Anlass für einen offenen Brief. Er antwortet auf ein in der ZEIT veröffentlichtes Statement von Mike Samuel Delberg.
Sehr geehrter Herr Delberg!
In der ZEIT vom 2. Mai 2019 lese ich auf Seite 7, dass Ihnen "als Jude … Artikel 4 sehr wichtig" ist und dass Sie nur einmal gedacht haben, Ihre "deutsche Heimat vielleicht verlassen" zu müssen, nämlich "während der Debatte um ein Beschneidungsverbot". Es wird nicht ganz deutlich, auf welcher Seite Sie in diesem Streit gestanden haben. Aber Sie sind in Deutschland geblieben, nachdem sich mit § 1631 d BGB im Kern nicht die Beschützer des kindlichen Genitals, sondern die Apologeten des religiösen Rituals zunächst durchgesetzt haben. Darum vermute ich, dass es Ihnen bei der Berufung auf Artikel 4 nicht um ein Recht des Kindes geht, d.h. um seine "negative Religionsfreiheit", die ja durchaus beeinträchtigt wird durch die sichtbare und unauslöschliche Besiegelung einer religiösen Zugehörigkeit. Eher glaube ich, dass Sie Art. 4 Abs. 2 des Grundgesetzes im Auge haben und daraus umgekehrt ein Grundrecht der Eltern ableiten, durch die Beschneidung ihrer männlichen Kinder positiv ihre eigene Religion auszuüben. Und wenn Sie Ihre deutsche Heimat verlassen hätten, dann wohl deshalb, weil hierzulande (wie übrigens auch in Israel!) viele auf Seiten der Kinder stehen und das fragliche Recht der Eltern bestreiten. Prominente Ärzte und Juristen, das Landgericht Köln und die Mehrheit der Bevölkerung in Deutschland beurteilen die medizinisch unnötige Beschneidung als schwerwiegendes Unrecht.
Mir war dieses Urteil nahezu selbstverständlich, als ich mich 2006 mit dem rituellen Brauch gedanklich zu befassen begann, beeindruckt von Necla Keleks Buch "Die verlorenen Söhne – Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes", worin sie den Leser ansteckt mit ihrem Entsetzen angesichts der Beschneidung ihrer Neffen. In einem internen Gesprächskreis habe ich die Diskussion angestoßen und Holm Putzkes grundlegenden Aufsatz "Die strafrechtliche Relevanz der Beschneidung von Knaben" veranlasst. Nie hätte ich gedacht, dass die von Putzke und mir erwartete gerichtliche Bestätigung unserer Rechtsansicht eifernde und giftige Empörung auslösen könnte. Kindern vom gesunden Penis den lustempfindsamsten Teil abzuschneiden ist ja bei unvoreingenommener Betrachtung ein inhumaner, grausamer und atavistischer Akt. Natürlich war es kein Gott, der ihn gewollt und befohlen hat. Im 21. Jahrhundert glaubt niemand mehr ernstlich daran, dass das Alte Testament insoweit ein tatsächliches Geschehen schildert. Es sind Menschen, die – sich auf Gott berufend – die Beschneidung gefordert haben, und zwar vor Tausenden von Jahren, als Kinder (wie z.B. Isaak) noch das Eigentum des Vaters waren und keine eigenen Rechte hatten. Heute ist in Ihrem Heimatland unstreitig, dass ein Kind von Geburt an Träger von Persönlichkeits-, Grund- und Menschenrechten ist. Versuchen Sie einmal, die Dinge neutral, sine ira et studio zu sehen und fragen Sie sich als Jurist, der Sie ja sind, ob die "Glaubensfreiheit", auf die Sie sich berufen, das Recht geben kann, die Rechte anderer zu verletzen! Ich darf doch zwecks Religionsausübung nicht einmal eine fremde Sache beschädigen oder einen banalen Hausfriedensbruch begehen. In eine abgeschlossene Kapelle darf ich nicht einbrechen, auch wenn ich darin beten will. Der fromme Moslem, der im Restaurant sein Abendgebet sprechen will und zwischen anderen Gästen seinen Gebetsteppich ausrollt, muss ihn unverzüglich wieder einrollen, wenn der Hausherr es verlangt. Und da soll der Wille zur Religionsausübung die blutige Verletzung eines wehrlosen Kindes erlauben? Einen Akt, der mit lebensgefährlichen und lebenslangen Folgen das Recht des Kindes auf körperliche Unversehrtheit und sein Recht auf sexuelle Selbstbestimmung missachtet! Denn die Vorhaut ist ein hochsensibler, für das sexuelle Lustempfinden besonders wichtiger Teil des Penis. Kaum ein Erwachsener opfert sie noch, wenn seine Eltern ihm die eigenverantwortliche Entscheidung überlassen haben.
