Selbstbestimmt Sterben – eine Geschichte

rudi_k.png

Prof. Dr. Fritz K. beim Aufstieg von Koblenz zu seiner Wohnung am Hang.
Prof. Dr. Fritz K.

Wie erzählt man von einem Leben, das bewusst zu seinem Ende geführt wurde? In diesem ersten Teil seiner autobiographischen Reflexion zeichnet Prof. Dr. Fritz K. den Weg nach, der ihn – mit 82 Jahren, bei klarem Verstand – zu der Entscheidung führte, sein Leben selbstbestimmt zu beenden. Dieser Text ist sein Versuch, die Gründe seines Entschlusses offen, kritisch und ohne Sentimentalität zu erzählen – für sich selbst und für diejenigen, die verstehen möchten, wie ein solcher Entschluss reift.

Am 1. September 2025 bin ich selbstbestimmt gestorben. Ich habe die vielfältigen Informations- und Kinoveranstaltungen von Reinhard Konermann als Kontaktstellenleiter der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) Südwest sehr geschätzt und unterstützt. Gerne bin ich seiner Bitte nachgekommen, meine Geschichte bis zum letzten Tag aufzuschreiben. In diesem ersten Teil geht es um meine Lebenserfahrungen bis zum Entschluss, mein Leben selbstbestimmt zu beenden.

Im 82. Lebensjahr kann man sterben, finde ich. Und wenn die intellektuelle Kraft der Selbstbestimmungsfähigkeit einem noch gegeben ist, wird es Zeit über den Tod und die Form, wie man sterben möchte, nachzudenken und zu handeln. Dies lässt das Rechtssystem einer zunehmend aufgeklärten, liberalen und humanen Gesellschaft und ihrer Politik in Deutschland inzwischen zu.

Ich habe am 1. Juli 2025 meinen Antrag auf Vermittlung einer Freitodbegleitung an die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben gestellt.

So möchte ich hier meinen Entschluss im Sinne einer Selbstreflexion noch einmal kritisch einer biographischen, psychologischen und auch ein wenig philosophischen "Nagelprobe" unterziehen, indem ich mir und einer interessierten Öffentlichkeit einige wesentliche Aspekte meiner persönlichen Lebensgeschichte erzähle.

Ich bin mitten im Krieg geboren. 1943, als mein Vater zur Beerdigung seiner Schwiegermutter Feldurlaub bekam, ist mitten in einer Hungersnot die Zeugung geschehen. Die Geburt dann am 11. Dezember 1943 war überschattet von der Ermordung eines meiner zwei Onkel durch Partisanen auf dem Balkan und ich wurde daraufhin mit seinem Vornamen "geehrt" (?), nein, eher "belastet". In einem Feldpostbrief vom 5. Dezember 1943, wenige Tage vor meiner Geburt, wurde mein Vater an der Front in Griechenland mit einem Feldpostbrief über den grauenvollen Tod informiert und euphemistisch gebeten, "dieses Ihren Eltern in einer anderen Form mitzuteilen."

Ich war ein schwächliches Baby, unterernährt, kränkelnd, rachitisch… Es gab nicht das nötige Essen zu kaufen und unser Garten gab auch wenig her. Im kleinen Krämerladen meines Großvaters gab es inzwischen keine Lebensmittel mehr. Meine Mutter setzte mich auf einen Bollerwagen und wanderte mit mir zu Fuß über den Berg ins Markgräflerland zum "Hamstern". Bett- und Tischwäsche, Silberbesteck und alles, was man nicht mehr unbedingt zum Leben, besser gesagt zum Überleben brauchte, wurde den Bauern zum Tausch gegen Kartoffeln, Brot, Butter und andere Naturalien angeboten. Man muss sich das heute vorstellen: Runde zehn Kilometer hin und wieder zurück, zu Fuß, bei Wind und Wetter, bei Eis und Schnee, Hauptsache man bekam etwas zu essen. Das ganze Zeug, was man damals noch "Aussteuer" nannte, wurde "verhamstert". Weg damit, mit Silberbesteck, den Damasttischdecken, den Paradekissen. Erst kommt das Fressen! Die Männer waren im Krieg oder schon in der Gefangenschaft, wenn sie denn noch lebten. Und die Frauen sorgten für das Überleben ihrer Kinder. Mein Vater war von drei Brüdern der einzige, der aus dem Krieg zurückkam.

