Sollte das Tragen von Kopftüchern in Grundschulen verboten werden? Weder eine pauschale Stigmatisierung noch das bisherige Wegschauen lösen die Probleme. Vielmehr braucht es eine differenzierte Debatte unter besonderer Beachtung des Kindeswohls, meint Jürgen Roth in einem Kommentar.
Eine aktuelle Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Forsa in Berlin spiegelt die Stimmung in der Republik gut wieder. Eine Drei-Viertel-Mehrheit der Befragten will ihr Neutralitätsgesetz behalten, das unter anderem das Tragen religiöser Symbole von Lehrkräften in Grundschulen untersagt. Dieses Gesetz wird von islamistischer Seite seit Jahr und Tag heftig als Rassismus diffamiert. Nur mit Mühe konnte sich die Senatskoalition dazu durchringen, das Tragen religiöser Bekleidung bei Ausübung staatlicher Hoheitsfunktionen nicht doch noch zu erlauben. Stattdessen soll nun eine höchstrichterliche Entscheidung abgewartet werden.
Bemerkenswert, dass 72 Prozent der Anhänger der LINKEN und 62 der grünen Fans hinter dem Gesetz stehen. Das sollte den Verantwortlichen zu denken geben, die immer noch ein naives Bild der Islamverbände haben.
Die Umfrage ist auch ein Erfolg der Initiative Pro Neutralitätsgesetz, die schon vor Jahren von säkularen Grünen und Sozialdemokraten und anderen Menschen aus dem "linksliberalen Spektrum" gegründet wurde. Die Initiative hat sich von Anfang an strikt von allen rechten Tönen distanziert. Ihre Arbeit zeigt, dass religiöse Neutralität des Staates nichts, aber auch gar nichts mit einem vielfach unterstellten "Rassismus" zu tun hat, sondern mit einem klaren Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung.
Differenzierter als beim Lehrpersonal ist das Meinungsbild bei einem Kopftuchverbot für junge Mädchen. Immerhin unterstützen 51 Prozent der Berlinerinnen und Berliner ein solches Verbot nach österreichischem Vorbild. Aufgeschlüsselt nach Parteien und Altersgruppen sind die Aussagen allerdings differenziert. Anhänger*innen der drei Koalitionsfraktionen SPD, LINKE und Grüne sind mit jeweils 55 und 52 Prozent mehrheitlich gegen ein Verbot. Junge Leute unter 30 Jahren lehnen es mit 74 Prozent ab, während die Zustimmung ab 45 Jahren deutlich zunimmt. Die Bereitschaft für ein Verbot ist im Osten Berlins und bei Konfessionfreien stärker ausgeprägt als beispielsweise bei konfessionsgebundenen Menschen der Westbezirke.
Insgesamt wirft die Umfrage über Berlin hinaus ein Schlaglicht auf die allgemeine Stimmungslage – auch in den verschiedenen linken Milieus. Forderungen nach einem ordnungsrechtlich durchzusetzenden Verbot religiöser Bekleidung von Kindern werden deutlich zurückhaltender aufgenommen werden als bei erwachsenen Hoheitsträgern im Dienst. Vielleicht haben sie die höchst unschönen Bilder aus Frankreich vor Augen, als eine vollverschleierte Frau am Stand von Nizza in aller Öffentlichkeit ausgewickelt wurde.
Kopftuch allein greift zu kurz
Das einschlägige und heute weitgehend unbekannte Gesetz über die religiöse Kindererziehung trat 1921 in Kraft, ist also fast so alt wie die Regelungen zum Status der Religionsgemeinschaften in der Weimarer Verfassung. Das Gesetz regelt im Kern drei Punkte:
- Über die religiöse Erziehung bestimmt die freie Einigung der Eltern.
- Es folgen detaillierte Regelungen über Konflikte zwischen Eltern sowie der Stellung von Vormund und Pflegern.
- Ab 14 Jahre steht Kindern das religiöse Selbstbestimmungsrecht zu.
Ansonsten war man damals der Auffassung, dass allein die Eltern wissen, was ihren Kindern gut tut und woran sie mit welcher Inbrunst sie zu glauben haben. Sie durften ohnehin ihre Kinder nach Belieben verprügeln. Zucht und Ordnung sahen noch so aus, dass sich Frau und Kinder der Herrschaft des männlichen Familienoberhaupts zu fügen hatten, sexuelle Verfügbarkeit der Gattin inclusive.
