Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner heutigen Entscheidung § 217 StGB für nichtig erklärt. Führende Politikerinnen und Politiker wie Angela Merkel und Jens Spahn müssen sich nun vorwerfen lassen, 2015 für ein Gesetz gestimmt zu haben, das nicht auf dem Boden der Verfassung steht. Ein Bericht aus Karlsruhe von Michael Schmidt-Salomon.
Nach der mündlichen Verhandlung im April 2019, die als eine "Sternstunde des Bundesverfassungsgerichts" gewertet wurde, waren die Erwartungen hochgeschraubt – und sie wurden nicht enttäuscht: Die Urteilsverkündung zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB, die Andreas Voßkuhle um 10.00 Uhr heute Morgen eröffnete, wurde zu einer Lehrstunde in Sachen Grundrechte: Die Richterinnen und Richter klärten die anwesenden PolitikerInnen darüber auf, dass das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung am Lebensende nicht zur Disposition gestellt werden dürfe. Das 2015 beschlossene "Gesetz gegen die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" sei aufgrund seiner "Autonomiefeindlichkeit" verfassungswidrig und damit nichtig.
Die VerfassungsrichterInnen betonten, dass das Grundgesetz vom autonom entscheidenden Menschen ausgehe. Dieser habe das Recht, über sein Leben und Sterben selbst zu bestimmen. § 217 StGB habe dies de facto verhindert, da sterbewillige Menschen nach der Verabschiedung des Gesetzes keine kompetenten Helfer mehr finden konnten. Zwar habe der Staat das Recht, Suizidprävention zu betreiben, aber er dürfe nicht in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen eingreifen. Auch dürfe der Staat nicht materiell definieren, unter welchen Bedingungen ein Sterbewunsch legitim beziehungsweise illegitim sei. Hierüber dürfe nur das eigenverantwortliche Individuum selbst entscheiden. Einengende Kriterien wie etwa das Vorliegen einer "unheilbaren Krankheit" dürfe der Staat nicht zur Voraussetzung machen.
Ein historisches Urteil, mit dem der scheidende BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle sich und seinen KollegInnen auf der Richterbank ein Denkmal gesetzt hat.
In ihrer Urteilsbegründung mahnten die Richterinnen und Richter auch eine Neufassung der ärztlichen Berufsordnungen und des Betäubungsmittelgesetzes an, die in ihren gegenwärtigen Fassungen "verfassungsrechtlich bedenklich" seien. Mit dem heutigen Urteil ist der Rechtszustand von 2015 wiederhergestellt – mehr noch: Nie zuvor hat sich ein deutsches Gericht so klar zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über sein eigenes Leben und Sterben bekannt. Ein historisches Urteil, mit dem der scheidende BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle sich und seinen KollegInnen auf der Richterbank ein Denkmal gesetzt hat.
11 Kommentare
Kommentare
David See am Permanenter Link
maw wir sind kein christliches Land mehr, zumindest ist ein erster großer schritt getan, jetzt muss nur noch das Gesetz folgen.
Dr. Martin Felmy am Permanenter Link
der Paragraph 217 ist mit dem Urteil abgeschafft, die frühere Rechtslage ist damit wieder in Kraft. Ein neues Gesetz dürfte unter Druck der Kirchen und der Religioten wieder Einschränkungen bringen.
So schnell geben die, die uns in Leben und Tod bevormunden wollen nicht auf. Der Kampf ist noch nicht zu Ende, da bin ich mir sicher. Immerhin ein kleiner Sieg.
Hans Trutnau am Permanenter Link
In der Tat ein kleiner Sieg, aber der "Kampf ist noch nicht zu Ende" - garantiert!
Es klingt grotesk - ist aber eines Rechtsstaats unwürdig!
pi am Permanenter Link
Christian Arnold hätte sich so gefreut! Sein Anliegen und Handeln ist damit voll und ganz rehabilitiert und seine Stellungnahme war sicher ein wichtiger Baustein.
Alfred Farkas am Permanenter Link
Wahrlich ein historisches Urteil ...
Fromme und Frömmste werden Bauklötze staunen, Ewiggestrige nach Luft schnappen, Religioten auf die Barrikaden steigen ...
Forget religion, don't forget humanity!
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Forget religion, don't forget humanity: Ja, ja, und nochmals ja, das ist der einzig richtige Weg für die Menschheit, und so steht es auch auf meinen Plakaten, welche ich ständig in unserer
Thomas Spickmann am Permanenter Link
Schmidt-Salomon hat Ende 2015 auf hpd.de geschrieben: “Dieses Gesetz wird vor Gericht keinen Bestand haben.” Jetzt dürfen wir erleben, dass er Recht hatte.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Das ist in der Tat ein großartiger Erfolg!
Auch dank der großartigen Unterstützung der gbs vor Ort!
Dr. Ingeborg Wirries am Permanenter Link
Nun also hat "auch" bzw. sogar das Bundesverfassungsgericht erkannt, dass dieser Paragraf verfassungswidrig ist. Das war doch aber schon 2015 klar. D.h.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Ja klar, Ingeborg, war das schon 2015 klar.
Aber gut Ding braucht halt Weile...
Katrin Becker am Permanenter Link
Ich danke dem Bundesverfassungsgericht, Sterbevereinen, Kämpfern und Engagierten.
Leider kommt dieses Urteil für meine Mutter zu spät.
Ihren mehrfach geäußerten Wunsch nach Erlösung kam man nicht nach. Sie starb qualvoll an einem Multiplen Myelom.