Zum 8. Mai

Wurde das deutsche Volk befreit?

BERLIN. (hpd) Am 8. Mai jährt sich die Kapitulation Deutschlands. Dieses Datum beendete im Jahr 1945 - also vor 70 Jahren - den 2. Weltkrieg, der mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939 begann. Der hpd bat einige Autoren, ihre Gedanken zu diesem Tag niederzuschreiben. Den Anfang macht heute Alan Posener, der dem 8. Mai nicht als "Tag der Befreiung" bezeichnen kann.

Vor nunmehr 30 Jahren behauptete Bundespräsident Richard von Weizsäcker Jahren in einer oft als "historisch" bezeichneten Rede zum Kriegsende, der 8. Mai sei auch für die Deutschen ein "Tag der Befreiung".

Das halte ich, mit Verlaub, für eine unhaltbare Aussage.

Befreien kann man nämlich nur Menschen, Völker, Nationen, die unterdrückt wurden. Auschwitz wurde befreit – die Insassen kamen frei. Für viele Deutsche im Widerstand, im Gefängnis, im Exil war der 8. Mai ein Tag der Befreiung oder zumindest der Erleichterung. Frankreich, Belgien, Holland und andere Nationen Westeuropas wurden befreit.

Aber die meisten Deutschen waren nicht unterdrückt worden. Sie machten den "Führer" in freien Wahlen zum mächtigsten Politiker der Republik. Ihre politische, militärische und wirtschaftliche Elite bot ihm die Macht an, die er dann "ergriff". Die Parteien des Bürgertums wählten ihn in offener Abstimmung zum Diktator und lösten sich dann selbst auf.

Die Deutschen haben diese Diktatur und ihre Maßnahmen immer wieder in Volksabstimmungen gebilligt. Die Österreicher bejubelten den "Anschluss". Deutsche und Österreicher hielten ihrem Führer bis zum bitteren Ende die Treue.

Die Deutschen – und die Österreicher – wurden besiegt und besetzt, nicht befreit. Es folgten Demontagen und Demütigungen, Vergewaltigungen und Vertreibungen. Im Osten blieben die Deutschen besetzt und unfrei bis zum wirklichen Tag der Befreiung am 9. November 1989. Im Westen durften sie sich nach und nach selbst vom Nationalsozialismus befreien. Aber der Prozess dauerte lange und ist noch nicht abgeschlossen.

Der Ausgang der Deutschen aus ihrer selbstverschuldeten Niederlage setzte ja voraus, dass sie sich mit ihrer Rolle ehrlich auseinandersetzten. Aber das ist nicht geschehen. Abstrakt verurteilte man den Nationalsozialismus. Konkret war man bemüht, die eigene Rolle zu kaschieren. Das galt auch für die Folgegeneration, die 68er, die zwar lautstark die Väter- und Tätergeneration verurteilte, aber eigentlich nur, um sie in toto politisch desavouieren und den eigenen moralischen Anspruch auf dem "Antifaschismus" begründen zu können. Konkret waren die 68er erstens selten willens, das Schweigen der Väter und Mütter zu hinterfragen und zweitens umso schneller bereit, anderen Mächten – insbesondere den USA und den Israelis – zu unterstellen, sie würden das Gleiche wie die Nazis planen oder tun: "USA – SA – SS!"

In Götz Alys neuem Buch, "Volk ohne Mitte", finden sich viele solche Beispiele. Hans-Magnus Enzensberger etwa, der keinen Unterschied zwischen Adolf Eichmann und dem amerikanischen Mathematiker Hermann Kahn sah, der die Opferzahlen verschiedener Atombombenangriffe durchrechnete – außer dass Eichmann gelegentlich seinen Opfern ins Gesicht sah, also, so muss man annehmen, dem Juden Kahn überlegen war. Enzensberger behauptete, mit seinen Eltern Glück gehabt zu haben, weil sie ja von den Nazis nichts gehalten hätten. Er vergaß zu erwähnen, dass sein Vater seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen war. Beate Klarsfeld, die Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger wegen seiner Nazi-Vergangenheit ohrfeigte, entblödete sich nicht, von ihren Eltern zu behaupten, sie hätten zwar die Nazis gewählt, seien aber keine Nazis gewesen. Von der persönlichen Verstrickung von Günter Grass, Walter Jens, Heinrich Böll und anderen Moraltrompetern jener Zeit ganz zu schweigen.

Oder von Richard von Weizsäcker, der seinen in Nürnberg wegen Beteiligung an Judendeportationen nach Auschwitz angeklagten Vater mit dem Argument verteidigte, er habe von nichts gewusst, und der das Urteil gegen den Vater – fünf Jahre Haft – als "historisch und moralisch ungerecht" bezeichnete.

Richard von Weizsäcker hatte gewiss viele Verdienste. Seine Rede vom 8. Mai 1985 gehört nicht dazu.