Es erstaunt, dass es bis heute keine gesellschaftliche Debatte über eine Reform dieser antiquierten Gesetzesmumie gibt. Es lässt sich nur mit der generellen Scheu vor einer Auseinandersetzung mit den Kirchen erklären, warum kaum jemand die verantwortungslose Unterbelichtung des Kindeswohls beenden will. Politik und Verbände halten sich hier völlig zurück.
Mit einer Aufnahme der Kinderrechte in das Grundgesetz allein ist es nicht getan. Sie wird zur symbolischen Alibiveranstaltung, wenn Debatten nicht endlich auch das Verhältnis von religiöser Erziehungsgewalt der Eltern und der Würde der Kinder neu durchdacht wird.
Religiöse Kinderfeindlichkeit: nicht auf den Islam verkürzen!
Die politische Debatte über mögliche Grenzen religiöser Kindererziehung sollte sich nicht auf das islamische Kopftuch beschränken. Zum einen wirft unter anderem auch das Gebaren christlich-fundamentalistischer Gruppen grundlegende Fragen auf. Zum andern muss die "Kopftuchdebatte" immer darauf aufpassen, nicht Muslime als Menschen anzugreifen und so ihre gesellschaftliche Stigmatisierung zu befördern. Die gesetzlichen Sonderregelungen für Muslime in Österreich beschreiten genau diesen falschen Weg.
Längst überfällig ist vielmehr eine breit angelegte politische Auseinandersetzung über die Grenzen religiöser Erziehung – auch bei anderen Religionen! Es geht darum, ein grundrechtlich fixiertes eigenständiges Kindergrundrecht der ungezügelten religiösen Beeinflussung durch Erwachsene entgegenzusetzen.
Sanktionen nur mit großer Vorsicht genießen
Die Bewertung bestimmter religiöser Ausdrucksformen sollte sich nicht in typisch deutscher Manier auf ordnungs- oder gar strafrechtliche Mittel verengen. Wir müssen uns vielmehr erst einmal ein umfassendes Bild über die Situation der Kinder in Familien machen, deren gesamtes Leben sich ausschließlich an religiösen Normen ausrichtet und die sich selbst und ihre Kinder in einer Blase vor der "feindich-gottlosen" Umwelt abkapseln. Das Strafrecht ist hier immer die Ultima Ratio des Staates, nicht aber eine praktisch wirkungslose Pappkeule potemkinsche Symbolpolitik.
Viel spannender ist die Frage, ob Kinder wie eh und je Objekte einer unbeschränkten elterlichen Erziehungsgewalt bleiben sollen? Dabei sind die Folgen einer immer weiter fortschreitenden religiösen Ausdifferenzierung der Gesellschaft stärker in den Blick zu nehmen als bislang.
Religiöse Bekleidung: Ein Rückschritt
Jenseits der Verbotsfrage: Das Tragen religiöser Bekleidung bzw. Symbole ist ein gesellschaftlicher Rückfall in die Zeit vor der Aufklärung. Menschen gehörten in früheren Zeiten von Geburt an einer bestimmten Bevölkerungsgruppe an und hatten dies durch ihre Bekleidung kundzutun. Vielerorts wurde geregelt, was Geistliche, Bauern, Handwerker und Adlige zu tragen hatten.
Es gibt zwar bis heute berufsbezogene Bekleidungsvorschriften, bei Gericht, in den Kirchen sowie in öffentlichen und nicht-öffentlichen Einrichtungen mit Publikumsverkehr. Aber das sind im Großen und Ganzen eher Ausnahmen.
Nicht nur hierzulande, auch in anderen westlichen Gesellschaften haben sich die Regelungen über Bekleidung in den vergangenen Jahrzenten auffallend "liberalisiert". Diese westliche Liberalität wird jedoch durch die weltweiten Wanderungsbewegungen nach Europa herausgefordert. In einer vielgestaltigen Gesellschaft mit immer mehr religiös-weltanschaulichen Strömungen mutiert die optische Zurschaustellung der eigenen Religion daher schnell zum Akt der Abgrenzung. Ob dies von den Einzelnen gewollt ist oder nicht, lässt sich ohne eine – unzulässige – Gewissensprüfung kaum seriös und ohne Vorfestlegung erkennen. Meinungsumfragen dringen nicht in die Tiefe vor und geben ein falsches Bild.
Im Ergebnis befördert religiöse Bekleidung das Nebeneinander der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und blockiert deren Miteinander. Entscheidend sind eben nicht die Motive der einzelnen Akteure, sondern das Ergebnis ihres Tuns.
