Michael Schmidt-Salomon bei der Grundsatzakademie der Grünen

Abschied von der Bevormundung

"Selbstbestimmung" soll zu einem der fünf zentralen Werte im neuen grünen Grundsatzprogramm werden. Der Vorstandssprecher der Giordano-Bruno-Stiftung (gbs), Michael Schmidt-Salomon, sprach hierzu am vergangenen Wochenende als Parteiexterner u. a. neben der Parteivorsitzenden Annalena Baerbock auf der Grundsatzakademie von Bündnis90/Die Grünen. Wir dokumentieren seine Rede, die bei den rund 400 Parteimitgliedern auf unerwartet großen Zuspruch stieß, im Originalwortlaut.

Guten Morgen,

ich möchte mich zunächst für die Gelegenheit bedanken, Ihnen bzw. euch im Rahmen dieser Grundsatzakademie meine Gedanken zum Thema "Selbstbestimmung und Vielfalt" skizzieren zu dürfen. Die Entscheidung, den Begriff der Selbstbestimmung als einen der fünf zentralen Werte des neuen grünen Grundsatzprogramms auszuweisen, halte ich für goldrichtig. Ich hoffe sehr, dass es letztlich auch dabei bleiben wird und es am Ende nicht doch dazu kommt, dass "Selbstbestimmung" durch den vielleicht etwas schillernderen, aber eben auch unklareren und problematischeren Begriff der "Vielfalt" ersetzt wird.

Denn "Vielfalt" ist nur dann eine begrüßenswerte soziale Erscheinung, wenn sie aus der Verwirklichung der individuellen Selbstbestimmungsrechte resultiert. Nur unter dieser Voraussetzung ist sie ein Ausdruck unserer unterschiedlichen individuellen Anlagen und Erfahrungen, Talente, Wünsche und Interessen. Wir sind zwar gleich vor dem Gesetz, aber eben nicht gleich vor dem Spiegel – und das ist auch gut so!

Die Betonung von "Vielfalt" kann jedoch auch Ausdruck einer reaktionären Identitätspolitik sein, in deren Zentrum nicht die Individuen, sondern vermeintlich stabile Kollektive stehen. Aus eben diesem Grund betonen Rechtspopulisten und Rechtsextremisten stets die sogenannte "Vielfalt der Völker und Kulturen", die sie unbedingt erhalten wollen, weshalb sie jede Form einer ethnischen oder kulturellen "Vermischung" als Ausdruck einer "infamen Gleichschaltungspolitik" verdammen.

Das Konzept der Vielfalt kann von reaktionären Kräften auch dazu genutzt werden, die Universalität der Menschenrechte zu untergraben, etwa indem die Ungleichbehandlung von Mann und Frau, die Diskriminierung von Lesben und Schwulen oder Genitalverstümmelungen bei Mädchen und Jungen als Ausdruck "kultureller Vielfalt" gepriesen werden.

Nicht zuletzt muss man darauf hinweisen, dass Vielfalt häufig bloß das Ergebnis der ungleichen Verteilung von Lebens-Chancen ist. Die Pluralität der Lebensstile auf diesem Globus resultiert zu einem nicht unwesentlichen Teil daraus, dass viele Menschen einen nur sehr eingeschränkten Zugang zu adäquater Nahrung, Medizin und Bildung haben, dass sie von religiös-politischen Ideologien ausgegrenzt werden oder unter geradezu toxischen Umweltbedingungen leben müssen. Auch diese Formen von "Vielfalt" dürften sicherlich nicht der Agenda einer grünen Partei entsprechen.

Menschenrechte im Fokus der Politik

All diesen Problemen kann man leicht entgehen, indem man primär von "individueller Selbstbestimmung" statt von "kultureller Vielfalt" spricht. Auf diese Weise rückt man zudem den normativen Kern der UN-Menschenrechtserklärung wie auch des deutschen Grundgesetzes in den Fokus der Politik, nämlich, dass alle Menschen "frei und gleich an Würde und Rechten geboren" sind und der Schutz der unantastbaren Menschenwürde die "Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" ist.

