Eine WhatsApp-Nachricht, in der Ex-Fußball-Nationaltorhüter und Hertha-BSC-Aufsichtsrat Jens Lehmann den Ex-Nationalspieler und TV-Fußballexperten Dennis Aogo als "Quotenschwarzen" bezeichnete, sorgte in der vergangenen Woche für Diskussionen. Ein Kommentar von Mukeba Muamba.
Mein Vater hatte mir davon abgeraten Jura zu studieren, da die Benotung viel stärker als in anderen Fächern vom jeweiligen Prüfer, der jeweiligen Prüferin abhinge. Stattdessen sollte ich etwas Exaktes wie Ingenieurwesen studieren. Er hatte Angst, dass mir der Weg durch rassistische Ressentiments unnötig erschwert würde. Ich wuchs in dem Bewusstsein auf, mich als Schwarzer mehr anstrengen zu müssen, gar doppelt so gut sein zu müssen wie meine weißen Mitschüler:innen. Okay: das gelang mir zumeist nur in den Fächern Deutsch und Sport. Auf Ersteres war ich regelmäßig stolz.
Rückblickend würde ich sagen, dass mir während meiner Schulzeit Ressentiments entgegenschlugen. Ob diese ständig rassistisch konnontiert waren, will ich nicht vollumfänglich bejahen, aber Alltagsrassismus war auch darunter – insbesondere unter der Schülerschaft. Eine Empfehlung fürs Gymnasium bekam ich nicht, dennoch erkannte ich meine Chancen und sah und sehe Deutschland als ein Land an, in dem man – ungeachtet der dringenden (!) Notwendigkeit zur Verbesserung der Bildungsgerechtigkeit – die Möglichkeit hat, seine Chancen zu ergreifen. Mein Weg von der Hauptschule bis zur Uni legt Zeugnis davon ab. Würde mich jemand als einen "Quotenschwarzen" bezeichnen, könnte ich ihm nur ins Gesicht lachen.
Ich weiß von Schwarzen, dass sie im gleichen Bewusstsein erzogen wurden und aufwuchsen, und dass sie ebenfalls teilweise Probleme mit rassistischen Anfeindungen hatten. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich umso ernüchternder, als "Quotenschwarzer" bezeichnet zu werden, nachdem man sich abgerackert und sich bewiesen hat – wie dies bei Ex-Fußball-Nationalspieler Dennis Aogo der Fall ist.
Einige sehen Parallelen in Lehmanns "Quotenschwarzer"-WhatsApp und den Äußerungen des Schalke-04-Aufsichtsratsvorsitzenden Clemens Tönnies über "die Afrikaner und ihre Fortpflanzung" vor zwei Jahren. Doch im Gegensatz zum Fall Tönnies wird in Disskusionen um Lehmanns Äußerung meist anerkannt, dass eine rassistisch konnontierte Beleidigung vorlag. Bei Tönnies hingegen überwog die Entlastungsrhetorik, dass man nicht jeden als Rassisten bezeichnen solle, der sich unbedacht äußert, weil dadurch die wahren Rassisten verniedlicht würden.
Eine solche Akzentuierung ist bereits eine Schieflage. Es gilt nicht zu klären, wer Rassist ist oder nicht, sondern es gilt, Rassismus als Betroffener, als Betroffene auch in seiner alltäglichen Erscheinung nicht hinnehmen zu müssen. Rassismus ist vielleicht nicht auszumerzen, aber man kann ihm die Gesellschaftsfähigkeit entziehen. Auch das ist ein langer Weg, der es umso notweniger macht, beim Alltagsrassismus hinzuschauen und ihn zu ächten.
Gerade im Fußball erleben Schwarze Rassismus regelmäßig und auf krasse Weise. Insofern ist es begrüßenswert, dass viele verstehen, dass "Quotenschwarzer" nicht einfach bedeutet, jemanden als guten Quotenbringer bezeichnen zu wollen, wie Jens Lehmann es gegenüber der BILD sagte:
"Ich habe bereits mit Dennis telefoniert und ihn um Verzeihung gebeten, wenn meine Äußerung despektierlich rübergekommen ist. Sie war überhaupt nicht so gemeint, sondern positiv. Da er als Sky-Experte fachkundig ist und in seinem Auftreten sehr stark. Und deshalb auch die Quote erhöht. Das wollte ich damit sagen, aber war von mir unglücklich ausgedrückt."