Klar ist aber auch: Jede öffentliche Diskriminierung oder gar ein Übergriff ist eine Straftat, die zu ahnden ist. Kritische Distanz ist das Eine – Feindseligkeit und Gewaltanwendung können damit in keiner Weise gerechtfertigt werden.
Freiheit der Persönlichkeit statt Aus- und Abgrenzung
Zur Freiheit der Person nach Artikel 2 Grundgesetz gehört aber auch die freie Auswahl der Bekleidung. Ob die Oligarchin die Jahresproduktion einer Diamantenmine mit sich spazieren führt; solange sie damit keine Politiker schmiert, kann sie als wandelnder Christbaum flanieren, wie sie will. Hier muss man nicht einmal die Freiheit der Religionsausübung nach Art. 4 GG bemühen.
Ob der Gentleman mit Schirm, Cut und Melone oder die arabische Großmama mit Kopftuch, Nachkommen und Gepäck unterwegs sind; der öffentliche Auftritt ist stets eine persönliche Entscheidung und sollte es auch bleiben. Der Autor würde im Übrigen höchst ungern in einen Land leben wollen, das den Menschen vorschreibt, was sie anziehen dürfen und was nicht.
Wir müssen hier jedoch trennscharf zwischen dem Recht einsichtsfähiger Erwachsener und den Rechten von Kindern unterscheiden. Die grüne Partei hat einen der größten Fehler ihrer Geschichte gemacht, als die bei der angeblich frei bestimmten Sexualität von Kindern deren Abhängigkeit von Erwachsenen ignoriert hat. Wer vor diesem Hintergrund noch heute so tut, als ob kleine Mädchen frei darüber entscheiden könnten, ein Kopftuch zu tragen oder nicht, wiederholt genau den gleichen Denkfehler von damals.
Kinder: Kein schutzloses Objekt elterlichen Glaubenseifers
Grundrechte wie die Religionsfreiheit gelten nie absolut, sondern müssen immer mit den Rechten anderer abgewogen werden. So kann nicht angehen, Kinder einer Gehirnwäsche zu unterziehen und von Gleichaltrigen zu isolieren. Die Rechtsprechung hat sich nach langem Zögern auch dazu durchgerungen, beispielsweise das Verbot einer Teilnahme von Mädchen an Klassenfahrten oder am Schwimmunterricht nicht länger zu akzeptieren. Auch der Boykott öffentlicher Schulen oder des Biologieunterrichts findet vor Gericht kein Verständnis mehr.
Religionsfreiheit ist kein Supergrundrecht. So muss auch die Vollverschleierung an Schulen und Universitäten nicht länger hingenommen werden, wie jüngst das Beispiel aus Schleswig-Holstein zeigt. Ob die Regelung vor Gericht Bestand haben wird, ist noch offen.
Es ist und bleibt in jedem Fall kompliziert und außerordentlich konfliktreich, Religionsfreiheit (der Eltern) und den Kinderschutz angemessen miteinander in ein Verhältnis zu setzen. Das wird auch davon abhängen, wann endlich der Kinderschutz einen eigenständigen Verfassungsrang erhält.
Kollektivrecht vs. individuelles Grundrecht
Auffällig ist, dass sich Religionsgemeinschaften allzu gerne auf das Grundrecht berufen, sich im Rahmen ihrer Glaubensfreiheit an diese oder jene religiöse Bekleidungsvorschrift zu halten. Das islamische Kopftuch ist dabei das wohl bekannteste, aber nicht das einzige Symbol, um das der Streit geführt wird.
Verräterisch dabei ist, dass sich Christentum und Islam vielerorts nach wie vor mit dem auf Schutz des Individuums geprägten Grundrechtsschutz als Errungenschaft von Aufklärung und liberaler Moderne außerordentlich schwertun. Gerade die katholische Kirche hat sich bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil vehement gegen die kodifizierten Menschenrechte gewehrt. So gelten auf dem kleinen vatikanischen Staatsgebiet bis heute weder die Religionsfreiheit noch die Rechte-Gleichheit von Mann und Frau.
Rechte wie die Religions-, Presse- und Meinungsfreiheit wurden aus der Warte eigener Vollkommenheit als Gegensatz zum kirchlichen Wahrheitsanspruch gebrandmarkt. Eine vom lieben Gott "geoffenbarte Wahrheit" sei allein der Kirche anvertraut. In diesem totalitären System braucht es in der Tat keine Meinungs- oder Religionsfreiheit. Der Klerus mit dem unfehlbaren Papst an der Spitze weiß schließlich am besten, was den Menschen zusteht und was nicht, ob sie Schaf sind oder Bürger.
