Erstmals fand die seit Monaten wieder legale Suizidhilfe durch Organisationen wie den Verein Sterbehilfe in einer Senioreneinrichtung statt – mit Duldung der Leitung. Das neue Selbstbestimmungsrecht der Bewohner*innen von Pflegeheimen scheinen einige Marktführer unter den Betreiberkonzernen respektieren zu wollen. Sterbehilfe-Gegner*innen formieren sich inzwischen jedoch für einen neuen Paragraph 217 im Strafgesetzbuch.
Der Verein Sterbehilfe (vormals: Sterbehilfe Deutschland) hat erstmals einen Altenheimbewohner bei der freiverantwortlichen Selbsttötung unterstützt. "Vor wenigen Tagen haben wir den sehnlichsten Wunsch des Mannes erfüllt und ihn beim Suizid begleitet, in seinem Apartment, das seit vielen Jahren sein Zuhause war", teilte Vereinspräsident Roger Kusch dem rbb in einem Interview im Juni mit. Er selbst hatte die ärztlich verschriebenen Mittel dem geistig klaren Suizidwilligen in sein Zimmer gebracht, wo dieser den tödlichen Medikamentencocktail eigenständig einnahm und unmittelbar darauf verstarb. Dies wurde möglich, nachdem am 26. Februar dieses Jahres das 2015 eingeführte Verbot der sogenannten geschäftsmäßigen Suizidhilfe vom Bundesverfassungsgericht aufgehoben worden war. Im deutschen Recht bedeutet das Wort "geschäftsmäßig" nicht etwa "kommerziell", sondern lediglich "auf Wiederholung angelegt".
Was der Verein Sterbehilfe bundesweit bietet
Der 90-jährige Mann war seit sieben Jahren Vereinsmitglied und lebte schon lange in dem Apartment einer norddeutschen Pflegeeinrichtung, zuerst mit seiner Frau und nach deren Tod dann allein. Seine körperlichen Gebrechen und Leiden verschlimmerten und summierten sich. Als er sich Anfang Juni entschloss, mithilfe des Vereins Sterbehilfe aus dem Leben zu scheiden, wurde die Heimleitung informiert. Sie erklärte nach Prüfung des Falls, aufgrund der neuen Rechtslage die assistierte Selbsttötung in ihrem Haus zu dulden.
Jakub Jaros, Geschäftsführer des Vereins Sterbehilfe, fordert nun alle Alten- und Pflegeheimbetreiber in Deutschland auf, ihre Hausordnungen so zu ergänzen, dass für Bewohner*innen sowie Freitodbegleiter*innen klar ist, dass "das Grundrecht auf Suizid und das Grundrecht auf Suizidhilfe gemäß dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 jederzeit ausgeübt werden können", wird Jaros im Ärzteblatt zitiert. Die Heime und Einrichtungsträger – auch von Hospizen – seien dazu eingeladen, sich damit zu beschäftigen.
Mit Expertise von Juraprofessor Bernd Hecker (Lehrstuhlinhaber an der Universität Tübingen) hat Vereinspräsident Roger Kusch ein hochaktuelles, das höchstrichterliche Urteil berücksichtigendes "Handbuch der Sterbehilfe" verfasst. Es ist zu diesem Thema mit über 550 Seiten das umfangreichste und fundierteste Werk, das sich zudem aufgrund eingestreuter Episoden teils durchaus unterhaltsam liest.
Als einziger ermöglicht der Verein Sterbehilfe – gegründet 2009 in Schleswig-Holstein – auch in Deutschland in häuslicher Umgebung ein freiverantwortliches Lebensende. Laut seiner Statuten werden in "Ethischen Grundsätzen" dabei penible Sorgfaltskriterien festgelegt, etwa eine verpflichtende ärztliche Begutachtung, wie das auch in der Schweiz seit vielen Jahrzehnten – ohne gesetzliche Grundlage – für dortige Sterbehilfevereine üblich ist.
In der Infobroschüre zum Download bedauert der Verein Sterbehilfe derzeit zu zahlende Beiträge teils in vierstelliger Höhe und hofft, diese bei zunehmenden Mitglieder- und Fördererzahlen entsprechend senken zu können.
Kontroverse um das Persönlichkeitsrecht von Pflegeheimbewohner*innen
Die Angst, dass die Zahl der Selbsttötungen in den Pflege- und Senioreneinrichtungen drastisch ansteigen könnte, wird von Benno Bolze geschürt, Geschäftsführer des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes (DHPV). "Der Fall in dem Altenheim macht in besorgniserregender Weise klar, wie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von Sterbehilfevereinen genutzt werden kann, um ein Angebot nach ihrem Zuschnitt zu fordern", sagte Bolze der taz.
Auch die Christdemokraten für das Leben (CDL) fordern laut Tagespost "Schutz vor Zwang zu Suizidbeihilfe in Pflegeheimen" und werfen die Frage auf: "Soll damit etwa schon ein künftiges Geschäftsfeld vorbereitet werden?" Grundsätzlich sei jedoch zu erwarten gewesen, dass "nicht lange nach dem bedauerlichen Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Februar 2020 einer der professionellen Sterbehilfevereine seine Dienstleistung auch in einem Pflegeheim anbieten würde". Die Vereinigung CDL hatte Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) zur Eindämmung gedrängt, wozu dieser – außerhalb parlamentarischer Initiativen – ein "legislatives Schutzkonzept" vorbereitet. Dieses wird von Ärztevertretungen und vor allem der Evangelischen Kirche voll unterstützt, hingegen von der Giordano-Bruno-Stiftung und dem Hans-Albert-Institut scharf kritisiert.