Zwar haben einige meiner Philosophie-Kollegen den Begriff der "Menschenwürde" als nichtssagende Leerformel (mit Doppel-e) kritisiert, bei genauer Betrachtung zeigt sich aber, dass gerade die weitgehende Unbestimmtheit des Würde-Begriffs der eigentliche Clou unserer Verfassung ist. Warum? Nun, weil man die Würde der Bürgerinnen und Bürger nicht über deren Köpfe hinweg definieren darf! Vielmehr gilt: Die Würde des Einzelnen ist dadurch bestimmt, dass der Einzelne über seine Würde bestimmt – nicht der Staat, nicht die Familie und auch nicht ein wie auch immer geartetes religiöses, politisches oder ethnisches Kollektiv.

Unsere Rechtsordnung orientiert sich am Individuum – nicht an der Gruppe. Zwar weist sie auch Kollektiven Rechte zu, aber diese sind immer vom Individuum her gedacht. Und es ist wahrlich kein Zufall, dass die diversen Feinde der offenen Gesellschaft exakt den umgekehrten Weg gehen, also das Kollektiv an die erste Stelle setzen und von ihm aus das Individuum definieren. So sehr sich christliche Abendlandretter, Nationalisten und Salafisten in ihren Ansichten auch unterscheiden, in diesem Punkt zeigt sich eine große Gemeinsamkeit: Sie alle reduzieren die Individuen auf vermeintlich stabile Gruppenidentitäten und verteidigen ihr angestammtes kulturelles Getto reflexartig gegen das vermeintlich Feindliche des "Fremden". Ihre Aversion kann sich dabei, je nach Gusto, gegen "die Ausländer", "die Flüchtlinge", "die Juden", "die Christen", "die Ungläubigen" oder "die Muslime" richten, die gemeinsame Wurzel all dieser Formen von "gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit" ist ein hartnäckiger Kollektivismus-Wahn, der Gruppenidentitäten unterstellt, die es in Wirklichkeit gar nicht gibt.

Ich meine, dass eine progressive politische Partei dieser brandgefährlichen Perspektivverengung auf die eigene Gruppe mit allergrößter Entschiedenheit entgegenwirken sollte. Und das verlangt, dass man die Ebenen unterhalb wie oberhalb der Gruppeebene fokussiert, also a) die Selbstbestimmungsrechte des Individuums sowie b) die Idee der EINEN Menschheit. Auf kurze Slogans heruntergebrochen hieße das beispielsweise "Selbstbestimmung statt Gruppenzwang!" sowie "Weltbürger statt Reichsbürger!"

Konsequenzen für das neue Grundsatzprogramm

Im aktuell noch gültigen grünen Grundsatzprogramm von 2002 lesen wir gleich zu Beginn: "Im Mittelpunkt unserer Politik steht der Mensch in seiner Würde und Freiheit." Diese markante Formel wurde erfreulicherweise auch in den Zwischenbericht vom März 2019 aufgenommen, wobei – ebenfalls erfreulicherweise – hervorgehoben wurde, dass sich die vier anderen zentralen Werte des Grundsatzprogramms (Ökologie, Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden) letztlich aus dem individuellen Selbstbestimmungsrecht ableiten lassen. Rein logisch betrachtet müsste daher die Selbstbestimmung am Anfang der grünen Werte-Skala stehen, aber ich kann nachvollziehen, dass man dies einer Partei, die aus der Ökologie- und Friedensbewegung erwachsen ist, möglicherweise nicht so leicht vermitteln kann.