Gerade die orthodox-islamischen Verbände sprechen zwar auch von Religionsfreiheit, sie meinen aber den Absolutheitsanspruch ihrer Religion und deren Führer.
Akzeptiert die Rechtsgemeinschaft einen solchen – totalitären – Anspruch, kann es in dieser Logik kein differenziertes Abwägen der verschiedenen Grundrechtspositionen geben. Der Herrschaftsanspruch der Religion umfasst das gesamte individuelle Leben wie auch die politische Ordnung. Religionsausübung ist vor diesem Hintergrund nicht das Ergebnis einer individuellen Entscheidung, sondern vielmehr Ausdruck eines universellen Gehorsams gegenüber dem Schöpfergott und seinem Bodenpersonal.
Bei einem derart kollektivistischen Verständnis von Grundrechten als Anspruch eines Kollektivs spielt dann auch die Frage der Entscheidungsfreiheit von Kindern keine Rolle. Ihnen bleibt nur die Pflicht, sich wie ihre Eltern und Großeltern einer unantastbaren religiösen Autorität zu unterwerfen; die perfekte Rückabwicklung vom Bürger zum Schaf!
An dieser – vielfach verkannten – Schnittstelle von Individualgrundrecht und kollektiven Herrschaftsansprüchen scheitert regelmäßig der Diskurs über die Stellung von Religion gegenüber Staat und Gesellschaft.
Differenzierte Debatte über die Rechte von Kindern bei religiöser Erziehung erforderlich
Die verwickelten Probleme bei der religiösen Erziehung entziehen sich einer unterkomplexen Betrachtung ebenso wie vorschnelle Verbotsnormen. Ebenso unangebracht ist die Verkürzung der Debatte auf islamische Bekleidung.
Angesichts einer wachsende religiösen Ausdifferenzierung in der Gesellschaft, einer fühlbaren Zunahme "fremder" Religionen sowie der der stetig wachsenden Zahl Religionsfreier müssen Staat und Gesellschaft genauer hinsehen, was mit den Kindern in den diversen religiösen Gemeinschaften passiert. Weder eine pauschale Stigmatisierung noch das bisherige Wegschauen lösen die Probleme.
Wer hier nicht aufpasst, befördert mit totaler "Toleranz" nicht die Freiheit des Menschen, sondern die Herrschaft über Menschen.
25 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
"Differenzierte Debatte ... erforderlich" - bin gespannt, ob die kommt.
Helmut Lambert am Permanenter Link
Trennung von Religion und Staat ist gebongt. Selbst in Berlin wollen 3/4 der Befragten das Neutralitätsgesetz beibehalten.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Ja, das kann ich teilen.
Ich erhoffe (vermutlich vergeblich) ein Kindergrundrecht, das Kinder als eigenständige Personen beschreibt, die in einem Spagat zwischen elterlicher Tradition und rechtsstaatlichen Normen unter Maßgabe der persönlichen Freiheit des Kindes erzogen werden.
Eltern sollen ihre Kinder erziehen. Der Staat soll hier sein Wächteramt nur wahrnehmen, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Es geht also um ein Ausloten dieser beiden Positionen (Elternsorge und Wächteramt) im Licht des Kindeswohls.
Ich picke mal das Beispiel der männlichen Genitalverstümmelung (MGM), verharmlosend als "Beschneidung" tituliert, heraus. Die Entscheidung dazu wurde mit § 1631d BGB unter die elterliche Sorge gestellt, sodass diese zum WOHL DES KINDES einer Amputation von 50 % der Penishaut ihres Sohnes zustimmen, bzw. diese veranlassen dürfen. Dieses angebliche Wohl, das in Wahrheit eine lebenslange Schädigung des Kindes und späteren Mannes darstellt, basiert auf religiösen und anderen Traditionen, die nur den Eltern in ihrem kulturellen Selbstverständnis dienen und nicht den Interessen des Kindes.
Ein Grundrecht für Kinder müsste also sehr genau definieren: Was gehört wirklich zum Wohl des Kindes und was schadet ihm. Alkohol als Beispiel dürfte man einem Zehnjährigen auch nicht verabreichen, weil es verboten ist, egal ob ich als Elternteil das Erziehungskonzept "Konfrontation mit Alkohol" verfolge oder nicht. So sind viele Bereiche des Lebens gesetzlich reglementiert, um Kinder zu schützen, um - dank staatlicher Kontrolle - für sein Wohl zu sorgen.
