Weihnachten ist bedeutungslos. Ziehen wir den Mythos von religiösen Festen ab, entdecken wir ihren eigentlichen Sinn. Es ist die Harmonisierung von biologischen und kulturellen Rhythmen gegen die Kräfte der Natur.
Die Sonne ist Gott. Viele Religionen behaupten das. Ob im alten Ägypten, bei den Inkas oder den Germanen – überall entstanden Kulte um unser Zentralgestirn. In ihrem Schein legitimierten Herrscher ihre Macht. Sol invictus! Deshalb feiern wir Weihnachten zur Zeit der Wintersonnenwende. Es geht um die geistige Eroberung symbolträchtiger Ereignisse. In unserem Kulturraum werden sie von christlichen Mythen besetzt. Der "Stern von Bethlehem" ist ein weiteres Beispiel. Auch hier zeigt sich die Kraft des Mythos'. Mit ihm werden Naturereignisse zu Symbolen der Macht. Sie legitimieren irrationale Autorität.
Was die Menschen zu Weihnachten in die Kirchen lockt, ist nicht der christliche Mythos. Es ist das gemeinsam begangene Ritual – eine Form der Gewohnheit, bei der man sich an vorher festgelegten Handlungsschritten orientiert. Derartige Rituale stabilisieren unser Leben. Sie schaffen Struktur und Verlässlichkeit. Für einige Menschen ist es die tägliche Morgenroutine, die Zigarette zum Kaffee oder die Tagesschau. Hier gelangt ein Stück Freiheit zum Ausdruck. Mit anderen Ritualen durchbrechen wir unseren Alltag. Das sind dann unsere kulturellen Hochzeiten. Zum Jahresende finden wir eine Häufung von derartigen Bräuchen und Zeremonien. Sie sind nicht immer religiös, erlauben es uns aber, unsere Zeit in Gemeinschaft zu strukturieren. Hier liegt der Sinn aller Kultur. In der Religion wird er vom Mythos überdeckt, dem man angeblich einen eigenständigen Dienst zu erweisen hat.
Verabschiedet man sich von dem Gedanken, irrationalen Autoritäten dienstbar sein zu wollen, gewinnt man das Bewusstsein für die Gestaltbarkeit des eigenen Lebens.
Dennoch ist der Mythos für die Sinnstiftung des Menschen unverzichtbar. Das mag den aufgeklärten Skeptiker jetzt erschüttern. Zwar können wir immer mehr Phänomene mit Verstand und Rationalität in ihren Kausalzusammenhängen erklären, allerdings können wir sie niemals vollständig überblicken.
Kurzum: Wir alle machen die Erfahrung des Zufalls. Dabei erleben wir auch harte Schicksalsschläge. Den Religionen geht es nun idealerweise darum, gerade diese "Erfahrungen von übermächtiger Gewalt" mit Ritualen und Gebeten besänftigen zu wollen. Dabei geht es eben nicht um eine objektive Erfahrung von außen, wie sie die Rationalität verlangt, sondern um das Bewusstmachen einer Erfahrung von innen. Die Frage nach dem "Warum" wird in derselben Sprache des Unbegreiflichen beantwortet, mit der es über uns hereinbricht. Somit trägt die Religion als Kulturphänomen auf ihre Art dazu bei, gestörte Lebensrhythmen auszugleichen. Buddhistische Meditation ist ein gutes Beispiel. Leider wird eine solch kontemplative Mystik im Christentum kaum noch kultiviert. Angesichts von Umweltverschmutzung und Überbevölkerung muss man fragen: Wo sind die Asketen, die uns den Verzicht vorleben? – Stattdessen drängt der Mythos als Machtmittel in den Vordergrund, um den eigenen religiösen Riten einen herausgehobenen Stellenwert im pluralistischen Miteinander zu verschaffen. Corona zeigt es: Während alles schließt, dürfen Gottesdienste nach wie vor unter Auflagen besucht werden.