Ich war lange ein – wie man damals sagte – "Bettnässer". "Er hat halt eine schwache Blase", pflegte sich meine Mutter entschuldigend gegenüber ihren Freundinnen zu rechtfertigen. Und vielleicht lag's ja auch daran, dass die Toilette – kann man dieses Plumpsklo überhaupt so nennen – eine halbe Treppe tiefer, außerhalb der Wohnung lag und mir mit seinem stinkenden großen Rohr unter der Holzpritsche Angst einjagte. Und heute – Ironie des Schicksals – habe ich tatsächlich eine schwache Blase und muss den Urin über einen Katheter loswerden.

Von der Mittleren Reife zum Universitätsprofessor

Trotz meiner anfänglichen Vulnerabilität hatte ich das Lebensglück guter Gesundheit und einer erfolgreichen beruflichen Karriere – allerdings begleitet von heftigen Schicksalsschlägen, die ich hier auch kurz beschreiben will. Nach Volksschulbesuch und Mittlerer Reife, erfolgreichem Berufsabschluss als Versicherungskaufmann gelang es mir, über eine Begabtenprüfung ohne Abitur an einer kleinen Pädagogischen Hochschule zu studieren und Lehrer zu werden. Und daran schloss sich eine geradezu "bilderbuchhafte" akademische Karriere an: Lehramt für Grund- und Hauptschulen, Lehramt für Sonderschulen, Diplom in Erziehungswissenschaft, Promotion und Habilitation in Pädagogik und schließlich nach allen Stufen der akademischen Möglichkeiten, vom Assistenten über den Akademischen Direktor bis zum Universitätsprofessor der damaligen Besoldungsgruppe C4 (früher Ordinarius genannt).

Meine akademische Karriere ermöglichte es mir schon 1980 und später in den 1990er Jahren besonders intensiv die Integration behinderter Kinder in das "Regelschulsystem" voran zu treiben. So begleitete ich einen Schulversuch an 16 Grundschulen des Landes Rheinland-Pfalz wissenschaftlich. Und an der Universität Koblenz wandelte ich das "Seminar Allgemeine Didaktik" mit Unterstützung des damaligen Präsidenten Hermann Saterdag (1945–2013) in ein "Institut für integrative Bildung" um.

Jetzt seit 2009 im Ruhestand, begebe ich mich in Würde in die Bedeutungslosigkeit und bemühe mich, den Zeitpunkt für ein selbstbestimmtes Sterben nicht zu verpassen. Denn die Selbstbestimmungsfähigkeit kann sehr schnell verlorengehen, wie ich es bei meinem Bruder erleben musste. Mein acht Jahre älterer Bruder verbrachte die letzten Jahre im Zustand einer "paranoiden Schizophrenie" (so ein psychiatrischer Gutachter) und starb unter dem Einfluss von zwei "Erbschleicherinnen", die sich an seinem Vermögen vergriffen, in einem Pflegeheim einen elenden Tod. Für sein selbstbestimmtes Sterben vermochte er nicht mehr zu sorgen, obwohl er dies immer vorhatte – es war zu spät.

Wann also ist der richtige Zeitpunkt für die Entscheidung zu einem selbstbestimmten Tod? Antwort: Eben dann, wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit und die damit verbundene Testierfähigkeit noch vollständig vorhanden ist, aber droht, verloren zu gehen.

Abnehmende Fähigkeiten

Seit dem Beginn des 81. Lebensjahres spüre ich deutlich das, was man früher "Gebrechlichkeit" nannte und in der internationalen medizinischen Klassifikation "Frailty" genannt wird: ein Zustand reduzierter körperlicher – und ja, auch geistiger – Reserven.