Dies ist offensichtlich nötig, weil Eltern nicht immer überblicken können, was für ihr Kind das Beste ist. Und manche Eltern verstehen Erziehung nicht als "sich um das Kind sorgen" oder es zu "versorgen", sondern als Freibrief für Züchtigung im eigenen Sinne. Der Staat muss also aktiv mithelfen, dass Eltern stellvertretend für ihre Kinder diese in deren Sinne versorgen und mit dem notwendigen Rüstzeug für ein selbst bestimmtes freies Leben ausstatten.
Bei vielen Faktoren (Schulbildung, ärztliche Versorgung, Alkohol, Rauchen, Drogen, Sex etc.) greift der Staat auch regulierend ein im Interesse des Kindeswohls. Leider versagt er in einem weiteren Bereich des Lebens, der nicht einmal essentiell ist: der Religion. Das Beispiel der Genitalverstümmelung zeigt, dass hier sogar ein deutlich größerer Schaden zu Lasten des Kindes staatlicherseits erlaubt wird als beispielsweise der Zug an einer Zigarette oder ein Glas Bier darstellen.
Würde Religion endlich auch als Privatmeinung der Eltern oder eines Elternteils behandelt, was durchaus aus dem GG abgeleitet werden kann (speziell Art. 4 und 140 GG), müsste der Staat sein Wächteramt auch ausüben, um Kinder zu schützen, wenn sie auf eine unangemessene Weise religiös vereinnahmt werden, z. B. durch den Zwang an religiösen Übungen teilzunehmen. Dies ist ganz klar geregelt im Art. 140 GG, der 138 (4) aus der WRV übernommen hat: "Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden."
Das impliziert sogar, das Eltern ihre Kinder nicht dazu zwingen können, am Religionsunterricht oder an Schulgottesdiensten teilzunehmen. Da ein wirklich freier Wille zur Teilnahme an diesen Veranstaltungen, die eindeutig religiöse Übungen beinhalten, bei Kindern kaum erforscht werden kann, müssten diese religiösen Veranstaltungen an Schulen sogar gesetzlich gestrichen werden.
Mit ein bisschen gutem Willen könnte man in einen Kinderartikel des GG schreiben, dass Kinder gänzlich von religiöser Bevormundung geschützt werden müssen. Ab 14 Jahren - mit Eintritt in die religiöse Mündigkeit - kann sich das Kind wie auch immer (Art. 4 GG !) entscheiden: Für die Religion der Eltern, für eine andere Religion oder für keine Religion. Bis dahin dürften Eltern ihre Kinder nicht zum Tragen religiöser Symbole (auch nicht zu symbolhafter Kleidung, die stigmatisiert) zwingen.
Die Grauzone ist in der Tat die Freiwilligkeit. Aber wie ist es, wenn Kinder freiwillig rauchen oder Alkohol trinken wollen? Auch das toleriert der Staat aus gutem Grund nicht. Und würde ein sechsjähriges Mädchen freiwillig hinter Stoff verschwinden wollen? Was denkt dieses Mädchen über Gleichaltrige, die offen ihr Haar zeigen und unbeschwert spielen dürfen? Ließe sich das Kind zum freiwilligen Tragen auch anders motivieren, als durch den Hinweis der Eltern, die "anderen" Mädchen seien halt unrein und sie kämen nicht ins Paradies, bzw. für jedes sichtbare Haar würde ihnen im Paradies eine Schlange auf dem Kopf wachsen?
Das ist also ein weites Feld, es beginnt aber mit einer klaren Positionierung des Staates den Kindern gegenüber: Ihr Kinder dürft euch frei ohne ideologische Beeinflussung entwickeln. Ihr dürft eure eigenen Interessen entfalten, ihr dürft jeden Beruf ergreifen, für den ihr geeignet seit und ihr dürft heiraten wen ihr wollt, ihr dürft frei eure Sexualität finden und dürft euch von euren Eltern vollständig emanzipieren...
G.B. am Permanenter Link
So wie Sie schreiben wäre dies der Idealfall, leider sind wir hier in der BRD und leider auch weltweit davon entfernt das dies Gesetzliche Norm wird.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Wenn ich diesen Silberstreifen nicht sähe, verfiele ich in tiefe Depression. Doch ich sehe ihn jeden Tag klarer. Er verdrängt das Grau ideologischer Bevormundung.