Dabei geht es der gesamten Kultur um eine Harmonisierung des Lebens angesichts einer Natur, der wir ausgeliefert sind. Erkenntnisse sind dabei hilfreicher als der Glaube. Der Mythos ist zwar Teil einer geistigen Kultur, diese geistige Kultur transportiert aber idealerweise auch noch Inhalte des Wissens und der Ästhetik. Letztere bereiten den intellektuellen und emotional geschulten Nährboden für ein qualifiziertes Leben im Diesseits. Und schlussendlich ist es auch das Seelenheil oder die psychische Gesundheit, die nicht durch Gebete und Gottesdienste, sondern nur im engagierten sozialen Kontext erlangt werden kann. Neue Riten braucht das Land!
Aber was machen wir dann mit dem Mythos?
In den mythischen Geschichten der unterschiedlichsten Kulturen gelangt die geteilte innere Erfahrung aller Menschen zum Ausdruck. Wir sollten sie lesen! In unserer Kultur gehören die christlichen Texte dazu. Ohne sie verlieren wir eine Dimension unserer Identität. Als Beispiel dient das nebenstehende Foto. Es zeigt eine Skulptur von Ernst Barlach aus dem Jahr 1926 mit dem Titel "Das Wiedersehen". Die ästhetisierten Züge lassen eine komplexe emotionale Beziehung zwischen den beiden Figuren erkennen. Insgesamt tritt aus der groben Schnitzerei eine feinsinnige Menschlichkeit hervor. Die Skulptur ist ein Meisterwerk der Kunst.
Bei den beiden Figuren handelt sich um Jesus und den ungläubigen Thomas. Der christliche Mythos stiftet hier eine zusätzliche Dimension des Sinns, weil er die Menschlichkeit überhaupt erst in die Ansehung der letzten Gründe hebt. Dabei vertrat Barlach die Auffassung, dass die Sinnfrage nicht gelöst werden kann, solange die Menschen nach einer Sinngebung ihrer Existenz verlangen, die erst durch Autoritäten beglaubigt werden muss. Lebendige Gewissheit über den Sinn stelle sich hingegen erst ein, "wenn sich die Menschen in ihrem Handeln den Maßstäben der Wahrhaftigkeit und Mitmenschlichkeit aus freier Verantwortung verpflichtet wissen". Es gilt, den Mythos zu kultivieren.
4 Kommentare
Kommentare
A.S. am Permanenter Link
Ja, wenn es denn bei Religion nur um Mythos ginge!
Dann bräuchten Religionen keinen Wahrheitsanspruch zu erheben, nicht auf ihrem einzig wahren Gott bestehen!
Der Wahrheitsanspruch ist ein Machtanspruch, der Herrschaftsanspruch der religiösen Führer, die sich anmaßen, über dem weltlich-demokratischem Gesetzgeber zu stehen.
DR.HANS GERHARD... am Permanenter Link
Gut...! Leider nutzt die Obrigkeit hinterlistig immer noch die Sehnsucht von Milliarden Menschen nach einer heilen Überwelt aus um sich volksverdummend skrupellos zu bereichern.
Oliver Tausend am Permanenter Link
Fliegendes Spaghettimonster? Ich habe Angst, dass in 100 Jahren niemand mehr weiß, dass dies einmal eine Religionsparodie war.
Christian Meißner am Permanenter Link
Es stimmt: Wir Menschen brauchen den "Mythos". So werden zum Beispiel bei einer Fernsehgeschichtsstunde mit Guido Knopp ausgewählte Fakten zu einem "Mythos", also einer Erzählung, verwoben.
Aber kann diese Erzählung den Anspruch haben, die wichtigen, für den Fortlauf von "Geschichte" wesentlichen Ereignisse wiedergegeben zu haben?
Erstens wäre zu fragen, wessen Geschichte eigentlich gemeint ist. Und, zweitens können wir nur vermuten, inwieweit die hergeleiteten Kausalketten wirklich für den betreffenden
Gegenwartsoutput verantwortlich sind.
Wir konstruieren den "Mythos" um "Identität" zu konstruieren. Ohne den "Mythos" sind wir nichts. Denn das, was wir "Ich" nennen, macht nur durch das Sinn, was wir uns gegenseitig erzählen.
Hier in Deutschland erzählt man sich meiner Meinung nach viel zu wenig. Da sind uns die Lateinamerikaner um Längen voraus.
Soweit meine Gedanken zum Fest. Ich wünsche allen schöne Feiertage und ein gesundes, gutes und erfolgreiches Jahr 2021!