Rezension

Wissenschaft ist wunderschön

Erfolgreiche populärwissenschaftliche Autoren beleuchten die Faszination wissenschaftlichen Fortschritts, indem sie neben wissenschaftlicher Betrachtungsweise auch die Perspektiven interessierter Laien einnehmen und mit vereinfachtem Fachvokabular Spannungsbögen erzeugen. Der junge promovierte Quantenphysiker und Wissenschaftspublizist Florian Aigner verfügt über diese Fähigkeit; im vorliegenden Buch vermittelt er – tiefgründig und humorvoll – wissenschaftliche Erkenntnisse und die Grundlagen wissenschaftlichen Denkens. Sein erstes Buch "Der Zufall, das Universum und du" wurde 2017 zum Wissenschaftsbuch des Jahres gewählt, sein nunmehr zweites besitzt das Potential, diesen Erfolg zu toppen.

"Wissenschaft bezeichnet die Gesamtheit des menschlichen Wissens, der Erkenntnisse und der Erfahrungen einer Zeitepoche, welches systematisch erweitert, gesammelt, aufbewahrt, gelehrt und tradiert wird", heißt es in Wikipedia. "Was können wir wissen? Was sollen wir glauben? Und worauf dürfen wir uns in dieser verwirrenden Welt verlassen?", lautet der Eingangssatz im Vorwort des Buches, der wenig später zu "Wir wissen mehr über unsere Welt als je zuvor. Und gleichzeitig wird mehr Unsinn über unsere Welt verbreitet als je zuvor", erweitert wird. Mit diesen beiden Sätzen ist der Zweck des Werkes umrissen: Der ständig wachsenden Flut von Fakes sowie dem überbordenden Überhandnehmen von Unsinn, Esoterik und Pseudowissenschaft entgegenzutreten und die Bedeutung von Wissenschaft und wissenschaftlichem Denken entgegenzusetzen.

Cover

Florian Aigner berichtet von spektakulären wissenschaftlichen Entdeckungen, er erzählt spannende Geschichten aus der Welt der Wissenschaft, er beschreibt geniale Ideen mit fantastischen Triumphen, er berichtet aber auch von atemberaubenden wissenschaftlichen Irrtümern und Fehlern, niemand ist im Besitz perfekter Wahrheit. Wissenschaft ist größer als alles, was einzelne Menschen im Kopf haben können; sie umfasst die Sammlung kluger Methoden, Theorien und Ideen, die helfen, die Welt besser zu verstehen und Probleme zu lösen: "Wissenschaft ist das, was stimmt, auch wenn man nicht daran glaubt. Wissenschaft ist das, worauf wir uns gemeinsam verlassen können."

Das Buch gliedert sich in 13 Kapitel mit aussagekräftigen Überschriften und vorangestellten Zusammenfassungen, humorvolle Zeichnungen ergänzen die Texte und erleichtern das Verständnis. Ausgehend vom im Titel des Buches genannten Bauchgefühl spannt sich ein weiter Bogen verschiedenster Themen der Wissenschaft; sie erläutern die Macht der Logik, die Bedeutung von Mathematik, sie erklären Kritischen Rationalismus und wissenschaftliche Theorienbildung, sie beschreiben wissenschaftliche Methodik vom Experiment bis zu Ockhams Rasiermesser, sie führen zur Erkenntnis, dass es in der Wissenschaft nichts Endgültiges gibt, dass auch kluge Leute Unsinn reden können und dass Expertenmeinungen keine Garantien für absolute Wahrheiten liefern können.

Am Beispiel des Bauchgefühls, mit dem es Tag für Tag gelingt, mit wenig Informationen in kurzer Zeit gute Entscheidungen zu treffen, erläutert Florian Aigner, wie unser evolutionär geprägtes Denken uns auch oftmals in die Irre führen kann. Warum können wir uns auf unsere Intuition nicht verlassen, ist sie doch, ähnlich wie unser rationaler Verstand, eine Form von Intelligenz. Die Antwort auf diese Frage füllt ein Kapitel, das von Einsteins Arbeitsweise bis zum Dunning-Kruger-Effekt reicht.

Erläuterungen zu nahezu allen Bereichen, die Wissenschaft und wissenschaftliches Denken ausmachen

Es würde den Umfang dieser Besprechung bei weitem sprengen, auf alle behandelten Themen hinzuweisen. Das Buch bietet Erläuterungen zu nahezu allen Bereichen, die Wissenschaft und wissenschaftliches Denken ausmachen; es hilft, deren Erkenntnisse einzuordnen beziehungsweise zu verstehen und Wissenschaft von Pseudowissenschaft und Unsinn zu unterscheiden. Es verdeutlicht dabei auch, weshalb sich Wissenschaft ständig verändert, verändern muss und wir uns trotzdem auf gut fundierte wissenschaftliche Theorien verlassen können.

Das nach Ansicht des Rezensenten besonders wichtige Schlusskapitel des Buches trägt den Titel "Wissenschaft mit Bauchgefühl"; es widmet sich den oft zu vernehmenden Klischees, Wissenschaft sei kalt, sei materialistisch, sei für ein glückliches, erfülltes Leben nicht notwendig, ja sogar hinderlich – kurzum: Wissenschaft und Gefühl seien zwei grundverschiedene Dinge. Florian Aigner begegnet solchen Meinungen mit "Wer zwischen Gefühl und Verstand einen Widerspruch sieht, dem fehlt es vielleicht an beidem"; in Unterkapiteln wie "Zu viel Rationalität ist auch irrational", "Fakten sind auch nicht immer das Wahre", "Wozu Wissenschaft?", "Wissenschaft – das sind wir alle", vermittelt er die dazu passenden Erkenntnisse: "Wissenschaft ist ein dicht geknüpftes Netz  genau das macht sie stabil, verlässlich und tragfähig. […] Manchmal sind (aber) auch unsere besten wissenschaftlichen Theorien nicht zuständig. Manchmal bleibt uns nichts anderes übrig, als uns auf unser Bauchgefühl zu verlassen."

"Wissenschaft ist wunderschön […]. [D]as vielleicht allerwichtigste Argument für Wissenschaft ist aber ein anderes: Wir haben gar keine Wahl […]. Die Evolution hat uns Menschen mit der Fähigkeit zum wissenschaftlichen Denken ausgestattet, und damit lösen wir schwierige Probleme."

Warum ist Wissenschaft wunderschön, warum ist sie unentbehrlich, warum gibt es Wahrheiten, denen niemand widersprechen kann? "Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl" bietet die dazu passenden Antworten; das Buch beinhaltet neben spannend und unterhaltend vermitteltem Wissen eine uneingeschränkt persönliche Liebeserklärung an die Wissenschaft und motivierende Anregungen, sich ihr zu nähern beziehungsweise, wenn möglich, auch selbst Wissenschaft zu betreiben.

Florian Aigner: Die Schwerkraft ist kein Bauchgefühl. Eine Liebeserklärung an die Wissenschaft, Verlag Brandstätter, Wien 2020, ISBN 978-3-7106-0467-6, 255 Seiten, 24,00 Euro

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