Dr. Ingeborg Wirries am Permanenter Link
Apropos Schulgottesdienste: Seit einigen Jahren beobachte ich hier (Hannover-Stadt und Umland; in anderen Regionen Deutschlands wird es nicht anders sein - Stichwort "Neuevangelisierung Westeuropas" = das er
Die Lehrkräfte und Schulleitungen machen hier willig mit, organisieren das Ganze gemeinsam mit den Kirchenfunktionären (PastorInnen, Priestern). Ohne Rücksicht auf die SchülerInnen und ihren Eltern, die auf diese subtile Weise gezwungen werden, gegen ihren Willen an diesen religiösen Veranstaltungen teilzunehmen, um "des lieben Friedens" Willen.
Wieso wird diese Praxis von den Schulbehörden zugelassen/geduldet? Warum werden diese Verstöße gegen das Neutralitätsgebot des Staates nicht geahndet??? Warum schreiten die Schulbehörden hier nicht ein??? Das Gesetz steht doch auf ihrer Seite! Also leben wir in Deutschland auch in dieser Frage in der "Kirchenrepublik Deutschland".
Ich meine: In dieser Frage müßten die JuristInnen des ifw tätig werden, Strafanzeigen erstatten, die Schulbehörden zwingen, die staatliche Neutralität an öffentlichen Schulen durchzusetzen!
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Genau so ist es. Das war ja auch Thema bei der Geschichte um die Familie Stier in Hambach, über die ich für den hpd schrieb.
G.B. am Permanenter Link
Fr. Dr. Wirries, Ihr Kommentar findet meine uneingeschränkte Zustimmung, senden Sie doch bitte dieses-ihr Schreiben an alle zuständigen Schulbehörden.
Für freie Bürger in der Zukunft ist die absolute Trennung von Staat und Kirche unerlässlich.
Dr. Ingeborg Wirries am Permanenter Link
Sehr geehrte/r (?) G.B. (?)!
Hingegen: Am ehesten das ifw mit seinem geballten juristischen Knowhow und seiner professionellen Öffentlichkeitsarbeit kann hier mit guten/besten Argumenten die Beendigung dieser unseligen Missionierungspraxis und - vor allem - kann sie die Beendigung des permanenten juristischen Fehlverhaltens der für die öffentliche (!!) Schule Verantwortlichen (SchulleiterInnen, Schulbehörden, Kultusministerium) erwirken/erzwingen.
Deshalb meine Bitte an den/die AdministratorIn des hpd:
Bitte geben Sie das Problemthema "Schulgottesdienste etc. an öffentlichen (!) Schulen" an das ifw weiter zwecks Beratung und Ergreifung geeigneter juristischer Schritte gegen die grundgesetzwidrige Praxis an öffentlichen Schulen.
A.S. am Permanenter Link
Insbesondere Ihrem letzten Satz stimme ich vollständig zu, Herr Roth.
Allerdings habe ich einen etwas anderen Blick auf Religion. Ich bin der Ansicht, dass mit Religion Menschen dressiert werden. Kopftuch tragende Mädchen sind in meinen Augen dressierte Mädchen.
Die Einsicht in die Dressierbarkeit der Menschen, einschließlich der eigenen, ist für unser eitles Ego kränkend. Viele Intellektuelle, die sich mächtig auf ihren Verstand was einbilden, tun sich offenbar besonders schwer mit dieser Einsicht. Darum nochmal:
Menschen sind steuerbar, dressierbar und sogar abrichtbar für bestimmte Aufgaben, z.B. als Selbstmordattentäter oder Missionar. Das Werkzeug für all das ist Religion.
Demokratie mit dressierten Menschen kann nicht funktionieren.
Gut dressierte Politiker - also gottgläubige Politiker - sind nur Marionetten an den Fäden der Pfaffen, Imame, Rabbiner, ...
rainerB. am Permanenter Link
"Die gesetzlichen Sonderregelungen für Muslime in Österreich beschreiten genau diesen falschen Weg."
Wann werden Links-Grüne lernen, die Bewertung von Sachverhalten nicht wechselhaft an einer Urheberschaft auszurichten??
Enrice am Permanenter Link
Deswegen heißt es wahrscheinlich auch lapidar "Islamgesetz", weil es allgemein gehalten ist. ;-)
Könnte es sein, dass der Autor dieses gemeint haben könnte?