Sie wenden vielleicht ein, der jüdische Säugling und der muslimische Junge seien eben noch nicht mündig und deshalb könnten die Eltern kraft ihres Sorgerechts als Vertreter des Kindes in die Verletzung einwilligen. Ich glaube unterstellen zu dürfen, dass sie den Eltern kleiner Mädchen solche Rechtsmacht nicht zuerkennen würden, auch nicht bei religiöser Motivation und einer im Vergleich zur Vorhautamputation leichter wiegenden Schamlippenverletzung. Jungen sind gleichberechtigt. Sie genießen den gleichen Schutz wie Mädchen. Ob Mädchen oder Junge, medizinisch nicht indizierte Genitalverletzungen müssen den Eltern verwehrt sein. Es anders zu sehen ist ethisch nicht akzeptabel und juristisch unvereinbar mit mehreren grundgesetzlichen Rechten des Kindes, auch dem Recht auf Achtung seiner Menschenwürde. Was daraus für § 1631 d BGB folgt, versteht sich von selbst: Er ist verfassungswidrig.
Der Mainzer Strafrechtsprofessor Jörg Scheinfeld hat es so ausgedrückt: "Die Entscheidung darüber, sich den besonders sensiblen und erogenen Teil seines Geschlechtsorgans abschneiden zu lassen (sei es aus Gründen der Ästhetik, der Hygiene, der Prophylaxe oder für einen Bund mit seinem Gott), betrifft die Intimsphäre der Person und ist eine höchstpersönliche Entscheidung, die nicht in Stellvertretung getroffen werden darf. Da völlig offen ist, ob der spätere entscheidungsreife Erwachsene sich für eine Beschneidung entschiede und diesen Körperteil irgendeinem Interesse opfern würde, drückt die Anmaßung einer Stellvertreterentscheidung nur aus, dass man die – noch reifende – Persönlichkeit des Kindes nicht respektiert!"
Es ist mir unfassbar, wie es einem das deutsche Vaterland verleiden kann, dass viele Staatsbürger nach ernstem Bedenken diesen Standpunkt öffentlich vertreten, die rechtlichen Konsequenzen einfordern und so wehrlose Menschen, vor allem Moslems und Juden, zu schützen suchen.
Mit freundlichen Grüßen
Rolf D. Herzberg
15 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"§ 1631 d BGB ... ist verfassungswidrig."
Die Begründung durch u.a. Herzberg, Kelek, Putzke, Scheinfeld ist selbstverständlich!
W. Hofer am Permanenter Link
Vielen Dank für diesen Kommentar, der das Thema in einer solchen Qualität anspricht. Ich war erschrocken ob der Lektüre des Artikels in der Zeit und der Aussage darin.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Link zu dem Zeit-Artikel?
W. Hofer am Permanenter Link
https://www.zeit.de/2019/19/grundgesetz-verfassung-menschenwuerde-freiheit-gleichheit
...allerdings hinter Paywall bzw. nur für Abonnenten...
Hans Trutnau am Permanenter Link
Danke für die Info, W. Hofer; aber Paywall muss ja nicht sein.
Es ist m.E. eine Schande für Deutschland, wie damals ein angebliches Recht der Religionsfreiheit über das Recht auf körperliche Unversehrtheit gestellt wurde.
Markus am Permanenter Link
Danke und Gratulation zu dieser klar verständlichen und schlüssigen Darstellung der Sachlage. Das Unrecht der Beschneidungen darf nicht totgeschwiegen werden, es muss in der Gesellschaft eine Thema bleiben.
Dagmar Rehak am Permanenter Link
Die Natur schützt besonders wichtige Sinnesorgane mit einer Schutzhaut. Ansonsten verlieren sie ihre Funktion. Neben dem Substanzverlust findet also die Zerstörung eines Sinnesorgans statt.
Schwere Körperverletzungen waren und sind strafbar und werden es immer bleiben. Es entspricht geltendem Recht, sie angemessen zu bestrafen. Ebenso existieren Zivilgesetze, die Eltern verbieten, ihren Kindern zu schaden, andernfalls ihnen das Sorgerecht entzogen wird.
Widersprechende Gesetze sind ungültig.
Man muss schon vorgestern mit der Bestrafung der Täter beginnen. Ein derart schweres Verbrechen hat auf dieser Welt nichts verloren.
Gondel am Permanenter Link
Es ist unerträglich, wie man sich für deutsche Politiker schämen muss.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Lieber Rolf Herzberg,
wir haben bei der MeToo-Debatte freundlich die Klingen gekreuzt.