Wichtiger als diese Rangfolge ist ohnehin, dass das Grundsatzprogramm tatsächlich bis in die Details hinein den zentralen humanistischen Anspruch widerspiegelt, dass "der Mensch in seiner Würde und Freiheit" im Zentrum grüner Politik steht. Dazu wäre Vieles zu sagen. Aus Zeitgründen muss ich mich hier auf zwei Punkte beschränken, die, wie ich meine, in dem Zwischenbericht leider weitgehend untergegangen sind:

Kinderrechte:

In Artikel 1 der UN-Menschenrechtserklärung heißt es, wie gesagt, dass alle Menschen "frei und gleich an Würde und Rechten geboren" sind. Die individuellen Selbstbestimmungsrechte gelten daher prinzipiell (natürlich unter Berücksichtigung des jeweiligen Entwicklungsstandes) ab der Geburt – nicht erst ab dem Eintritt ins Erwachsenenalter. Leider aber werden Kinder und Jugendliche hierzulande oft nicht als eigenständige Individuen wahrgenommen, sondern als Träger einer wie auch immer gearteten Familienidentität. Dies wird tragischerweise dadurch begünstigt, dass sie bislang in der Verfassung nicht explizit als Rechtssubjekte auftauchen, sondern bloß als Rechtsobjekte, über die ihre Eltern Verfügungsgewalt haben. Die Initiative "Kinderrechte ins Grundgesetz" möchte dies ändern und die "freie Entfaltung der Persönlichkeit des Kindes" als "vorrangiges Staatsziel" im Grundgesetz verankern. Hierüber und über die Konsequenzen, die dies für unsere Sozial- und Bildungssysteme haben müsste, sollte man, wie ich meine, etwas Substanzielles im grünen Grundsatzprogramm lesen können.

Weltanschauliche Neutralität:

Nur ein Staat, der das Gebot der weltanschaulichen Neutralität beachtet, kann Menschenrechte in vollem Umfang garantieren, da er niemanden aufgrund seiner religiösen oder nichtreligiösen Weltanschauung diskriminiert oder privilegiert. Das Recht, das eigene Leben nach den eigenen weltanschaulichen Überzeugungen führen zu können (sofern dies nicht die Rechte Dritter verletzt), gehört gewissermaßen zum Markenkern der Menschenrechte. Wirksam schützen lässt sich dieses Recht nur dann, wenn der Staat als unparteiischer Schiedsrichter auf dem Spielfeld der Religionen und Weltanschauungen auftritt und die für alle geltenden Spielregeln konsequent durchsetzt.

Zwar haben die Grünen ein bemerkenswertes Positionspapier zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit veröffentlicht, doch in dem aktuellen Zwischenbericht findet sich kaum etwas davon. Ich kann an dieser Stelle nur dringend davon abraten, das heiß umkämpfte Gebiet der Religionspolitik – insbesondere die Frage nach einem vernünftigen Umgang mit dem politischen Islam – den Rechtspopulisten zu überlassen! Vielmehr sollte gerade eine moderne grüne Partei, die für die Würde und Freiheit jedes einzelnen Menschen eintritt, in aller gebotenen Deutlichkeit herausstellen, dass selbstverständlich auch die Religionen nicht über dem Gesetz stehen und dass Grundrechtsverstöße selbstverständlich auch dann mit aller Schärfe geahndet werden müssen, wenn sie von Angehörigen gesellschaftlicher Minderheiten begangen und mit jahrhundertealten religiösen oder kulturellen Traditionen begründet werden.

Fazit

Ich bin überzeugt, dass eine stärkere Betonung der Selbstbestimmungsrechte das grüne Profil schärfen und allen Kritiker*innen den Wind aus den Segeln nehmen würde, die meinen, die Grünen seien letztlich nichts anderes als eine "paternalistische Bevormundungspartei". Mit dem Fokus auf die Selbstbestimmungsrechte könnten die Grünen auch ein starkes Gegengewicht zu jenen politischen Kräften bilden, die auf die eine oder andere Weise die Werte der Freiheit und der Gleichheit gegeneinander ausspielen, obgleich sie sich in Wahrheit gegenseitig bedingen, wie schon Artikel 1 der Menschenrechtserklärung zeigt. Kurzum: Durch eine stärkere Akzentuierung der Selbstbestimmungsrechte hätten die Grünen nichts zu verlieren, aber durchaus gute Chancen, vielleicht nicht gerade "die Welt", doch immerhin die nächsten Wahlen zu gewinnen…