Missbrauchsbilder und Chatkontrolle

"Wie können wir es aussehen lassen, als würden wir etwas tun?"

Nur wenige Menschen haben so tiefe, schmerzliche und kluge Einblicke in das Thema Missbrauchsabbildungen ("Kinderpornografie") wie Alexander Hanff. In diesem Interview erklärt er, warum die geplante ePrivacy-Ausnahmeregelung der EU nicht funktionieren, sondern viel Schaden anrichten wird.

Alexander Hanff, selbst Überlebender von massivem Kindesmissbrauch, klagte zunächst vergeblich, später mit Erfolg gegen seine Peiniger. Er gründete Online-Selbsthilfegruppen. Als Computerexperte half er der Polizei, Kinderporno-Ringe zu zerschlagen. Er ist Unternehmer, Forscher und Lobbyist in Sachen Privacy. Und er hat die EU bereits im Vorfeld der DSGVO beraten. In Bezug auf Kinderpornografie warnt er eindringlich davor, das Problem technologisch lösen zu wollen – und zwar aus seiner ganz persönlichen Erfahrung heraus. Ich habe mit ihm im Rahmen unserer Kampagne gegen Chatcontrol gesprochen.

Peder Iblher: Du bist jemand, der sich bemerkenswert klar und unerschrocken zum Thema Kindesmissbrauch äußert. Könntest du uns etwas über deinen persönlichen Hintergrund erzählen?

Alexander Hanff: Ich habe in Großbritannien ein Internat besucht, eine staatlich finanzierte Schule für Jungen mit hohem IQ. In diesem Umfeld war ich sexuellem und körperlichem Missbrauch durch einige der Betreuer ausgesetzt.

Ich verließ die Schule im Jahr 1990. Und 1991 wurde ich von der Polizei gebeten, in einer Untersuchung über den Missbrauch an der Schule auszusagen, was ich auch tat. Leider entschied die Staatsanwaltschaft damals, den Fall nicht vor Gericht zu bringen, trotz umfangreicher Beweise zu etwa hundert Anklagepunkten. Vermutlich kam es nicht zur Verhandlung, weil das eine große Peinlichkeit für die Regierung gewesen wäre. Damals, in den frühen 90er Jahren, wurden diese Dinge noch kaum in der Öffentlichkeit diskutiert. Es kam also nicht zur Verhandlung – und das war das Letzte, was ich dann, 2012, davon gehört habe.

Ich hatte persönlich erhebliche Schwierigkeiten. Infolge des Missbrauchs habe ich unter Depressionen gelitten. Ich habe mehrmals versucht, mir das Leben zu nehmen. Ich hatte furchtbare Schlafstörungen und war manchmal vier bis neun Tage am Stück ohne Schlaf. Das war also ein riesiges Problem für mich und hatte einen starken Einfluss auf mein Leben. Ich hatte das Gefühl, dass etwas getan werden musste, damit man diese Probleme nicht einfach unter den Teppich kehrt. Dass wir das untersuchen müssten, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun – und dass wir verhindern könnten, dass dies in Zukunft anderen passiert.

Im Jahr 2012 kontaktierte ich den Guardian. Ich erzählte meine Geschichte in einem Videointerview, was zu einer riesigen Untersuchung führte, zur Wiederaufnahme der polizeilichen Ermittlungen und zu Verurteilungen wegen des Missbrauchs an 28 Jungen in der Schule, von denen ich einer war. Wäre ich also nicht rausgekommen und hätte meine Geschichte erzählt, wäre das nie passiert. All diese Jungen hätten nie Gerechtigkeit erfahren und die Täter wären nie verurteilt worden. Es war also wirklich wichtig für mich, dies zu tun, und es blieb nicht das Einzige, woran ich beteiligt war.

Was gab es denn noch?

