Interview

"Wir müssen keine Angst mehr davor haben, aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen zu werden"

Wer kennt sie nicht, die Filmsequenz aus "Moderne Zeiten", in der Charlie Chaplin von der Maschine durchs Leben gejagt wird. In postmodernen Zeiten sind es eher unsere eigenen Ansprüche und die Blicke der anderen, die uns unter Druck setzen. In seinem Buch "Nichts mehr sein müssen" setzt sich Alfred Binder mit unserem unentwegten Streben nach Anerkennung auseinander. Der hpd sprach mit dem Autor über Gleichheit, Weisheit und Lebenskunst.

hpd: Ist Anerkennung in unserem Leben wirklich so wichtig, dass es gerechtfertigt ist, von einem permanenten "Kampf" zu sprechen?

Alfred Binder: Anerkennung zu erhalten ist für das Überleben und für ein gutes Leben fundamental und das in allen Lebensbereichen, im privaten, beruflichen, wie im gesellschaftlichen. Für Hegel gewinnt der Mensch seine Identität erst durch Anerkennungskämpfe. Aber natürlich erhalten wir Anerkennung oft auch gratis, Kinder sollten von ihren Eltern eine bedingungslose Grundanerkennung bekommen. Für viele Formen der Anerkennung, wie Lob, Liebe, Aufnahme in eine Gemeinschaft, brauchen wir uns zum Glück nur wenig bemühen. Andererseits gibt es Menschen, ich vermute es sind viele, die zum Beispiel ihr ganzes Leben um die Anerkennung ihrer Eltern kämpfen (müssen) und dieser Kampf endet nicht einmal mit deren Tod.

Welche politische Bedeutung hat Anerkennung?

Der Kampf um Gleichberechtigung der Geschlechter, von Schwarz und Weiß, um mehr Lohn, um sozialen Aufstieg oder gegen Abstieg, all das sind Kämpfe um Anerkennung. Die materielle Besserstellung, die bei diesen Kämpfen meist auch angestrebt wird, ist nur ein Motiv und mit der sozialen Anerkennung untrennbar verflochten.

Wie viel wir uns bemühen, wie stark wir für Anerkennung kämpfen müssen, wird von unseren Ängsten und Wünschen bestimmt. Sie sind eine Folge unserer biologischen Ausstattung, unserer Erziehung und der Herausforderungen unserer jeweiligen Umwelt, der jeweiligen sozialen und kulturellen Verhältnisse. In bestimmten Hinsichten sind die jeweiligen Herausforderungen für jeden Menschen einmalig, in anderen für alle gleich.

Die Mehrheit der Menschen auf diesem Planeten lebt inzwischen im "Umfeld" kapitalistischer Konkurrenzgesellschaft und die zwingt uns viel häufiger und stärker zu Anerkennungskämpfen als die feudalistischen Privilegiengesellschaften. In ihr waren und sind die Aufstiegschancen viel geringer und der Schuster blieb selbstverständlicher bei seinen Leisten.

Dass wir in den modernen Gesellschaften mehr um Anerkennung kämpfen müssen, ist insofern ein bisschen paradox, als in ihr alle Menschen zumindest formell die gleichen Rechte innehaben, also alle auf einer höheren Anerkennungsstufe stehen als in den feudalistischen. Die größere soziale Durchlässigkeit und der damit verbundene Aufstiegsdruck, beziehungsweise die damit verbundene Abstiegsangst, ist die Kehrseite der rechtlichen Gleichheit in der bürgerlich-kapitalistischen Welt.

Den weltweiten Rechtsruck können wir als einen Kampf gegen den Verlust von Anerkennung verstehen. In den USA fürchten viele Weiße um ihre soziale Stellung und weltweit fürchten Menschen um ihre Arbeitsplätze durch Globalisierung und Migration. Die Globalisierung, durch die Digitalisierung extrem beschleunigt, ist meiner Ansicht nach der Hauptgrund für das Ausbleiben eines Linksrucks, der ja auch eine mögliche Reaktion auf die Arbeitsplatzbedrohungen und den damit verbundenen Anerkennungsverlust hätte sein können. Heute ist sehr viel sichtbarer, dass Arbeitsplatzvernichtung oder drohender Verlust von Arbeit mit ihrer Auslagerung in andere Länder zusammenhängt oder mit Einsparung durch Digitalisierung. Internationale Solidarität ist unter diesen Bedingungen schwieriger. Langfristig kann nur die weltweite Angleichung von Sozialstandards und Arbeitsbedingungen diese Situation ändern.

