Nach dem Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty bekräftigte die Giordano-Bruno-Stiftung (gbs) ihre Forderung nach Abschaffung des "Gotteslästerungsparagrafen" 166 StGB, die sie bereits nach dem "Karikaturenstreit" 2006 sowie nach dem Attentat auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" 2015 erhoben hatte. Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) hat dazu nun einen Gesetzentwurf veröffentlicht, mit dem der "Fundamentalisten-freundliche Zensurparagraf" leicht aus der Welt geschafft werden könnte.
"Auch in Deutschland braucht es eine angemessene Reaktion auf die Einschüchterungsversuche militanter Islamisten!", hatte die gbs im Oktober nach der Ermordung Patys auf ihrer Facebookseite gefordert. "Mit einer ersatzlosen Streichung von Paragraf 166 StGB würde der Gesetzgeber unmissverständlich klarstellen, dass der Meinungsfreiheit in einer modernen, offenen Gesellschaft höheres Gewicht beizumessen ist als den 'verletzten Gefühlen' religiöser Fundamentalisten."
Ronen Steinke, SZ-Redakteur für Sicherheit und Recht, griff diese Forderung Anfang November in der Süddeutschen Zeitung auf: "Jetzt ist Souveränität gefragt. Deutschland muss endlich den Paragrafen zur Gotteslästerung abschaffen. Ansonsten setzt sich gewaltsamer Protest von Fundamentalisten gegen Künstler und Satiriker durch." Gerhard Strate, einer der renommiertesten Strafverteidiger Deutschlands, kam in seinem Kommentar auf der Website der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW) zum gleichen Ergebnis: "Unsere Gerichte sollten nicht länger in die peinliche Lage gebracht werden, irrationale Glaubensinhalte vor ihren Kritikern schützen zu müssen. Engagierte Lehrer und andere kritische Geister sollten zudem wenigstens auf Rechtssicherheit bauen können, wenn sie schon um Leib und Leben fürchten müssen. Dies sind wir dem Erbe der Aufklärung schuldig."
Nach der "Majestätsbeleidung" muss auch der "Blasphemieparagraf" fallen!
Doch wie realistisch ist es, dass die deutschen Parlamentarierinnen und Parlamentarier diesen gut begründeten Argumenten heute eher Folge leisten werden als 2015, als sie eine entsprechende, von der gbs eingebrachte Bundestagspetition mit fadenscheinigen Argumenten abschmetterten? Das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) hat zur Klärung dieser Frage die aktuellen Wahlprogramme der Bundestagsparteien ausgewertet und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass eine Abschaffung möglich wäre, wenn die Regierungsfraktionen CDU/CSU und SPD ihre Positionen modernisieren und an die heutigen gesellschaftlichen und verfassungsrechtlichen Erkenntnisse anpassen würden.
ifw-Leiterin Jacqueline Neumann sieht hier eine Parallele zur Strafnorm der "Majestätsbeleidung", die 2017 im Zuge der "Erdoğan-Böhmermann-Affäre" abgeschafft wurde: "Die Aufhebung von Paragraf 103 StGB kann heute als Muster dienen. Auch 2017 war eine Abschaffung nicht Teil des Regierungsprogramms, sie war jedoch schon seit Jahren überfällig und wurde dann angesichts der eskalierenden Ereignisse innerhalb kurzer Zeit abgestimmt und vollzogen. Als Debattenimpuls hat das ifw einen entsprechend kurzen Gesetzentwurf zur Abschaffung von Paragraf 166 StGB erstellt, der von der Politik gerne aufgegriffen werden kann."
Mit gutem Beispiel vorangehen!
Wie wichtig dies wäre, zeigt der Blick auf die Weltkarte der freiheitsfeindlichen Länder, wo Deutschland im Hinblick auf die Freiheit der Kunst nicht an der Seite Frankreichs, sondern an der Seite der Türkei steht. In diesem Zusammenhang hatte die Giordano-Bruno-Stiftung schon 2015 darauf hingewiesen, dass die deutsche Politik sich zwar an der Seite der Vereinten Nationen seit Jahren dafür einsetze, Blasphemie-Gesetze in anderen Ländern abzuschaffen, diese Forderung aber weit glaubwürdiger wäre, "wenn Deutschland mit gutem Beispiel vorangehen und Paragraf 166 StGB ersatzlos streichen würde."