Nein Jens – Du wurdest nicht missverstanden, sondern hast rassistischen Mist abgesondert.
Jens Lehmann bekam die Konsequenzen seines Handelns zu spüren: Er verlor seinen Posten als Aufsichtsrat bei Hertha BSC, die Sender Sky und Sport1 verkündeten, ihn nicht mehr als Experten ins Studio einzuladen. Auch seinen Job als Botschafter der Laureus-Stiftung verlor er und sein Heimatverein erteilte ihm ein Hausverbot.
Sanktionierung und Ächtung sollten nicht an erster Stelle stehen
Man kann diese Sanktionen als konsequent erachten, sie aber auch kritisch sehen: Es ist einfach, Lehmann zu entlassen und dann das Thema abzuhaken, wenn man dabei außer Acht lässt, an wen Lehmann seine WhatsApp ursprünglich schickte. Anzunehmen ist, dass sie an eine Person aus dem Umfeld des Senders Sky ging. Jens Lehmann musste wohl auch mit einer positiven Resonanz auf seine Naricht gerechnet haben: Er fügte einen breiten Lachsmiley an. Mutmaßlich dachte er wohl, dass es ein passabler Witz sei oder er gar inhaltliche Zustimmung erführe. Es ist also nur die Spitze des Eisbergs, die mit der Entlassung Lehmanns angekratzt wurde.
Aus Sicht des Autors steht an erster Stelle nicht die schwere soziale Sanktionierung – sie kann folgen, muss es aber nicht – noch eine gnadenlose Ächtung. Es geht in erster Linie darum, gesellschaftliche Sprechfähigkeit zu erzielen, ein Bewusstsein für Rassismus zu schaffen, ihn zu benennen und ihm die Hoffähigkeit zu entziehen. Weiterhin geht es darum, Betroffene in die Lage zu versetzen, den Mund aufzumachen und sich zu wehren. Im Falle Lehmanns ist es auch berechtigt, dies öffentlich zu tun, denn es ist ein gewisses öffentliches Interesse vorhanden.
Lehmann hatte bei seiner ersten Entschuldigung eindeutig gezeigt, dass er nichts verstanden hat. In seiner erneuten Entschuldigung entschuldigte er sich dann für die Äußerung selbst und nicht nur für den "entstandenen Eindruck". Auch sagte er, dass man solche Äußerungen nicht machen dürfe, damit sie nicht gesellschaftsfähig werden. Er hat an Einsicht gewonnen und sich entschuldigt. Dennis Aogo sagte dazu: "Jeder Mensch macht Fehler, jeder Mensch hat eine zweite Chance verdient. (...) Für mich ist das Thema erledigt."
Recht hat er damit, dass jeder eine zweite Chance verdient hat. Dass das Thema damit erledigt sei, damit hat er freilich Unrecht. Das hängt aber damit zusammen, dass es zu einfach ist, zu glauben, dass durch eine Entlassung von Jens Lehmann das Thema erledigt sei. Die Gesellschaft macht es sich eben – sowohl mit scharfen Sanktionen wie Entlassungen als auch mit Shitstorms – zu einfach.
Jens Lehmann hat im zweiten Anlauf die richtigen Worte gefunden. Seine zweite Chance sollte nicht allzulange auf sich warten lassen.
15 Kommentare
Kommentare
Lambert, Helmut am Permanenter Link
Alahasse Baldé, der schwarze und behinderte Leistungssportler, sagt in einem kürzlichen Interview: Ich finde Rassismus fängt da an, wo andere Menschen gezielt wegen ihrer Herkunft beleidigt werden.
Das finde ich wesentlich überzeugender als die Ausführungen des Autors. Die schnellen Rassismus-Vorwürfe fördern die Unfreiheit und eine Spaltung der Gesellschaft, sind oft ehrabschneidend und in ihren Auswirkungen - siehe Lehmann - ganz unverhältnismäßig
Esiberto am Permanenter Link
Das sehe ich ähnlich.
Meine persönliche Perspektive ist auch, dass man bei all der Kritik,
die überall so dominant die Debatte bestimmt,
nie thematisiert wird was schon erreicht ist.
Ich nehme an, dass es keinen Zeitpunkt in der Vergangenheit,
keine Kultur
und kaum einen Ort gibt
an dem , wie auch immer "Diskriminierte"
bessere Lebensbedingungen vorfanden als hier und heute.