Damals habe ich die wahrscheinlich erste Online-Selbsthilfegruppe für Missbrauchsopfer gegründet. Ich habe auch mit Polizeien weltweit zusammengearbeitet, um Menschen aufzuspüren, die mit Kinderpornografie handeln und diese durch Online-Chatrooms usw. verbreiten. Das war damals ein sehr frühes Stadium des Internets, praktisch kurz nachdem es zugänglich geworden war. Das waren alles Terminal-basierte Systeme, textbasierte Systeme ohne grafische Oberflächen etc. Es war also wirklich ein neues Gebiet für die Polizei, die nicht viel technisches Wissen hatte. Als der Computer-Nerd, der ich bin, konnte ich sie mit den Informationen versorgen, mit denen sie ihre Ermittlungen durchführen konnten.

Ich war an einem besonders großen Fall namens "The Orchid Club" beteiligt, der zu einer riesigen Razzia gegen einen globalen Kinderporno-Ring in den frühen 90er Jahren führte. Ich war also als Opfer oder Überlebender von Missbrauch involviert, aber auch als jemand, der versucht, anderen Opfern und Überlebenden von Missbrauch zu helfen. Und der die Strafverfolgungsbehörden dabei unterstützt, diese Probleme zu verhindern, wie zum Beispiel bezahlten Online-Missbrauch. Das war über lange Zeit ein wichtiger Teil meines Lebens.

"Menschen, die missbraucht worden sind, sind ihrer Würde beraubt worden."

Man könnte ja denken, dass der Abbau von Privatsphäre jemandem gelegen käme, der versucht, Täter zu überführen. Aber das ist bei dir nicht der Fall?

Wie du weißt, bin ich ein Verfechter der Privatsphäre. Als Informatiker war ich Mitte der 2000er Jahre ziemlich besorgt darüber, wie die Technologie sich weiterentwickelt und genutzt wird, um Menschen zu kontrollieren und zu manipulieren. Also ging ich zurück an die Uni und studierte als Soziologe die Auswirkungen von Technologie auf die Gesellschaft. Ich konzentrierte mich dabei auf Dinge wie Überwachung und Grundrechte. Und da wurde mir bald klar, dass wir ein Problem haben. Technologie wurde auf eine Weise genutzt, die nicht gut für die Bürgerrechte oder die Demokratie war, sondern für Kontrolle und für Manipulation und Überwachung.

Ich habe dann eine Kampagne geleitet, die weitreichende Änderungen an EU-Gesetzen wie der DSGVO bewirkte. Ich wurde Mitglied bei Privacy International, einer der weltweit größten und ältesten Datenschutz-NGOs, und habe drei Jahre lang deren E-Privacy-Programm geleitet. Seitdem bin ich stark in die Entwicklung des EU-Rechts involviert und arbeite mit Unternehmen an Privacy by Design, Datenethik und privacy-freundlichen Technologien, als Datenschutztechniker und -ingenieur. Und ich doziere auch über Datenethik an der Singularity University, einem akademischen Zentrum im Silicon Valley. Ich habe also ein persönliches Interesse an beiden Seiten: Ich sehe sowohl die Auswirkungen auf den Einzelnen, aber auch die Auswirkungen der Überwachung auf die Gesellschaft.

Du hast dich klar gegen die geplante ePrivacy Derogation in der EU ausgesprochen. Wie kam es dazu?

Zum ersten Mal hörte ich von diesem Thema, dieser von der Europäischen Kommission vorgeschlagenen Ausnahmeregelung, als der Europäische Datenschutzbeauftragte einen Bericht über diesen Entwurf geschrieben hatte, in dem kein gutes Haar an der Sache gelassen wurde. Die Kritik war vernichtend. Aus genau den Gründen, aus denen wir heute diese Diskussion führen.

Ich war der Meinung, dass es nicht verhältnismäßig und nicht geeignet war. Es würde zur Auflösung von Grundrechten der Europäischen Grundrechtecharta führen, wie zum Beispiel das Recht auf Privatsphäre und das Recht auf Vertraulichkeit in der Kommunikation.