Zwar sei in Deutschland – im Unterschied zu vielen islamischen Ländern – die bloße Kritik oder "Beschimpfung" einer Religion nicht unter Strafe gestellt, sondern nur solche Formen der Kritik, die geeignet seien, den öffentlichen Frieden zu gefährden, paradoxerweise aber führe "gerade dieser Schutz des öffentlichen Friedens zu einer Gefährdung des öffentlichen Friedens": "Von seinem Wortlaut her stachelt Paragraf 166 die Gläubigen nämlich dazu an, militant gegen satirische Kunst vorzugehen. Denn nur so können sie zeigen, dass durch die vorgebliche Verletzung ihrer religiösen Gefühle der öffentliche Friede gefährdet ist."
Bittere Konsequenz: Nach deutschem Gesetz hätten die überlebenden Satiriker von Charlie Hebdo verurteilt werden können, weil ihre Zeichnungen Fundamentalisten dazu animierten, Terrorakte zu begehen! Um eine derartige Umkehrung des Täter-Opfer-Verhältnisses zu verhindern, gibt es, wie nun auch das ifw dargelegt hat, eine einfache Lösung, die – abgesehen von religiösen Fundamentalisten – niemanden schmerzen dürfte, nämlich die ersatzlose Streichung des "anachronistischen Zensurparagrafen" 166 StGB!
Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Straftaten gegen Bekenntnisse, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen
A. Problem und Ziel
Die Strafvorschrift des § 166 StGB (Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen) bezweckt den Schutz des Inhalts des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses anderer oder den Schutz von Einrichtungen oder Gebräuchen einer im Inland bestehenden Kirche oder anderen Religionsgesellschaft oder Weltanschauungsvereinigung vor Beschimpfung sowie den Schutz des öffentlichen Friedens. Der Strafrahmen beträgt Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe.
Der Schutz vor Beschimpfung und der Schutz des öffentlichen Friedens erscheint durch die Straftatbestände der Beleidigung (§ 185 StGB), der üblen Nachrede (§ 186 StGB), der Verleumdung (§ 187 StGB) und der Volksverhetzung (§ 130 StGB) ausreichend. Die Vorstellung, religiöse oder weltanschauliche Bekenntnisse, Personen oder Gruppen benötigten einen über die §§ 130, 185, 186, 187 StGB hinausgehenden Schutz, erscheint nicht mehr zeitgemäß. § 166 StGB ist daher entbehrlich und kann aufgehoben werden.
B. Lösung
§ 166 StGB soll aufgehoben werden.
C. Alternativen
Keine.
D. Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand
Haushaltsausgaben ohne Erfüllungsaufwand sind nicht zu erwarten.
Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Straftaten gegen Bekenntnisse, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen
Der Bundestag hat das folgende Gesetz beschlossen:
Artikel 1: Änderung des Strafgesetzbuches
Das Strafgesetzbuch in der Fassung der Bekanntmachung vom 13. November 1998 (BGBl. I S. 3322), das zuletzt durch Artikel 1 des Gesetzes vom 9. Oktober 2020 (BGBl. I S. 2075) geändert worden ist, wird wie folgt geändert:
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In der Inhaltsübersicht wird die Angabe zu § 166 wie folgt gefasst: "§ 166 (weggefallen)".
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§ 166 wird aufgehoben.
Artikel 2: Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am 1. Januar 2021 in Kraft.
Übernahme von der Website der Giordano-Bruno-Stiftung.
13 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Der Unterschied zur "Majestätsbeleidung" ist schon klar, oder?
Markus Wagner am Permanenter Link
Ich gehe noch weiter und fordere die Abschaffung sämtlicher Paragraphen, die die Meinungsfreiheit einschränken, mit Ausnahme von Verleumdung, Übler Nachrede und Aufruf zu Straftaten.
"Ich mag verdammen was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür geben, dass du es sagen darfst!"
- Voltaire zugeschrieben, tatsächlich aber von Evelyn Beatrice Hall, die damit die Einstellung Voltaires zum Ausdruck bringen wollte.
Roland Weber am Permanenter Link
Diese Forderung kann man nur unterstützen.