Die Vorstellung, dass alles noch viel perfekter werden,
und notfalls mit Sanktionen erzwungen werden müsse,
scheint mir überflüssig und sogar kontraproduktiv zu sein.
In meinem Verständnis kann man ablehnende Haltungen zu bestimmten Merkmalen von Menschen nicht "wegsanktionieren", man muss sie überzeugen, das braucht Zeit und Gelegenheit.
Und man wird niemals alle überzeugen.
Meines Wissens nach ist Jesus Christus der einzige "Mensch"
der ernsthaft propagiert hat jeden Menschen gleichermaßen zu lieben,
ganz unabhängig von seinen Eigenschaften.
Und er hat gesagt
"wer von euch ohne Sünde ist möge den ersten Stein werfen".
Heute würde es vielleicht heißen,
"wer von euch ohne jeden Vorbehalt ist, möge den ersten Stein werfen".
Und heute scheint mir die Situation so, dass einer einen dummen,
überflüssigen wie auch immer gearteten, von mir aus auch rassistischen Stein wirft,
und das wird dann mit einer ganzen Lawine von Steinen beantwortet,
und in Teilen mit dem Ziel der totalen Vernichtung auf möglichst vielen Ebenen.
Mit, in Teilen fast krankhaften anmutenden Unterstellungen über die Motive einer Äußerung.
Da von manchen Antirassisten mittlerweile sogar das "Weißsein" als Rassismus gewertet wir,
halte ich die antirassistische Bewegung in Teilen für sehr viel destruktiver für das zusammenleben in "bunten Gesellschaften", als die "Mehrheitsgesellschaft".
Helmut Lambert am Permanenter Link
Vielen Dank, Esiberto, Sie haben weiter ausgeführt, was ich nur komprimiert gesagt habe. Schön.
A.W. am Permanenter Link
Mir geht dieses " nachher entschuldigen" langsam echt auf die Nerven.
Hermann Klein am Permanenter Link
Der Kommentar ist nachdenklich und abwägend, und ich stimme ihm weitgehend zu. Wie auch den anderen Kommentaren von Herr Muamba, die ich nachgelesen habe.
Wenn eine Frau in einem Konzernvorstand als "Quotenfrau" beleidigt wird, scheint mir das kein Zeichen für "Frauenfeindschaft" oder "Sexismus", sondern ein unfairer Angriff gegen diese Frau, der die Qualifikation abgesprochen wird. Ebenso, wie neulich gelesen,eine Dirigentin befragt wurde, ob sie sich als Quotendirigentin sehen würde. Wieder keine herabsetzende Aussage über Dirigentinnen, sondern eine über diese Dirigentin. Wenn Herr Lehmann, weil mit Oliver Kahn der einzige Torwart unter den Fußballkommentatoren als "Quotentorwart" bezeichnet würde, wozu auch ich neigen könnte, dann wäre auch das keine herabsetzende Aussage gegenüber Torwarten, sondern eine etwas unfaire Bewertung von Herrn Lehmann als Fernsehkommentator. Sehe ich das falsch? Ist es dann mit "Quotenschwarzer" anders? Unfair und geschmacklos, aber nicht rassistisch? Versteh ich die deutsche Sprache falsch?
Esiberto am Permanenter Link
Ich finde sie sehen das absolut korrekt.
Bei der Umsetzung dieser Ideologie werden, analog zur Frauenquote, weitere Quoten definiert werden müssen.
Ob es bereits Namen für all diese Quoten gibt weiß ich nicht.
Insgesamt bin ich aber in mit der Ideologie sozialisiert, dass all diese Kriterien gerade keine Rolle spielen sollten, überhaupt gar keine.
Jetzt ist es plötzlich modern diese Eigenschaften überzubewerten und zu betonen.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Was ist denn mit "zweite Chance" gemeint? Klingt mir etwas kryptisch.
Leon Paysan am Permanenter Link
Bis vor wenigen Jahren sahen die meisten Leute auf der Straße einen Dennis, einen Mukeba oder den Typ im roten Pullover, wo sie heute, dank der ständigen Berichterstattung über tatsächlichen und vermeintlichen Rassism
Plötzlich erzählen einem Leute, man sei "weiß" - das hat es seit Jahrzehnten nicht gegeben.
