"Die Antisemitismus-Geschichte der eigenen Religion aufarbeiten"

Islamische und christliche Theologen sehen Potenziale gegen Antisemitismus in Christentum und Islam. Sabine Leutheusser-Schnarrenberger fordert Kirchen zur Reflexion ihrer Geschichte auf und der Theologe Mouhanad Khorchide plädiert für mehr Bildungsarbeit für junge Muslime.

Der islamische Theologe Prof. Dr. Mouhanad Khorchide vom Exzellenzcluster "Religion und Politik" der Uni Münster beklagt einen Mangel an innermuslimischen Debatten über Antisemitismus. "Viele Flüchtlinge aus arabischen Ländern sind mit antisemitischen Narrativen aufgewachsen und bringen diese Vorstellungen mit hierher", sagte er Mitte Dezember in Münster. "Sie wissen auch fast nichts über den Holocaust. Es hilft aber nicht, mit dem Zeigefinger auf sie zu zeigen." Vielmehr brauche es Bildungsarbeit gerade für junge muslimische Geflüchtete. "Wir sollten ihnen Räume zur Begegnung mit der Geschichte eröffnen." Der Wissenschaftler sprach auf einem Podium über "Potenziale gegen Antisemitismus im Islam und Christentum" des Vereins "begegnen – Für Toleranz in NRW" in Kooperation mit dem Exzellenzcluster und dem Zentrum für Islamische Theologie der WWU.

Die Antisemitismusbeauftragte des Landes NRW, Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, rief Kirchen und Religionsgemeinschaften auf, sich kritisch mit Ursachen des Antisemitismus und mit ihrer eigenen Geschichte zu befassen. Das hätten sie lange nicht getan. "Dabei können die Kirchen und Religionsgemeinschaften zur Meinungsbildung und zum gegenseitigen Verständnis beitragen. Das ist gerade in der heutigen Zeit notwendig, in der viele Menschen populistische Haltungen annehmen." Auch der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Münster, Sharon Fehr, plädierte für eine verstärkte Auseinandersetzung der Kirchen mit dem Thema Antisemitismus. Es sei verkürzt, die heutige Renaissance dieses Phänomens allein auf die Zuwanderung von Geflüchteten aus arabischen Ländern zurückzuführen. Die Wurzeln lägen historisch viel tiefer.

Der katholische Theologe und Kirchenhistoriker Prof. Dr. Hubert Wolf und der evangelische Theologe und Sozialethiker Prof. Dr. Arnulf von Scheliha legten anhand historischer Fallbeispiele und religiöser Textstellen dar, wie und warum sich der Antisemitismus in den christlichen Kirchen gehalten habe. Hinter ihnen liege eine lange "Lerngeschichte", in der auch innerkirchlich viel gerungen worden sei. Das gelte es weiter aufzuarbeiten. Beide Forscher zeigten sich überzeugt, dass die kritische Auseinandersetzung der Kirchen mit ihrer Antisemitismus-Geschichte zur Überwindung des heutigen Antisemitismus beitragen könne. Hubert Wolf hob die Bedeutung der öffentlichen Vermittlung theologischer Erkenntnisse hervor. Religionen könnten nur zu gegenseitigem Verständnis gelangen, wenn sie genug übereinander wüssten.

Der Sprecher des Exzellenzclusters, Rechtshistoriker Prof. Dr. Nils Jansen, betonte in seinem Grußwort die Notwendigkeit, die politischen Dynamiken des Religiösen zu erforschen. Das habe angesichts von Gewaltakten wie dem antisemitisch motivierten Anschlag im Oktober in Halle wieder an Aktualität gewonnen. "Wir möchten verstehen, wie und warum Religion und Glaubensüberzeugungen politische Prozesse in besonderer Weise dynamisieren, also beschleunigen, aber auch umsteuern und bremsen können, worin also ihr Potential liegt, Konflikte anzuheizen oder zu beruhigen." Der Exzellenzcluster lege darauf in den kommenden Jahren seinen Forschungsschwerpunkt. Moderatorin war die WDR-Journalistin Christina-Maria Purkert. (vvm/maz)

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