Hier haben Sie meine 100 prozentige Unterstützung. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich mich 2012 eingehend über das Thema der zwangsweisen Genitalverstümmelung kleiner Kinder informierte. Monate lang, Nächte hindurch, habe ich alles Greifbare gelesen, durch einen dauernden Strom meiner Tränen.
Mir war nicht bewusst, dass dieser barbarische Ritus noch immer praktiziert wird. Ein wenig Nachdenken, so dachte ich, müsste doch ausreichen, Eltern davon abzuhalten, ihrem eigenen Kind wehzutun. Das Kölner Urteil hatte es wieder schmerzhaft ins Bewusstsein getrieben.
Fassungslos las ich die vielen Kommentare, die diesen Rest eines archaischen Kindsopferritus verteidigten. Die nur an ihr eigenes Seelenheil dachten und nicht an den Körper, an die Schmerzen ihres Kindes. Was richtet Religion nur mit uns Menschen an? Diese Eltern lieben ja ihre Kinder - und doch fügen sie ihnen Schmerzen zu und nehmen ihnen einen wichtigen Teil ihrer späteren Sexualität, bevor sie diesen genießen durften.
Im KiKa feierte man "Tahsins Beschneidungsfest" als fröhliche Folklore, Rabbi Ehrenberg sah die Vorhautamputation als "Geschenk Gottes", das man nicht zurückweisen dürfe - nicht bedenkend, dass ein acht Tage altes Baby noch nichts von Geschenken oder einem Gott weiß. Die Regierung Merkel macht Deutschland zur Komikernationen, gegen den Willen von über 70 % der Deutschen.
Ja, da war ich wütend! Und ich musste Steven Weinberg vollumfänglich zustimmen: "Religion is an insult to human dignity. With or without it you would have good people doing good things and evil people doing evil things. But for good people to do evil things, that takes religion."
Vogelfrei am Permanenter Link
Zur Veranschaulichung des Problems zitiere ich auszugweise aus einem mir vorliegenden Schreiben eines deutschen Krankenhauses aus dem Jahr 2018. Bei dem Patienten handelt es sich um einen vierjährigen Jungen:
Therapie: i.v. Antibiotikatherapie mit Cefuroxim.
Anamese und Befund:
X. wurde am 11... in domo beschnitten. Am 13.... erfolgte eine Vorstellung beim Kinderarzt wegen Fieber und Schmerzen am Penis. er habe Cefuroxim angeordnet. Lt. Mutter sind die Schmerzen und das Fieber seitdem rückläufig, jedoch blutet die Wunde immer wieder.
Befund: Penisschaft massiv geschwollen und gerötet, rechts dorsal oberflächliche Wunde immer wieder.
Therapie und Verlauf: X. wurde am 15... stationär auf unsere kinderchirurgische Station aufgenommen. Unter der intravenösen Antibiotikatherapie mit Cefuroxim sowie der Lokalbehandlung mit Serasept-Lösung kam es zu einer Besserung des Befundes. Rötung, Schwellung und die Beschwerden waren retardiert. Wir oralisierten im Verlauf der antibiotischen Therapie auf Panoral.
Im Verlauf trat ein Bläschen am Penisschaft ventralseitig auf, daher begannen wir die lokale Therapie mit Aciclovirsalbe.
Wir können X. am 19... in gutem Allgemeinzustand wieder nach Hause entlassen.
Empfehlung zur weiteren Behandlung:.....
21... WV zur Kontrolle: Lt. Mutter deutlich besser geworden.
Befund: Läsionen am Penisschaft mit reizloser Kruste bedeckt, fast vollständig epithelisiert. Neue Entzündung im Entstehen ventral rechts distaler Schaft. Glans zum Teil mit Kruste bedeckt. Proc.: Bepanthen-Salbe auf die Eichel, sonstige Wunden weiterhin mit Acylovir eincremen. Wiedervorstellung zur Kontrolle in 1 Woche, bei Bedarf vorher...."
Allah ist groß...
Thomas R. am Permanenter Link
"Allah ist groß..."
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Thomas R. am Permanenter Link
Der Fluch der Religionsfreiheit! Wenn man Menschen ausdrücklich gestattet, ggf.
Vogelfrei am Permanenter Link
In unserer Weltgegend haben wir einen jahrhundertelangen Kampf um Trennung von Kirche und Staat wenigstens weitgehend erfolgreich gekämpft, wir haben mit blutigsten Opfern den westfälischen Frieden erkämpft, dann kame
Hans Trutnau am Permanenter Link
Sry, das liest sich an entscheidender Stelle wie "in den ersten Jahrzehnten unserer Republik" war MGM vergleichsweise harmlos.
Hannes Müller am Permanenter Link
Wird der Offene Brief auch in der ZEIT veröffentlicht?