Das war meine erste Begegnung mit dieser Ausnahmeregelung. Dann hat sich Patrick Breyer mit mir in Verbindung gesetzt, weil ich einige Kommentare dazu online gestellt habe. So war ich in den letzten sechs, acht Monaten an einer Reihe von Diskussionen im Europäischen Parlament zu diesem Thema beteiligt. Und aus meiner Perspektive, sowohl als Überlebender von Missbrauch als auch als Technologe und Verfechter des Datenschutzes, sollten wir uns folgendes klar machen:

Menschen, die missbraucht worden sind, sind ihrer Würde beraubt worden. Ihnen wurden schon viele der Grundrechte auf eine Art entrissen, über die sie keine Kontrolle hatten. Und sie sind auch auf Gundrechte angewiesen, etwa das Recht auf Vertraulichkeit, um Unterstützung dabei zu bekommen, mit dem Trauma und den vielen Fällen von PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung, Anm. d. Red.) umzugehen, die durch den Missbrauch verursacht wurden. Und auch, um die Verbrechen zu melden.

Bei mir war es zum Beispiel so, als ich mich meldete und dem Guardian meine Geschichte erzählte: Hätte es nicht die Möglichkeit gegeben, effektiv und vertraulich zu kommunizieren, hätte ich mich sehr unwohl dabei gefühlt.

Und nicht zu vergessen: Missbrauchsopfer leiden bereits unter großen Vertrauensproblemen, weil ihr Vertrauen in der Vergangenheit ausgenutzt und gegen sie verwendet wurde, ja? Die Vertraulichkeit der Kommunikation ist hier also besonders wichtig. Und die ePrivacy-Derogation, die darauf abzielt, diese Vertraulichkeit der Kommunikation zu untergraben, setzt Missbrauchsopfer einem noch größeren Trauma, einer noch stärkeren Einschränkung ihrer Rechte und einer Entmenschlichung aus. Nicht nur, dass wir die Forschung verhindern, wir verhindern auch, dass Hilfsdienste etc. ihre Arbeit effektiv erledigen können.

"Es ist nicht angemessen, es ist nicht geeignet und ich würde behaupten, dass es nicht einmal nach europäischem Recht anwendbar ist."

Ich habe meist an Durchschnittsbürger gedacht oder vielleicht Entscheidungsträger, Anwälte oder ähnliches, die durch Zufall in den Verdacht geraten können, pädophile Täter zu sein. Ein riesiges Feld des Misstrauens und möglicherweise auch der Erpressung. Aber Forscher …?

Die Tools, die aufgrund dieser Ausnahmeregelung eingesetzt werden, sind sehr fehleranfällig, sie haben eine hohe Rate an Falsch-Positiven. Das bedeutet, dass wir am Ende Menschen, die wertvolle Forschung betreiben, oder Menschen, die Opfer und Überlebende von Missbrauch unterstützen, als Falsch-Positive "erwischen" werden – und das kann ihr Leben ruinieren. Es kann wirklich zum Verlust ihres Arbeitsplatzes führen. Es kann zur Zerstörung von Familien, Freundschaften und Beziehungen führen, alles unter der falschen Annahme, dass diese Leute in sexuelle Ausbeutung von Kindern verwickelt sind. Weil sie in einem Bereich arbeiten, der es erfordert, dass sie zu diesen Themen forschen oder Opfer und Überlebende von Missbrauch unterstützen.

Es gibt also eine ganze Reihe von Problemen rund um diese Regelung, die unbedingt angesprochen werden müssen. Und die sehr klar machen, dass dies kein geeigneter Weg ist, um mit dem Problem der Verbreitung von sexuellen Bildern oder dem Missbrauch von Kindern im Internet umzugehen. Es ist nicht angemessen, es ist nicht geeignet und ich würde behaupten, dass es nicht einmal nach europäischem Recht anwendbar ist. Es ist kein nach europäischem Recht gangbarer Weg.

Es gibt zahllose Fälle von europäischen Gerichten, die verschiedene Arten von Überwachung erforderlich machen. Wohlgemerkt eine Überwachung, die gezielt und an den Zweck der Strafverfolgung etc. gebunden sein muss. Keine flächendeckende Überwachung, denn diese gilt nach EU-Recht nicht als verhältnismäßig. Und das ist eine Grundlage des EU-Rechts, dass wir die Verhältnismäßigkeit wahren müssen. Es muss eine Notwendigkeit bestehen, bevor wir mit solchen Eingriffen in unsere Grundrechte arbeiten.