Das die "Erregungsstufe" als geeignetes Kriterium in Anschauungsangelegenheiten gelten soll, ist absurd. Desto Krawall und desto intoleranter, desto gebotener für andere???
Allerdings werden sich diese Mörder kaum besinnen, wenn dieser Paragraph tatsächlich abgeschafft würde. Aber ein Zeichen für einen säkularen Staat wäre es schon.
Angelika Wedekind am Permanenter Link
Ich bin mir sicher, dass bei einem Volksentscheid die große Mehrheit dafür wäre. Vielleicht kann man so Druck auf die Parteien ausüben.
Martin am Permanenter Link
Es gab schon mindestens drei Online-Petitionen gegen den § 166 StGB: 21123 (2011), 56759 (2015), 80756 (2018).
Stetes Wasser hölt den Stein: Warum nicht eine vierte Petition?
Heinz König am Permanenter Link
Ich bin dabei!
H. Ermel am Permanenter Link
bin sehr dafür, aber ifw und gbs sind für diesen Vorstoß wahrscheinlich zu klein. Vielleicht wäre ein Zusammengehen mit campact oder ähnlichen sinnvoll
Heinz König am Permanenter Link
Ein Blasphemieparagraf für einen Gott, der nicht existiert?
Wäre es nicht sinnvoll, erst mal diesen ominösen Herrn nachzuweisen?
Klaus Weidenbach am Permanenter Link
Hirngespinste (Götter, Engel etc.) sollten in der Öffentlichkeit diskutiert werden, ohne dass religiös gefühlsduselige Menschen Anzeige erstatten dürfen.
Matthias Freyberg am Permanenter Link
Vollste Unterstützung für diesen Vorstoß des ifw.
Martin am Permanenter Link
Gestern wurde die Abschaffung des § 166 StGB von Hans-Joachim Heist in seiner Rolle des Gernot Hassknecht in der heute-show gefordert:
https://www.zdf.de/comedy/heute-show/heute-show-vom-13-november-2020-100.html
24:36
Martin am Permanenter Link
Noch 'ne Taktik: Massenselbstbezichtigungen!
1. Je nach Geschmack, ein Blogpost oder ein Flugblatt oder ein Plakat mit einer veritablen Beleidigung der Religionsgemeinschaften, ihrer prominenten Vertreter und ihrer Propheten veröffentlichen. Dabei sollte man sich an Fällen orientieren, die letztinstanzlich zu Verurteilungen geführt haben: https://de.wikipedia.org/wiki/Beschimpfung_von_Bekenntnissen,_Religionsgesellschaften_und_Weltanschauungsvereinigungen#Beispiele
2. Zur Polizei gehen und Anzeige gegen sich selbst erstatten. Kann man auch online machen.
3. a) Auf die Einstellung des Verfahrens warten.
4. a ) Eine Institution sammelt das und veröffentlich die Fälle (anonymisiert). Jedes eingestellte Verfahren ist ein weiterer Beleg für die Sinnlosigkeit des Gesetzes.
3. b) Auf Prozess und Verurteilung warten.
4. b) Das wäre der Ausgang, der dem Gesetz noch mehr schadete. Zu viel Publicity für einen Paragraphen, den man gerne verschämt versteckt.
Aber Achtung: Auch wenn Ausgang (a) viel wahrscheinlicher ist als (b), so sollte man trotzdem vorher überlegen, ob man sich einen Prozess und schlimmstenfalls Verurteilung zumuten kann. Eine Vorstrafe kann schlecht für den Lebenslauf sein, wenn man z.B. im öffentlichen Dienst arbeitet.
Christian Meißner am Permanenter Link
Wie schon der Held aus "Das Leben des Brian" richtigerweise feststellte, sind wir alle Individuen. Zu dessen Freiheit zählt das Recht, den anderen Menschen das mitzuteilen, was diese nicht hören möchten.
Wenn sich beleidigt fühlende Kollektive durch ihr gesellschaftliches Agieren bestimmen können, welche Äußerung durch die Kunst- und Meinungsfreiheit abgedeckt ist und welche nicht, so ist dies aus meiner Sicht mit dem Grundgedanken einer pluralen Gesellschaft: dem offenen und fairen Wettbewerb der Interessen und Meinungen, nicht vereinbar.
Soweit meine 2 Cents zur Mehrheitsmeinung.