Das Denken in Rassen war klar auf dem absteigenden Ast, aber heute wird es gerade durch die Antirassismusdebatte wieder in die Köpfe gesetzt.
Noch dazu ist der Rassismusbegriff heute so aufgeweicht worden, dass ein brauner Schokokeks, der "Afrika" heißt, auf einer Stufe mit Sklaverei, industriellem Massenmord und Kolonialmassakern steht.
Die heutige Rassismusdebatte relativiert die Verbrechen des Rassismus.
Im Kindergarten wird sich nicht mehr verkleidet, wer nicht gendert wird verbal vernichtet und wer ohne jede böse Absicht eine altmodische Formulierung verwendet, wird sofort entlassen.
Wenn das alles so weiter geht, wird man "den Schwarzen" nur mehr als Person ansehen, die das eigene öffentliche Ansehen, den Arbeitsplatz und die Karriere gefährdet.
Lieber nicht einstellen, der macht nur Ärger.
Lieber nicht mit dem sprechen, sonst sagst Du was Falsches und kannst Deinen Kram packen.
Ich mahne zur Vorsicht:
Wenn man Menschen, die keine Rassisten sind, nur oft genug vorwirft, welche zu sein, dann werden sie welche!
Können wir uns vielleicht darauf einigen:
Bewusstsein schaffen, ja klar!
Leute wegen Bagatellen beruflich und gesellschaftlich vernichten, nein!
An den wirklichen Rassisten geht die Debatte ohnehin völlig vorbei.
Esiberto am Permanenter Link
Ich bin exakt ihrer Meinung.
Heutige Antirassisten schaden allen mehr, als dass sie sie ein friedliches Zusammenleben in "bunten Gesellschaften" fördern.
Weber am Permanenter Link
Es ist wieder an der Zeit, das die Sprach als Gesinnungsbarometer missbraucht werden soll. Sicher beinhaltet die Sprache Aussagen, welche nicht immer angesagt sind oder Verzerrungen widerspiegeln.
Roland Weber am Permanenter Link
Warum muss man jegliche Misslichkeit/Dummheit zu einem Elefanten aufblasen?
Muss ich auch mit meiner Frau vor Gericht ziehen, wenn sie mich als Quoten-Mann bezeichnet?
In was für einer hysterischen Gesellschaft leben wir? Ist die Bezeichnung "Schwarzer" wirklich neutraler als "Neger"? Meine Wertung wäre - wenn schon - eher umgekehrt. Wie immer kommt es auf die Betonung und das Vorverständnis an. Mit "Rassismus" und "Sexismus" wird einfach alles plattgemacht, was (oder wer) einem nicht passt. Nun mag man mich als weißen Deppen bezeichnen - vielleicht sehen wir uns dann vor Gericht, aber nicht wegen dem "weißen" (warum ist das kein Rassismus?), sondern wegen dem "Deppen". Vielleicht gelingt mir der ultimative Gegenbeweis.
Wenn selbst Nachrichtensprecherinnen oder gar Filmschauspielerinnen oder schlicht nahezu alle Frauen keinesfalls auf ihr Dekolleté verzichten, ist das denn kein Sexismus? Dies wird in seiner Verlogenheit erst gar nicht thematisiert. Darüber sollte man (und ruhig auch einmal Frau!) vor allem einmal objektiv nachdenken. Mal ist es "passend", aber manchmal eben auch nicht. Wobei ich im Unterschied zu den verbalen Misslichkeiten davon ausgehe, dass keine Frau vesehentlich ein Kleid mit tiefem Ausschnitt anzieht. "Sehen Sie das nicht auch gern?" - geht als Antwort am eigentlichen Thema vorbei.
Wer behauptet, das Grundrecht der Meinungsfreiheit zu achten, sollte sich schwer überlegen, ob wirklich jeder Äußerung immer mit der Apothekenwaage gewogen werden und mit einer Keule beantwortet werden muss. Oft genug wäre der Sache mehr gedient, wenn man argumentieren statt keulenarig etikettieren würde. Ärgerlich ist für mich oft, dass stets mehr an Negativem unterstellt und hineininterpretiert wird, als überhaupt gesagt wurde.