Mir fällt es manchmal etwas schwer, hier mit der "Verhältnismäßigkeit" zu argumentieren – weil Kindesmissbrauch ein so ultimatives Verbrechen und eine so emotionale Angelegenheit ist, dass kein Mittel hart genug erscheint, um dagegen anzugehen.

Das erste, was wir verstehen müssen, ist: Kindesmissbrauch ist kein technisches Problem. Kindesmissbrauch ist ein gesellschaftliches Problem. Es ist ein Problem, das es schon so lange gibt, wie es Gesellschaften gibt. Die sexuelle Ausbeutung von Kindern ist so alt wie die Geschichte. Der Versuch, ein soziologisches Problem mit Technologie anzugehen, ist wie Äpfel mit Orangen vergleichen, die beiden sind einfach nicht miteinander vereinbar.

Vergesst nicht, dass diese Technologie, über die wir hier sprechen, den Missbrauch nicht verhindert. Sie ermöglicht es lediglich, die Verbreitung der Folgen – die Bilder der missbrauchten Kinder – online zu melden. Und dabei sprechen wir wieder nur über die Plattformen, auf denen diese Werkzeuge eingesetzt werden. Es können aber viele andere Plattformen und Netzwerke zur Verbreitung dieses Materials eingerichtet werden, die keiner Überwachung unterliegen, weil sie von den Tätern selbst kontrolliert werden.

Wir reden da von Mesh- und Onion-Root-Netzwerken, wie TOR und dem Dark Web zum Beispiel. Umgebungen, für die es keine Kontrolle gibt, keine Werkzeuge, um diese Art der Nutzung zu erkennen. Während diese Werkzeuge auf Sozialen Medien und gemeinsamen Plattformen ausgerollt werden. Die Kriminellen werden ihre Aktivitäten einfach in den Untergrund verlagern. Sie werden in andere Umgebungen gehen, wo es diese Werkzeuge nicht gibt.

Und wie ich schon sagte, wir haben es hier nicht mit dem Missbrauch selbst zu tun. Wenn du siehst, dass jemand Bilder von einem Kind benutzt, das sexuell missbraucht wird, dann hat der Missbrauch bereits stattgefunden. Was wir also tun müssen, ist zu überlegen, warum er stattfindet und zu verhindern, dass er überhaupt stattfindet.

An meiner ersten Universität, an der ich gearbeitet habe, habe ich die Rückfallquote von Sexualstraftätern untersucht. Ich habe Psychologie und Informatik studiert. Und eines der Dinge, die mir sehr klar wurden, war, dass Missbrauchstäter ihr Verhalten als normal ansehen. Das ist eine sehr häufige Beobachtung, wenn man mit Straftätern im Bereich der Sexualdelikte spricht.

Und dann sollten wir uns einige Dinge in der Gesellschaft anschauen, die wir scheinbar jeden Tag akzeptieren. Zum Beispiel die Sexualisierung von Kindern in der Werbung, in der Unterhaltungsindustrie, in Filmen, in der Musikindustrie und in der Modeindustrie. Wir sehen, dass es alltäglich ist, dass Heranwachsende oder Teenager sich aufreizend bis sexuell promiskuitiv kleiden und verhalten, zur Unterhaltung, für die Werbung und Mode. Das hilft, das Verhalten in den Augen der Täter zu normalisieren, oder?

Ultrakonservative warnen ja oft vor einer "Sexualisierung" der Kinder, wenn es um die Sexualerziehung geht. Aber in diesem Zusammenhang macht der Begriff Sinn …

Die Täter sehen das als Normalisierung ihres Verhaltens. Ich würde also lieber sehen, dass mehr Geld für die Forschung ausgegeben wird, daran mangelt es ganz spürbar. Das meiste Geld fließt in "Wie können wir es aussehen lassen, als ob wir etwas tun?"; wie können wir dieses Problem mit Technologie oder KI zuschmeißen, anstatt die Ursache des Problems zu bekämpfen, um zu verhindern, dass die Kinder überhaupt missbraucht werden? Wie zum Beispiel in diese Initiative der Europäischen Kommission.

