Kurz vorm Champions-League-Finale verkündet der deutsche Trainer die Qualitäten seines Teams: Verbissenheit. Besessenheit. Hunger. Härte. Hm! Sind das wirklich Eigenschaften, denen die Jugend der Welt nacheifern soll?
Ja, was sind denn nun die deutschen Tugenden? Am Sonntag wird die ganze Welt sie einmal mehr erfahren dürfen, wenn zwei deutsche Trainer ihre mit unfassbaren Geldsummen hochgejazzten Mannschaften aufeinander loslassen: Finale der Champions League. Hansi Flick von Bayern München steht für die deutschen Tugenden Drögheit und Dienstherrentreue, jahrtausendelang ist er ein braver Vasall seines jeweiligen Vorgesetzten gewesen, um dann, als er gerufen wurde, uneitel die Lücke zu füllen. Wir können ihn an dieser Stelle aus der Kolumne entlassen und wünschen ihm für die berufliche Zukunft alles Gute.
Thomas Tuchel hingegen kann man, hat man ihn zuletzt sprechen sehen, nicht so einfach wieder vergessen. Der Mann macht, dass man sich unruhig rumwälzt im Schlaf. Nach dem Halbfinalsieg seiner Erdöl-Pariser gegen die Dosenverkäufer von PR Leipzig sah man auf kicker.de ein Video, in dem Thomas Tuchel den Erfolg seiner Mannschaft erklärte. Und so wie er da sprach, leise, beschwörerisch, hager, stand er für die deutschen Tugenden Innerlichkeit, Humorlosigkeit und stille Drohung, jeden Moment brutal losschlagen zu können. Seine verstörende Inbrunst war etwas, das man bis dahin nur selten mit dem Bewegungssport Fußball in Verbindung gebracht hatte, und er formulierte, jederzeit anklickbar für die Jugend der Welt, ein Trio von Tugenden: Hunger. Verbissenheit. Besessenheit.
Da fragt man sich, auch als alter Fußballfan, schon: Ist das noch mein Sport? Wo sind nur die Zeiten hin, da über Schönheit, Eleganz, Antizipation, Handlungsschnelligkeit und meinethalben Effizienz philosophiert wurde? Verzweifeltes Husten dringt aus der Villa Menotti, und in seinem Grab stöhnt laut Kollege Sócrates. Hat Tuchel hier etwas anderes verkündet als das, was man jeder Eroberungsarmee kurz vorm Losschlagen mit auf den Weg geben würde? Musste er nachfolgend wirklich noch das Wort "stählen" verwenden, jede Niederlage mache einen nur härter?
Da nämlich fiel mir ein, was da leise anklang in Tuchels Tugendkatalog: Hart wie Kruppstahl sollt ihr sein! Und, wie ging das noch weiter, hungrig wie Windhunde? Ich komm' nicht drauf. Aber es ist auch heiß, sehr heiß. Und mir fehlt gerade ein bisschen die verbissene Besessenheit, den Gedanken zu Ende zu bringen. Schönen Abend jedenfalls! Abends gern was Gutes grillen, in der Plansche planschen, schlechte Gummibälle unbedarft ins Gebüsch kicken – wie das Spaß macht!
6 Kommentare
Kommentare
Fritz Ehret am Permanenter Link
Wem die angeführten Tugenden zum Gewinnen eines Wettkampfes nicht gefallen, der versuche es doch einmal mit den christlichen Werten wie Demut und Nächstenliebe. Der Ausgang wäre offensichtlich.
Helmut Lambert am Permanenter Link
Sie legen die allgemeinen Massstäbe unserer Alltagstugenden an. Klar, dass man damit - alleine - nicht ins Finale der Chamgionsleage kommt! Dafür bedarf es weiterer Qualitäten.
David Z am Permanenter Link
Fussball ist Kampf. Das war noch nie anders. "Schönheit" und "Eleganz" finden Sie beim Synchronschwimmen.
Christian Meißner am Permanenter Link
Ich schlage vor, wir richten - wie damals im DDR-Eishockey - eine Zwei-Teams-Bundesliga ein: Mit dem FC St. Pauli und dem RB Leipzig.
Dann haben wir statt Friede-Freude-Eierkuchen wenigstens so etwas wie Klassenkampf auf dem Rasen: "Auf zum letzten Gefecht" vs "I've been looking for freedom" - oder so ähnlich.
Wie der Fußball im vollendeten Kommunismus aussieht, weiß ich allerdings auch nicht. Ich weiß ja nicht Mal, wie der vollendete Kommunismus aussieht - und will es mir auch gar nicht vorstellen. Aber egal: Dieser kommt wahrscheinlich sowieso nicht - so, wie die Zwei-Teams-Bundesliga.
Wir werden uns folglich an den geregelten Wettbewerb zwischen den Akteuren als Garant für Wohlstand und Wohlbefinden gewöhnen müssen.
Christian Meißner am Permanenter Link
PS: Als HSV-Anhänger und Zeitzeuge der real abgewirtschafteten DDR möchte ich anmerken, dass es sich bei meinem obigen Beitrag um Satire handelt.
A.S. am Permanenter Link
Sind die Bundesliga-Fußballspiele mit ihren Fans und Hooligans nicht soetwas wie Raubüberfälle auf eine fremde Stadt?
Fußball ist in meinen Augen eine kulturell überformte Variante von Kriegszügen/Beutezügen und fördert / erfordert die entsprechenden Tugenden bis hin zur Selbstaufopferung für den "Fußballgott".