Wer ständig mit Skandalisierungen aufwarten möchte, sollte sich einmal wirkliche Skandale vornehmen. Wie wär's mit Der Anstalt in der ZDF-Mediathek als Einstieg - oder (abgesetzt: Mann & Sieber), Richling und anderen Kabaretisten?
Thomas Baader am Permanenter Link
"Nein Jens – Du wurdest nicht missverstanden, sondern hast rassistischen Mist abgesondert"
Ich habe keine Neigung, Herrn Lehmann in Schutz zu nehmen. Ich kenne ihn zu wenig.
G. Hantke am Permanenter Link
Wer solche Banalitäten dermaßen hochnudelt, hat von den wahren Problemen dieser Welt offenbar keinen blassen Schimmer.
Die heutige Rassismusdebatte relativiert die Verbrechen des Rassismus.
Im übrigen ist für mein Verständnis ein „Quotenschwarzer“ eine Person, die man eingestellt hat oder beschäftigt, um entsprechenden Vorgaben oder Erwartungen zu genügen. So wie zB eine „Quotenfrau“, die ein Betrieb einstellt, um dem Verdacht entgegenzuwirken, man hätte was gegen Frauen. Dann ist –wenn überhaupt - die Gesinnung der Betriebsleitung zu beklagen, aber mit Rassismus hat das nun gar nichts zu tun.
Renton am Permanenter Link
Das größte Fehlverhalten in der Angelegenheit hat Dennis Aogo selbst an den Tag gelegt.
Man kann die Bemerkung Lehmanns für einen gelungenen Witz halten oder für anstößig. Das ist bei schwarzem Humor (und ich meine 'schwarz' hier nicht doppeldeutig, der Vergleich bietet sich einfach an) auch so. Aber wenn Aogo sich davon beleidigt fühlt, sollte er das mit Lehmann selbst klären. Es ist absolut schlechtes Benehmen, das ganze in die Öffentlichkeit zu zerren, alleine schon wegen des damit verbundenen Gesichtsverlustes für mindestens eine Partei, insbesondere jedoch hier, wenn man die völlig unverhältnismäßigen Folgen für Jens Lehmann in Betracht zieht. Aber immerhin hat Aogo inzwischen in einem Interview mit dem Tagesspiegel die Entlassung Lehmanns selbst als überzogen bezeichnet und spricht in dem Zusammenhang von Cancel Culture.
Den Rassismus in Lehmanns Äußerung sehe ich übrigens ebenso wenig wie andere Kommentatoren hier. Rassismus bedeutet die Wertung eines Menschen aufgrund seiner Ethnie oder Hautfarbe, in einem weiteren Sinne auch das Hegen von Vorurteilen. Wo war das denn in Lehmanns Äußerung enthalten? Aogo mag sich als Person angegriffen fühlen, weil "Quotenschwarzer" in seiner einen Bedeutung impliziert, er, Aogo, wäre eigentlich nicht fähig genug für seine Stelle. (Dass Lehmann "Quotenschwarzer" mit einer zweiten Bedeutung versieht, macht den Witz seiner Bemerkung aus.) Aber das ist, wenn schon, dann eine persönliche Abwertung, die auf Aogos Fähigkeiten als Moderator beruht, nicht auf seiner Hautfarbe. Eine Bezugnahme auf Hautfarbe allein ist noch kein Rassismus. Das ist genau so bescheuert, wie vor einiger Zeit in dem Champions-League-Spiel, als der vierte Schiedsrichter den Hauptschiedsrichter auf das Fehlverhalten eines Assistenzcoachs aufmerksam machte, und zur Identifizierung sagte: "Der Schwarze war es." Als ob das Rassismus wäre!
Nochmal zurück zu Dennis Aogo: Aogo hat inzwischen selbst berufliche Konsequenzen wegen einer misslichen Äußerung ("Trainieren bis zum Vergasen") erleiden müssen. Das mag mancher für höhere Gerechtigkeit halten, aber wie die Engländer sagen: Two wrongs don't make a right, aus zweimal Unrecht wird noch keine Gerechtigkeit. Unsere Gesellschaft sollte dringend abrüsten in Sachen Political Correctness.
Stefan P. am Permanenter Link
„A.W.“ schrieb am 11. Mai 2021 als Kommentar:
„Mir geht dieses 'nachher entschuldigen' langsam echt auf die Nerven.