Auch das Problem des politischen Islams ist ein Anerkennungs-Demütigungsproblem und wird sogar von ihren Protagonisten als solches benannt.

Cover

Was bedeutet das für linke Politikansätze? Bieten sie im Hinblick auf unsere Anerkennungsbedürfnise Vorteile gegenüber autoritären Gesellschaftsmodellen?

Links sein bedeutet letztlich für größtmögliche Gleichheit zu sein, rechts sein bedeutet grundsätzlich für Hierarchien zu sein und sie gegebenenfalls auch nach ethnischer Zugehörigkeit zu ordnen.

Diese Einstellungen haben auch große Auswirkungen auf den Erziehungsstil, was ich in dem Buch genauer erläutere. Eine auf Leistung getrimmte Psyche in einer hierarchischen Leistungskultur produziert hauptsächlich "Versager", also Menschen, die letztlich an Anerkennungsmangel leiden. Unter dem kapitalistischen Leistungsdruck leiden zurzeit wohl am meisten die Menschen in ostasiatischen Ländern, vorrangig in China und Südkorea.

Wenn wir wollen, dass immer mehr Menschen nicht nur materiell, sondern auch psychisch besser leben, dann müssen unsere Gesellschaften egalitärer werden.

Das Buch enthält auch ein Kapitel "Übung sein". Was genau ist damit gemeint?

Der Mensch ist ein Tier, das aufgrund seiner Instinkthemmung sein Leben lang lernen kann oder muss, wie immer man das bewerten will. Üben ist eine Form des Lernens. Die Frage ist: Was sollten wir warum lernen? Natürlich zuerst einmal das, was wir zum Überleben, zur Selbsterhaltung brauchen. Deshalb lernte das Tier Mensch den aufrechten Gang, Sammeln, Jagen usw. Als er sich sein Überleben relativ gut sichern konnte, erwachte in ihm die Frage: Wie soll ich eigentlich leben? Wir sind also Wesen, die nach der richtigen oder einer guten Lebensweise fragen können, asiatisch gesprochen, nach dem Weg, den wir gehen sollen. Diese Frage bildet das eigentliche Zentrum der antiken Philosophie, sowohl im Westen wie im Osten. Sich in der Antike für eine philosophische Schule entschieden zu haben, bedeutete, sich für eine Lebensweise entschieden zu haben. Die Frage nach der richtigen Lebensweise wurde ungefähr zur selben Zeit in Griechenland, Indien und China gestellt, ähnliche ökonomische und soziale Verhältnisse dürften der Grund gewesen sein.

Mit "Übung sein" meine ich hier das bewusste Lernen von Methoden, Tugenden und Haltungen. Letztlich sollen sie uns helfen, gut, zumindest besser, zu leben. Hochtrabender gesprochen, sie dienen unserer Selbstformung, der Kultivierung eines Lebensstils, einer Lebenshaltung. Wir müssen oder dürfen "ewig üben", "Übung sein", weil unsere Psyche und unsere Umwelt sich laufend ändern und wir keinen festverwurzelten Eichen, sondern in manchen Hinsichten eher Blättern im Wind ähneln.

Wenn ich es richtig verstanden habe, können wir uns vom Anerkennungsbedürfnis unter anderem dadurch ein Stück weit befreien, dass wir den Urteilen anderer nicht mehr so viel Wert beimessen. Andererseits ist der Mensch in modernen Gesellschaften selbst bei alltäglichen Kleinigkeiten auf andere angewiesen. Besteht die "Lebenskunst" dann darin, einen Mittelweg zu suchen?

Die modernen Gesellschaften erlauben größere Unabhängigkeit vom Urteil anderer als alle früheren. Wir müssen keine Angst mehr davor haben, aus unserer Gemeinschaft ausgestoßen zu werden und uns als Vogelfreie, als Rechtlose durchschlagen zu müssen. Eines unserer großen Probleme ist es, dass wir immer noch auf ein Kleingruppendasein programmiert sind, unsere Psyche die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von Großgesellschaften nicht realisiert hat, wie die größere materielle Unabhängigkeit und die Notwendigkeit einer universellen Moral.