So hat sich meine seit über 15 Jahren vorhandene Hörbehinderung trotz bester Hörgeräte dramatisch verschlimmert, sodass ich mich im Fachdiskurs wie in der alltagssprachlichen Kommunikation oft isoliert fühle und meine Gesprächsbeiträge aufgrund akustisch falsch- oder unverstandener Begriffe als merkwürdig oder verfehlt wahrgenommen werden.

Ich verzichte inzwischen sehr bewusst aufs Autofahren, habe meinen Wagen freiwillig abgegeben. Dies war für mich auch völlig unproblematisch, weil ich seit meiner Jugend ein leidenschaftlicher Fußgänger und Wanderer bin. Ich mache täglich meine Einkäufe zu Fuß durch einen wunderschönen Waldpfad zum Supermarkt, um mich – allein lebend – zu versorgen. Und nun entwickelt sich infolge einer zunehmenden Arthrose eine Gehbehinderung, was für mich ein Vorzeichen einer "persönlichen Katastrophe" ist. Mich nur noch eingeschränkt zu Fuß bewegen zu können, ist für mich – ich bezeichne mich in alter philosophischer Tradition als "Peripatetiker" – eine grauenvolle Vorstellung.

Wann also ist der richtige Zeitpunkt für die Entscheidung zu einem selbstbestimmten Tod? Antwort: Eben dann, wenn die Selbstbestimmungsfähigkeit und die damit verbundene Testierfähigkeit noch vollständig vorhanden ist, aber droht, verloren zu gehen.

Durch erhebliche Plaques in der Halsschlagader droht nach Diagnose meines Kardiologen die Gefahr einer Carotisstenose, die zu Ausfällen im Gehirn führen kann. Dies will ich keinesfalls erleben müssen.

Inzwischen bemerkte ich Unsicherheiten der rechten Hand beim Schreiben. Sollte dieses Problem zunehmen, ist das für mich eine nicht hinzunehmende Einschränkung meiner intellektuellen Bedürfnisse.

Und nun kommt eben die eingangs schon erwähnte Diagnose der aktuellen Schädigung meiner Harnblase hinzu, die meinen Urologen sofort zwang, mir einen Katheter zu legen, den ich alle paar Wochen wechseln muss und ohne den ich langfristig nicht mehr leben kann. Dies ist für mich sowohl mechanisch wie auch psychisch eine ebenfalls gravierende Einschränkung meiner Lebensqualität. Und schon zweimal führte das Versagen des Verschlusses des Katheters zu peinlichen Zwischenfällen in öffentlichen Situationen.

Grundsätzlich möchte ich wegen meines fortgeschrittenen Alters an meinem Körper keine "Reparaturen" vornehmen lassen. Die heute möglichen durchaus segensreichen medizintechnischen Maßnahmen sollten nach meiner Auffassung vorrangig dem Erhalt jüngeren Lebens zugute kommen.

Ich lebe nach zwei Ehescheidungen alleine in einer schönen kleinen Einlieger-Mietwohnung auf der rechten Rheinseite von Koblenz. Sollte ich darin nicht mehr selbstbestimmt leben können, müsste ich sie wohl verlassen und da käme dann nur ein Altersheim in Frage, weil wohl heute kein Vermieter mit einem über Achtzigjährigen einen Mietvertrag abschließen würde.

Mein ältester Sohn starb 1997 mit 29 Jahren durch Suizid, mein jüngster Sohn starb ebenso mit 29 Jahren 2016 bei einem selbstverschuldeten Autounfall.

Meine Tochter, geboren 1972, hat ihre Beziehung zu mir, ohne Gründe zu nennen, abgebrochen.

So möchte ich in freiem Willen durch einen humanen und unsentimental gestalteten, ärztlich unterstützten Suizid selbstbestimmt sterben und in die Geborgenheit des Seins fallen.

Wird fortgesetzt

Dieser Text wurde zuerst in der Zeitschrift Humanes Leben Humanes Sterben 2025-4 der Deutschen Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) veröffentlicht.

Unterstützen Sie uns bei Steady!