Etwas, was mir immer im Gedächtnis bleiben wird, war ein Gespräch, das ich mit meinem damaligen Professor hatte. Ich hatte zu kämpfen, weil ich ein Opfer oder Überlebender von Missbrauch bin und aus einer Familie stamme, die der Missbrauch buchstäblich zerrissen hat. Dieses Thema zu studieren war vielleicht nicht die beste Medizin für mich. Aber ich wollte versuchen, es besser zu verstehen und sehen, ob ich vielleicht etwas dagegen tun kann. Und das wurde dann schwierig für mich. Also hatte ich ein Treffen mit meinem Professor und er sagte zu mir:

"Wenn du am Ufer des Kanals entlang gehst und ein Kind im Fluss ertrinken siehst, was würdest du tun?" Ich antwortete: "Ich springe rein und versuche, das Kind zu retten." Und er sagte: "Nun, und wenn du jede Minute ein anderes Kind unten im Fluss ertrinken siehst, was tust du dann?" Ich antwortete: "Naja, ich versuche, alle Kinder zu retten." Da sagte er: "Aber es kommt ein Punkt, an dem das nicht mehr möglich ist, wo es zu viele Kinder gibt und dich nur einmal. Du kannst nicht alle retten. Meinst du also nicht, dass es sinnvoller wäre, flussaufwärts zu gehen und zu schauen, warum die Kinder überhaupt im Fluss gelandet sind?"

Und da ging mir ein Licht auf. Wir sprechen hier von Ursache und Wirkung. Beschäftigen wir uns damit, bevor die Folge eintritt. Finden wir heraus, warum die Kinder in dieser Metapher im Fluss gelandet sind. Dann könnten wir vielleicht verhindern, dass sie überhaupt im Fluss landen und vermeiden, das wir hineinspringen müssen und versuchen, sie vor dem Ertrinken zu retten und überwältigt zu werden.

Wenn du darüber nachdenkst, dann weißt du, dass die Bilder, die im Nachhinein verbreitet werden, tatsächlich die Kinder im Fluss sind. Und die Werkzeuge, die benutzt werden, um diese Bilder aus dem Internet zu entfernen, sind im Grunde ich, der in den Fluss springt, um diese Kinder zu retten. Und egal wie viele Werkzeuge du hast, es könnten 50 von mir sein, du wirst nie in der Lage sein, mit ihnen Schritt zu halten. Wir wollen verhindern, dass so etwas überhaupt erst passiert. Also müssen wir zurückgehen und uns anschauen: Warum werden diese Kinder überhaupt missbraucht? Und darauf müssen wir unsere Bemühungen konzentrieren.

Ja, wir müssen uns auch gegen die Folgen schützen, aber das sollte nicht die Priorität sein. Die Priorität sollte sein zu verhindern, dass dies überhaupt erst geschieht. Es sollte also präventiv sein und nicht lindernd oder reaktiv. Das ist ein Aspekt, der leider fehlt, wenn wir uns mit diesen Themen beschäftigen. Und das nicht nur auf europäischer Ebene, sondern auf globaler Ebene. Man fokussiert nicht auf den Umgang damit, wie es passiert, sonden nur darauf, es so aussehen zu lassen, als würde es nicht passieren. Aber der Versuch, dies aus der Geschichte zu löschen oder unter den Teppich zu kehren, wird niemals helfen. Die Kinder werden immer noch missbraucht werden und die Konsequenzen dieses Missbrauchs werden diese Kinder für den Rest ihres Lebens begleiten. Und es macht mich wirklich traurig, als erwachsener Mann zu erkennen, dass wir nach all der Zeit immer noch nicht begriffen haben, dass wir in der Gesellschaft etwas auf dieser Ebene tun müssen, anstatt nur zu versuchen, es unter den Teppich zu kehren, mit den Schultern zu zucken oder ein Pflaster darüber zu kleben.

"Kindesmissbrauch ist kein technisches Problem. Kindesmissbrauch ist ein gesellschaftliches Problem."

Als du der Polizei geholfen hast, wie hast du ihre Arbeitsweise und Ausstattung erlebt? Wie sind sie in ihrer Polizeiarbeit mit der Sache umgegangen?