Das erlebe ich genauso. Ironischerweise hat Dieter Nuhr selbst dieses Prinzip der nachträglichen Absolution mal prägnant formuliert – in Bezug auf den Katholizismus und die Beicht-Routine: „Man darf alles machen, man muss nur hinterher Bescheid sagen.“
Beliebt ist auch, selbst nach übelsten Äußerungen oder Aufdeckung ebensolcher Machenschaften von einem „Fehler“ zu sprechen – so, als sei man aus purem Zufall grad mal falsch abgebogen oder leide darunter fast selbst am meisten wie unter einem dummen Schnitzer in einer Klassenarbeit.
Noch beliebter als die medienwirksame Entschuldigung ist sicherlich, das Ganze als „Missverständnis“ oder „aus dem Zusammenhang gerissen“ zu charakterisieren – und Täter zu Opfern umzumünzen. In diese „niederpreisige“ Richtung ging ja wohl auch Lehmanns erster Versuch der Schadensbegrenzung nach der aktuellen Entgleisung.
In (Instagram-)Zeiten, in denen für mein Empfinden Menschenkenntnis zunehmend an der Oberfläche Halt macht und auch die Halbwertszeit von Nachrichten immer kürzer wird, kann man schon eine beachtliche Kette solcher Entgleisungen + „Zweiter Chancen, die fairerweise jedem zustehen“ kreieren.
Viele ordnen den Fall Lehmann auch als unwichtig ein. Sicherlich ist er nicht vergleichbar mit den globalen Themen unserer Zeit. Aber damit lässt sich bis auf den Weltuntergang alles relativieren. Die Konsequenz aus solcher Haltung ist regelmäßig „keine Konsequenzen“ - zum Nutzen für Täter und zu Schaden des sozialen Klimas.
Ich sehe diesen Fall auch als idealtypisch, was den gesellschaftlichen Umgang mit prominentem antisozialen Verhalten betrifft. Auf YouTube kann man einen Eindruck davon bekommen, wie Lehmanns sportliche Leistungen (zu Recht!) weithin gefeiert werden und er sich nach wie vor im Raum öffentlicher Aufmerksamkeit bewegt – kein Zufall, dass auch sein (zufällig ans Licht gelangtes) neuerliches Fehlverhalten wieder breit gesellschaftlich diskutiert wird.
Dabei geht es nicht ausschließlich um die Person des Herrn Lehmann. Vielmehr wird dabei auch stellvertretend und immer neu über gesellschaftliche Narrative und Umgangsformen verhandelt. Verschiebungen passieren zwar meist allmählich, Vorbilder fungieren jedoch mitunter als Beschleuniger, werden manchmal gar zu Türöffnern und im negativen Fall zu Brandbeschleunigern.
Mir persönlich fiel Lehmann erst relativ spät im Verlauf seiner Rüpelkarriere auf, nämlich am 17.03.2002, als er nach einem Zweikampf gegen einen am Boden liegenden Spieler nachtrat. Der Schiedsrichter bekam es nicht mit, nachträglich gab es jedoch 4 Spiele Sperre. Dazu hieß es damals in der RP:
„Der Torhüter von Borussia Dortmund, der sich am Dienstag in einer öffentlichen Erklärung für sein Verhalten bei allen Beteiligten entschuldigte, hat nach Auffassung des Vorsitzenden Einzelrichters Rainer Koch (Poing) 'eine Tätlichkeit gegen den Gegner in Form des krass sportwidrigen Verhaltens nach einer zuvor an ihm begangenen sportwidrigen Handlung' begangen.
'Ich habe im Affekt nachgetreten, weil ich dachte, er hätte mir die Kniescheibe gebrochen. Noch während ich trat, wollte ich meinen Fuß zurückziehen, weil ich sah, dass es dumm von mir war zu treten. Es war leider schon zu spät', entschuldigte er sich. Bei Coulibaly, SC-Trainer Finke und seinen Mannschaftskameraden habe er sich bereits entschuldigt, so Lehmann , ...
DFB-Trainer Uli Stielike ging mit Lehmann hart ins Gericht. 'Er scheint sehr jähzornig zu sein, aber das ist ja keine Entschuldigung. Für solche Entgleisungen gibt es einfach keine Entschuldigung', sagte der Ex-Nationalspieler im Interview: 'Insofern ist er kein Vorbild.'