Jürgen Roth am Permanenter Link
Da muss ich Ihnen widersprechen. Das von ÖVP und FPÖ Gesetz sieht ein Verbot von Kopftüchern an Grundschulen vor.
rainerB am Permanenter Link
Dann muss ich mich mit meiner Aussage "allg. Gesetz" korrigieren, denn es handelt sich in der Tat um ein Maßnahmegesetz gegen Muslime.
Insofern teile ich weiterhin das Ziel des öster. Gesetzes, wenn auch die rechtl. Umsetzung zu kritisieren ist. Die Betrachtungen des Artikels erhellen zwar den Problembereich, was aber nichts daran ändert, dass sich letztendlich alles auf eine Frage reduziert: Kopftuchverbot an Schulen Ja oder Nein? Man kann berechtigterweise in der Sache ewig differenzieren, damit aber nicht die Ja/Nein-Frage zu einem Kopftuchverbot an Schulen aus der Welt schaffen. Oder will jemand muslimischen Eltern eine freiwillige Selbstverpflichtung antragen?
Und im Falle eines Verbotes per rechtl. einwandfreiem allg. Gesetz, gebe es trotzdem genügend Links-Grüne, die darin eine Diskriminierung von Muslimen sehen und es als "falschen Weg" bezeichnen würden, wie es beim Neutralitätsgesetz so anschaulich zu "bewundern" ist. Es ist aber keine Diskriminierung, sondern eine Gleichverpflichtung zu neutralem Auftreten in Schulen.
Carola Dengel am Permanenter Link
Ich stimme R.B. zu und teile die Position von Terre Des Femmes und verweise auf den Beitrag von Necla Kelek in "Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland". Sie führt u.A.
By the way für das Neutralitätsgesetz stimmen so viele, weil sie das selber angeht, sie möchten nichts vor die Nase gesetzt werden, es geht um Politik.
Bei der Verhüllung sind es ja "die anderen " , geht uns nix an, können denen ja nichts vorschreiben.. und dann das ewige Mantra von "der Religion" , das zur Denklähmung führt.
Brigitte Ernst am Permanenter Link
Was viel stärker und manifester in die Kinderrechte eingreift als das Kopftuch, sind die Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit von Kindern durch die Knabenbeschneidung und die unter Umständen gesundheitsgefährde
Siegfried Schaupp am Permanenter Link
Ich bin der Meinung, dass jegliche religiöse Beeinflussung, vor der Religionsfreiheit (bei uns mit 14) eine Vergewaltigung des Kindes bedeutet.
A.S. am Permanenter Link
Sehr gehrter Herr Schaupp, ich stimme Ihnen bei dem Vorwurf der Vergewaltigung im folgenden Sinne zu: Religiöse Erziehung basiert auf psychischer Vergewaltigung von Kinder-Gehirnen.
David Z am Permanenter Link
"Der Autor würde im Übrigen höchst ungern in einen Land leben wolle, dass den Menschen vorschreibt, was sie anziehen dürfen und was nicht. "
Das tun der Autor bereits. Mit einer Nazibinde am Arm herumzulaufen ist, aus gutem Grund, nicht gestattet. Ebenso wenig ist es gestattet, nackt durch die Stadt zu flanieren. Unsere Freiheiten sind hier also sehr wohl bereits eingeschränkt.
In wie weit man das Kopftuch innerhalb dieser beiden Extrema sieht, ist bekanntermaßen strittig. Nicht strittig sollte für jeden aufgeklärten ehrlichen Menschen die Erkenntnis sein, dass das religiöse Kopftuch im Grundsatz eine schlechte Idee ist und man in einer auf Gleichberechtigung, Individualität, Selbstbestimmung und Inklusion ausgerichteten Demokratie bestrebt sein sollte, zumindest Kinder vor der mit dem Kopftuch verknüpften mittelalterlichen Ideologie zu schützen - und zwar in den Bereichen, in denen der Staat gemäß seinem Selbstverständnis die Ansagen macht, wie Schule und Behörden.
Im übrigen bleibt festzuhalten, dass das Kopftuch für Kinder vor der Pubertät KEIN religiöses Gebot ist (siehe hierzu die Aussagen der ägyptischen Al-Azhar Universität, mit eine der führendsten Autoritäten in religiösen Fragen) und somit bereits außerhalb der juristischen "Religionsfreiheit" liegt - wenn man sich der religiösen Willkürlichkeit nicht gänzlich ergeben möchte.
Michael Hemp am Permanenter Link
Sehr guter Artikel, da hier nicht pauschalisiert oder eine einseitige Betrachtungsweise gepflegt wird, sondern das Thema differenziert und über die "Kopftuchdebatte" hinaus bearbeitet wird.