Im Rahmen der Gesetze – doch welches macht das Rennen?
Pflegebedürftige in Seniorenresidenzen gelten rechtlich dort als "Bewohner" und ihnen wird in stationären Hospizen darüber hinaus der Status von "Gästen" zuerkannt, deren Bedürfnisse voll und ganz anerkannt werden. Es steht der Leitung oder dem Träger dieser Einrichtungen nicht ohne Weiteres zu, ihnen das jetzt als verfassungsmäßig anerkannte Grundrecht auf einen assistierten Suizid zu verweigern. Die Karlsruher Richter leiteten aus dem Grundgesetz ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben ab, welches auch die Freiheit einschließt, die Hilfe Dritter in Anspruch zu nehmen. Das weiß auch der Vorstand der Deutschen Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Er erklärte im Ärzteblatt abwiegelnd, kein Pflegeheimbetreiber in Deutschland könne aber dazu gezwungen werden, Sterbehelfer*innen in sein Haus zu lassen.
In der taz kommen zu dem Thema auch zwei der bundesweit bedeutendsten Pflegeheimbetreiber zu Wort: Matthias Steiner von der Augustinum GmbH mit 23 Seniorenresidenzen sagte auf taz-Anfrage, in "schwierigen Krankheits- und Sterbefällen" setze das Augustinum "auf ein intensives Angebot der Palliative Care". "Von zentraler Bedeutung" sei gleichwohl das Selbstbestimmungsrecht der Bewohner*innen der Einrichtungen, wozu auch gehöre, dass diese "natürlich selbst entscheiden, wen sie zu sich in die Wohnung einladen", so Steiner. Auch Tanja Kurz von der mit 237 Einrichtungen bundesweit größten Korian-Unternehmensgruppe für Altenpflege erklärte, ihre Häuser würden "das Recht auf Selbstbestimmung" und den "letzten Willen" der Bewohner*innen "im Rahmen der geltenden Gesetze" respektieren.
Eine Neuregelung wird vom Bundestag auf jeden Fall verbschiedet, es fragt sich nur, was dann "im Rahmen der geltenden Gesetze" bedeuten wird. Offen ist, ob es patientenautonomie-orientierte liberale Regularien in einem Sondergesetz geben wird, welches der Humanistische Verband Deutschlands (HVD) ausgearbeitet hat, oder wieder einen restriktiven Paragraph 217 als Tötungsdelikt im Strafgesetzbuch (StGB).
Humanisten: Keine Zwangsberatungen und kein neuer Paragraph 217
Laut HVD kann und soll die Verantwortung für zugrundeliegende Entscheidungsfähigkeit, Nachhaltigkeit und Wohlinformiertheit über Alternativen in Bezug auf Suizidwünsche nicht auf den Schultern von Ärzt*innen und ihrem Zeitbudget lasten. Der HVD schlägt dazu – einvernehmlich mit der Giordano-Bruno-Stiftung – Suizid(hilfe)-Beratungsstellen in freier Trägerschaft vor und hat deren Kernaufgaben, Personalausstattung, erforderliche Grundhaltung und Leistungsspektrum basierend auf seinen jahrzehntelangen Praxiserfahrungen im Sozialbereich detailliert aufgeführt. Die klientenorientierten Gesprächsangebote sollen unbedingt freiwillig in Anspruch zu nehmen sein, das heißt Pflicht- und Zwangsberatungen werden abgelehnt.
Ein Entwurf für einen neuen Paragraphen 217 StGB wurde hingegen inzwischen – genau wie 2014 – von der Stiftung Patientenschutz gemeinsam mit Professor Steffen Augsberg erarbeitet. Zusammen mit zwei weiteren Hochschullehrern (Ralf Jox und Urban Wiesing) haben auch die Professoren Gian D. Borasio und Jochen Taupitz ihren Vorschlag eines Strafrechtsparagraphen aus dem Jahre 2015 nur leicht abgeändert wieder vorgelegt. Die Genannten sind zusammen mit Verteidiger*innen des alten Paragraph 217 StGB sowie mit Personen und Organisationen, welche zumindest den Sterbehilfevereinen skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, exklusiv von Bundesgesundheitsminister Spahn in sein Beratungsgremium geladen worden.
Der HVD zeigt sich allerdings zuversichtlich, dass sich diesmal aus dem Parlament heraus eine Mehrheit für eine individual-ethische Position ergeben wird, die vom Willen, dem Recht und der Würde des Einzelnen ausgeht. Dies kommt in einem Offenen Brief der Humanisten an Jens Spahn zum Ausdruck, in dem gegen seine Gesetzesinitiative protestiert wird, mit der er die Hilfsmöglichkeiten selbst für schwerstkranke Menschen, die aus dem Leben scheiden möchten, erneut verfassungswidrig einschränken will.
Der hpd veröffentlicht den Offenen Protestbrief an Spahn am morgigen Freitag zusammen mit einer entsprechenden Presseerklärung des Humanistischen Verbandes Deutschlands.
Eine abgeänderte Fassung dieses Beitrags zur Suizidbegleitung im Pflegeheim wird im Rahmen eines Newsletter-Schwerpunktes unter www.patientenverfuegung.de erscheinen.
1 Kommentar
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Oha, das "Handbuch der Sterbehilfe" des Vereins für € 45 (als eBook...); und dann noch vierstellige Mitgliedsbeiträge. Heftig.