Für den ehemaligen Spanien-'Legionär' ist aber nicht nur der Ausraster Lehmanns fragwürdig, sondern auch seine Aussagen danach: 'Eine Sache sind ja bei Lehmann die Entgleisungen. Aber was ja genauso schön ist, sind die Interviews, die er anschließend gibt. Wenn er sich da hinstellt und sagt, er habe Coulibaly wahrscheinlich ein bisschen berührt. Wenn er wenigstens zu seinem Verhalten stehen würde.'
Hat da irgendjemand ein Dejà-vu, der das 19 Jahre später liest? Damals hätte ich auch noch gesagt, eine zweite Chance soll jeder bekommen. Man kann jedoch vielerorts (meist ziemlich unvollständig) nachlesen, was 19 Folgejahre der anlasslosen und nichts dazulernenden Nachsicht pädagogisch so bewirken:
https://rp-online.de/sport/fussball/bundesliga/die-aussetzer-des-jens-lehmann_bid-9354081#4
Einen Appell im Jahr 2021 für eine „zweite Chance“ für JL, nachdem er im zweiten Anlauf mal wieder den richtigen Text aufgesagt hat, würde ich eher umformulieren in „Neues Spiel, neues Glück - mal sehen, wie lange es diesmal hält“.
Ich begrüße entschieden eine Politik der ausgestreckten Hand und des Verzeihens. Es darf aber nicht blind passieren, sondern muss eine reale Basis haben, sonst wirkt es nicht konstruktiv, sondern destruktiv, indem es Fehlverhalten den Rahmen gibt, den es braucht.
Max Goldt berichtete einmal von einem Schild, das er am Schaufenster eines Geschäfts entdeckte mit der Aufschrift. „Liebe Leute, hier bitte leider keine Fahrräder abstellen.“ Folgerichtig nahmen zahlreiche Radfahrer die Einladung an, dem freundlichen Ladeninhaber auf der Nase herumzutanzen - es wimmelte von abgestellten Fahrrädern.
Mit der „x mal 2ten Chance“ ist niemandem mehr gedient – nicht einmal Lehmann selbst. Das Einzige, was er daraus noch lernen könnte, wäre, sein angelerntes Pseudo-Sozialverhalten taktisch noch weiter zu optimieren. Und noch etwas vorsichtiger zu sein, damit er nicht wieder unfreiwillig einen Blick hinter dessen Kulissen gewährt wie jüngst mit seinem rassistischen Spruch.
Auch als Teil der Ermöglichungskultur sehe ich die Tendenz, bei fortgesetztem antisozialem Verhalten jedem Betätigungsfeld (Unsportlichkeit, Alltagsrüpeleien, Homophobie, Rassismus, Frauenfeindlichkeit usw.) ein eigenes Konto zu eröffnen.
So etwas ergibt sich, wenn sich jede gesellschaftliche Gruppierung immer nur dann interessiert zeigt, wenn ihresgleichen Zielscheibe ist. Da wird dann zwar zu Recht Solidarität der Gemeinschaft erwartet und eingefordert – aber wo bleibt die eigene Solidarität mit anderen? Eine Solidargemeinschaft entsteht überhaupt erst dadurch, dass sich alle für alle einsetzen.
Besonders kritisch sehe ich im Artikel die Forderung, „Seine zweite Chance sollte nicht allzu lange auf sich warten lassen.“
Ich denke, nach jahrzehntelangen Erfahrungen lehne ich mich nicht zu weit aus dem Fenster mit der Prognose „je weniger konsequent die Konsequenzen und je kürzer die Zeit zum Nachdenken, desto schneller geht die 'Zweite-Chance-Wette' in die Hose“.
Ich plädiere mitnichten dafür, Menschen aus Prinzip für alle Zeit abzustempeln, sondern wirklich hinzuschauen. Es gibt, auch in der Öffentlichkeit stehend, durchaus Menschen, die eine wahrhafte Läuterung erleben, die danach ihre (oft besondere) Energie und Fähigkeiten konstruktiv kanalisieren und sich manchmal gar dem Einsatz für ihre Opfer verschreiben („vom Saulus zum Paulus“ - man verzeihe mir diese religiöse Metapher). Das hat dann eine besondere positive Vorbildfunktion.
Dazu gehört aber mehr. Ich spreche von einem Nachdenken und einer inneren Bewegung, die nicht erledigt sind in der Zeit zwischen zwei schnellen Pressestatements.