Eine Folge der Beschränktheit unserer Psyche ist es, dass wir ständig damit beschäftigt sind, welchen Eindruck wir auf andere machen, gemacht haben oder machen werden. Von der Bewertung unserer Person war ja über Jahrzehntausende unser Überleben abhängig. Arbeitslos zu sein ist, zumindest in den Industriegesellschaften, nicht mehr wegen der materiellen Beeinträchtigungen existentiell. Es ist in der Regel existentiell wegen des Statusverlustes, anders gesagt, weil wir etwas sein müssen beziehungsweise wollen.

Dass die Lebenskunst einen Mittelweg bedeutet, trifft es nicht ganz, manchmal bedeutet sie einen mittleren Weg, aber unter diesem "verkehrstechnischen" Blickwinkel betrachtet müsste man die Lebenskunst als die Kunst bezeichnen, den zielführenden Weg, den zu einem guten Leben, zu erkennen und ihm auch folgen zu können. In manchen Bereichen und Situationen ist Anerkennung wichtig, in manchen nicht. Das zu ermitteln, verlangt Vernunft und Intuition, aber sie allein reichen nicht. Auch die Gefühle müssen überzeugt werden und das benötigt die Übung guter Gewohnheiten, Einstellungen und Haltungen, benötigt innere Formgebung.

Wo verläuft die Grenze zwischen der Fähigkeit loszulassen, einem gelassenen "Wenig-Sein" und Gleichgültigkeit? Gibt es einen Punkt, an dem Duldsamkeit auch politisch gefährlich wird?

Hier kann ich mit einem Zitat aus dem Buch am besten antworten: "Wir werden gekränkt und gedemütigt und wir kränken und demütigen. Kränken und demütigen sind keine Systemfehler, sie sind in hierarchischen Welten unvermeidlich. Wir können lernen, sie immer gleichgültiger werden zu lassen. Falls wir aber ein gutes oder besseres Leben wollen, müssen wir die Grundachtung einfordern, nämlich die, als Rechtsperson anerkannt zu werden, und wir müssen diesen Status verteidigen. Als Rechtsperson anerkannt zu werden bedeutet zugleich, als moralische Person anerkannt zu werden, als Person, die den moralischen Regeln gemäß behandelt wird. Deshalb sollten wir uns gegen generelle Demütigung wehren, Erniedrigung aufgrund der Herkunft, der Hautfarbe, des Geschlechts, der Arbeit usw. Tatsächlich unveränderbare Erniedrigung zu akzeptieren, ist zwar sinnvoll, aber das heißt nicht, nie mehr nach Veränderungen Ausschau zu halten. Nicht zuletzt sollten wir uns dafür einsetzen, dass unsere Welt egalitärer wird, denn je egalitärer sie ist, desto weniger Erniedrigungen sind in dieser Welt. Wir können damit anfangen, dass wir Andere anständig behandeln, also nicht von oben herab, nicht erniedrigend."

Ist die Befreiung vom Anerkennungsstreben eher eine Strategie glücklich zu werden oder Unglücklichsein zu vermeiden?

Unser Leben wird immer zwischen glücklich und unglücklich, zufrieden und unzufrieden, lust- und leidvoll hin- und herpendeln. Welche Seite überwiegt? Wie messen? Kurze, glückliche Momente können lange, unglückliche aufwiegen. Tierisches und menschliches Leben bedeutet fühlen, und solange wir leben wollen, heißt das, wir wollen fühlen, auch dann, wenn die unangenehmen Gefühle, zeitlich oder ihrer Intensität nach, überwiegen. Wir können aber lernen, den Aufenthalt auf der unglücklichen Seite zu verkürzen, in sie nicht so tief hineingezogen zu werden, sie leichter und schneller zu verlassen. Das erfordert ein gewisses Verständnis unserer Welt, unserer Psyche und ein bisschen innere Formgebung, "Übung sein".

Das Bemühen, vom Anerkennungsstreben unabhängiger zu werden, dient, wie alles, was wir tun, einem besserem Leben, letztlich mehr guten Gefühlen. Ob es zum Glücklichsein, nur zum Weniger-Unglücklichsein oder zu gar nichts führt, das muss jeder selbst herausfinden.

Die Fragen stellte Martin Bauer für den hpd.

Alfred Binder: Nichts mehr sein müssen. Lebenskunst und Anerkennungskampf. Alibri, 2020, 198 Seiten, gebunden, ISBN 978-3-86569-326-6, 18 Euro

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