Das reicht ja zurück in die frühen 90er Jahre. Wenn ich also von vor fast 30 Jahren spreche, würde ich sagen, dass die Polizei sich definitiv Mühe gab. Es gab ein echtes Bemühen, die Technologien zu verstehen, die verwendet werden, um dieses Material zu entschärfen. Aber trotz dieser Bemühungen fehlte es an Qualifikation, an Erfahrung mit digitalen Plattformen und digitalen Werkzeugen. Und selbst jetzt, wenn du nicht eine besonders große Polizeibehörde bist, sind deine Möglichkeiten aus technischer Sicht ziemlich begrenzt. Und diese Fälle sind eher den spezialisierten Cyber-Abteilungen der größeren Polizeikräfte vorbehalten, wie zum Beispiel der Metropolitan Police in Großbritannien. Generell würde ich also sagen, dass es innerhalb der Strafverfolgungsbehörden an Fähigkeiten mangelt, um diese Fälle zu bearbeiten.

Eine weitere Sache, die wichtig zu verstehen ist, ist: Wenn wir über KI und automatisierte Werkzeuge sprechen, die jedes Jahr buchstäblich Milliarden von Kommunikationen scannen, so gab es nur sehr wenige Fälle, die sich auf diese Beweise gestützt haben, um vor Gericht eine Verurteilung zu erreichen. Bis heute wurden in Europa nur etwa 60 Fälle in Bezug auf die eingesetzten Tools bekannt. Und selbst in diesen 60 Fällen – und man bedenke, dass wir über Milliarden von kompromittierten Kommunikationen sprechen – waren nur wenige das direkte Ergebnis des Scannens. Viele dieser Verurteilungen oder Strafverfolgungen basierten immer noch darauf, dass eine Person die Straftaten aktiv bei den Strafverfolgungsbehörden meldete, so dass die gescannten Daten lediglich eine Ergänzung waren.

Wir sprechen ja auch über Verhältnismäßigkeit. Wenn es in Ordnung ist, die Kommunikation jedes einzelnen EU-Bürgers für jede Online-Kommunikation zu lesen, jede Minute, jeden Tag – also buchstäblich Milliarden von Kommunikationssträngen – und wir haben im Ergebnis nur eine Handvoll Verurteilungen … Können wir das als verhältnismäßig ansehen? Die Antwort ist absolut: "Nein"! Das ist nicht, was wir nach EU-Recht als verhältnismäßig ansehen würden.

In den Diskussionen, die ich mit Patrick Breyer geführt habe, und in den Sitzungen, an denen ich teilgenommen habe, haben sich sogar pensionierte Richter des Europäischen Gerichtshofs geäußert und erklärt, dass dies nicht mit den Grundsätzen des EU-Rechts der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit vereinbar ist. Es ist nicht zielführend, aus Sicht der Verhältnismäßigkeit. Und die Falsch-Negativen schaffen neue Probleme. Selbst wenn wir also technische Hilfsmittel einbringen, um der Polizei zu helfen – sie sind nicht effektiv.

Alle großen Fälle, von denen ich weiß, die Zerschlagungen von großen internationalen Pädophilenringen, waren das Ergebnis echter alltäglicher Polizeiarbeit, nicht des Einsatzes von KI und automatisierten Prozessen zur Erkennung von Online-Nachrichten. Echte, gute, altmodische Polizeiarbeit und Ermittlungen und wir hatten einige wirklich große Fälle. Das passiert regelmäßig, fast jedes Jahr.

Wir haben einen weiteren großen Fall gesehen, bei dem ein internationaler Kinderpornografie-Ring oder ein Kindermissbrauchsring infiltriert und von der Polizei zerschlagen wurde, durch die Zusammenarbeit mit Polizeikräften auf der ganzen Welt – einfach durch gute, altmodische Ermittlungs- und Polizeiarbeit. Das ist es, was wir als effektiv ansehen, um diese Ringe zu zerschlagen. Nicht der Einsatz von unverhältnismäßiger Technologie, die nur die Rechte von unschuldigen Menschen verletzt und die Kriminellen einfach auf andere Plattformen oder andere Umgebungen ausweichen lässt, wo diese Technologie nicht verwendet wird.