Frank Frei am Permanenter Link
Was der Mensch tut geht den Staat einen feuchten Kerricht an. Es gibt kein Recht auf Herrschaft.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Da wir in einer DEMOkratie der Staat selbst sind, gingen wir uns also nichts an? Ich fände das sehr bedauerlich...
A.S. am Permanenter Link
Sehr geehrter Herr Roth, haben Sie sich mal mit dem Gedanken auseinander gesetzt, dass "Gott" nur ein Bluff sein könnte?
Immerhin: Dank der Idee von Gott haben die Priester, Imane, Rabbiner etc. eine herausgehobene Stellung in der Gesellschaft inne. Nichts wäre diesen Leuten unangenehmer, als wenn Gott sich als Bluff entpuppen würde.
Eine kleine Geschichte zur Erläuterung:
Es war einmal vor langer langer Zeit ein Stammesführer namens Abraham. Um die Götter wohlgefällig zu stimmen, forderten die abergläubigen Stammesangehörigen regelmäßig, dass der Häuptling seinen erstgeborenen Sohn den Göttern opfern musste.
Abraham jedoch, der erst nach vielen vergeblichen Mühen einen Stammhalter gezeugt hatte, wollte seinen Sohn Isaak nicht opfern. Er zögerte den Ritualmord hinaus in der Hoffnung, noch einen weiteren Sohn zustande zu bringen, leider vergeblich. So wuchs Isaak heran. Doch der gesellschaftliche Druck auf Abraham wurde immer größer.
So sann Abraham auf einen Ausweg und fasste einen mutigen Plan: Er tat so, als wolle er Isaak opfern. Er brachte den Jungen zur Opferstätte und erzählte ihm seinen Plan. Isaak musste versprechen, ja niemandem etwas anderes als genau die Geschichte zu erzählen, die Abraham ihn lehrte: Die aus der Bibel bekannte Geschichte mit dem brennenden Dornbusch. Ein Schaf, das Abraham am Vortage zur Opferstätte gebracht und angebunden hatte, wurde geopfert. Wieder zuhause bei seinem Stamm erzählten Abraham und Isaak die erfundene Geschichte vom brennenden Dornbusch und dem angeblichen Befehl Gottes, Isaak nicht zu opfern.
Das abergläubige Stammesvolk glaubte ich Geschichte. Und da Abraham und Isaak nie etwas anders erzählten, fand die erfundene Geschichte später Eingang ins Alte Testament: Die Geschichte von Abraham, der mittels dem Gottes-Bluff das Leben seines Sohnes Isaak rettete.
Ich halte "Gott" für einen Bluff. Wir sollten uns von den Bluffern, den Klerikern egal welcher Konfession, nicht länger reinlegen lassen.
Der säkulare Staat und die freiheitliche Gesellschaft könnten sich mit dem Vorwurf oder dem laut geäußerten Verdachts des "Gottes-Bluffs" hervoragend gegen religiöse Zudränglichkeiten wehren.
Harald Suski am Permanenter Link
Die komplette Trennung von Staat und Kirchen (wie seit über 100 Jahren im Grundgesetz vorgeschrieben) ist absolut überfällig.
Bei unterschiedlichem "Glauben" kann ja theoretisch am Ende nur einer Recht haben.
Bei noch etwa 500 weltweit aktiven Religionen liegt die Vermutung nahe, dass keine Recht hat.
Unsere Kinder frei und ohne Indoktrination aufwachsen zu lassen, sollte eigentlich die Pflicht von Eltern und Staat sein. Bei den Eltern kann man das nicht erzwingen, aber der Staat kann und sollte hier klare Kinderschutzregeln erlassen.
Wagner am Permanenter Link
Die Prägung eines Menschen auf bestimmte Verhaltensweisen geschieht bekanntlich im Kindes- und frühen Jugendalter. Das wird von den meisten Religionen konsequent ausgenutzt.
Man ist es ja gewöhnt, dass Nonnen und Priester oder Rabbis an der Kleidung erkennbar sind - aber die sind ja auch "Funktionäre" ihrer Glaubensgemeinschaft, und das ist OK, solange dadurch nicht Nachteile für andere erwachsen. Das Kopftuch macht die Mädchen dagegen allesamt zu scheinbaren Funktionären mit dem riesigen Nachteil, dass weder von außerhalb ihrer Gemeinschaft noch von dieser nach außen menschliche Potenziale ausgeschöpft werden können - also ein Verlust für die gesamte Gesellschaft.