"Vergesst nicht, dass diese Technologie, über die wir hier sprechen, den Missbrauch nicht verhindert."

Ich wünsche mir wirklich, dass die Europaabgeordneten diese Position zu hören bekommen. Rund 72 Prozent der EU-Bürger teilen sie bereits, laut einer Umfrage. Also, vielen Dank für die Einblicke, die du uns gegeben hast!

Eines noch: Wenn wir über digitale Tools und Plattformen nachdenken, stellen wir sie oft nicht in Zusammenhang mit der realen Welt. Wir denken einfach: Ach, das ist nur online. Ist ja nur eine Facebook- oder WhatsApp-Nachricht oder was auch immer. Es scheint uns nicht dasselbe wie andere Kommunikationsformen, die wir haben. Aber wenn du überlegst, wie du dich fühlen würdest, wenn jeder einzelne Brief, der mit der Post verschickt wird, von der Polizei geöffnet würde, nur für den Fall, dass er unerlaubte Bilder von Kindern oder sexueller Ausbeutung enthalten würde, wären wir dann damit einverstanden? Nein, absolut nicht. Würden wir den Regierungen erlauben, Überwachungskameras in jedem einzelnen Haus im Land zu installieren, nur für den Fall, dass einige dieser Häuser Bereiche sind, in denen Kinder sexuell missbraucht werden? Nein, das würden wir nicht, denn das ist nicht verhältnismäßig.

Wenn diese Überwachungsinstrumente online eingesetzt werden, denken wir irgendwie, dass es okay ist – aber es ist nicht okay. Die Prinzipien sind genau die gleichen, die Kommunikation, die wir online haben, unterscheidet sich nicht von der Kommunikation, die wir per Brief verschicken oder die wir zu Hause mit unserer Familie haben. Und deshalb ist die Privatsphäre ein Grundrecht nach europäischem und internationalem Recht. Das ist etwas, was wir verstehen müssen. Wir müssen es mit der Wirklichkeit verbinden und nicht einfach denken, dass es ein KI-Tool ist, das keine Auswirkungen auf uns hat. Denn das hat es sehr wohl.

Und wenn wir die Redefreiheit verlieren, die Möglichkeit, vertraulich zu kommunizieren, verlieren wir noch andere Freiheiten, die damit einhergehen: Wir verlieren die Meinungsfreiheit, die Gedankenfreiheit, wir verlieren die Informationsfreiheit und die Vesammlungsfreiheit.

Unsere sozialen Parameter werden ständig überwacht, wir werden zu Automaten. Wir verlieren unsere Identität und unser Selbstbewusstsein und all diese Dinge, die man eigentlich für selbstverständlich hält. Die Folgen für die Gesellschaft und den Einzelnen können also absolut verheerend sein. Was ist mit den Konsequenzen für zukünftige Generationen, wenn dies normalisiert wurde? Was passiert mit deren Freiheiten, mit ihrer Fähigkeit, Individuen zu sein, die eigene Entscheidungen treffen, die auf freier Wahl beruhen und nicht auf dem Wissen, dass sie überwacht werden?

In der experimentellen Sozialwissenschaft gibt es ein Phänomen, das als "Hawthorne-Effekt" bezeichnet wird: Menschen, die wissen, dass sie beobachtet werden, ändern ihr Verhalten. So wird das Verhalten künstlich, unnatürlich. Wenn wir also wissen, dass wir überall überwacht werden, online, auf der Straße, in unseren Häusern usw., dann verlieren wir die Fähigkeit, als freie Individuen zu handeln und natürlich zu sein. Alles, was wir dann tun, wird künstlich und das kann schlimme Folgen für die Gesellschaft haben.

Da stimme ich dir vollkommen zu. Danke, Alexander, und alles Gute für deine wichtige Arbeit!

Gern geschehen. Danke für die Einladung!

Das hier nachveröffentlichte Interview führte Peder Iblher für die Webseite digitalhumanrights.blog.

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