Zensursula II: Wie die EU-Kommission vorgeblichen Kinderschutz gegen Kinder- und Menschenrechte ausspielt

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Gemäß einer eilig durchgebrachten EU-Verordnung soll künftig unsere komplette elektronische Kommunikation nach Hinweisen auf Pädophilie durchforstet werden. Zu einem solchen Privatsphäre-Angriff Orwell'schen Ausmaßes meint die EU-Kommission, ein gutes Recht zu haben – schließlich geht es (vermeintlich) um Kinderschutz. Das ist nicht nur grob unverhältnismäßig, sondern erreicht tatsächlich das Gegenteil, wie auch Betroffenenverbände betonen. Die berüchtigte Zensursula-Debatte ist wieder da.

"Hey süße, schick doch mal 1 foto"

Diese Textnachricht kann bedeuten: "Wie ist es auf dem Ponyhof?", "Hast du die Schuhe gekauft?", "Ist die Wohnung hell genug?". Es könnte sich aber auch um Grooming handeln, die sexuelle Anmache Minderjähriger durch Erwachsene. 

In einem Brief würden wir diesen Satz als Privatsache empfinden. Doch eine unverschlüsselte E-Mail oder SMS ist kein Brief, nicht mal eine Postkarte. Sie ist ein gefalteter Zettel, den wir diversen Händen zum Weiterleiten anvertrauen, wie damals in der Schule. 

Selbsternannte Kinderschützer möchten sich jetzt das Recht herausnehmen, alles automatisch zu sichten, was wir uns auf elektronischem Wege schicken. Und wenn ein Satz oder ein Bild mehrdeutig ist, sollen die Polizei und private Helfer automatisch eine Kopie erhalten, um genauer hinzuschauen, ob dies nicht als sexueller Übergriff gegen ein Kind eingeordnet werden muss.

Der Betroffenen-Verein MOGiS (Missbrauchsopfer gegen Internetsperren) setzt sich gegen eine solche Totalüberwachung ein. Und auch andere Aktivisten sehen die Pläne äußerst kritisch, etwa das Anti-Stalking-Projekt. Alexander Hanff, selbst Missbrauchsopfer, Aktivist und Unternehmer auf dem Gebiet der Privacy, lässt kein gutes Haar an dem Vorhaben: 

"Als Missbrauchs-Überlebender bin ich (und Millionen anderer Überlebender auf der ganzen Welt) auf vertrauliche Kommunikation angewiesen, um Unterstützung zu finden und die Verbrechen gegen uns zu melden. (…) Die vorgeschlagene Lösung erfüllt nicht die Anforderungen der Verhältnismäßigkeit. (…) Der Vorschlag ist so schlecht geschrieben, dass er Tür und Tor für Machtmissbrauch, für Falschmeldungen und für eine groß angelegte Überwachung unserer gesamten privaten Kommunikation offen lässt. Darüber hinaus gibt es keine Beweise dafür, dass solche Maßnahmen überhaupt effektiv wären, und viele Kritiker glauben (mich eingeschlossen), dass solche Aktivitäten einfach in den Untergrund gedrängt würden, wodurch sie viel schwieriger zu entdecken wären."

Weil ich es selbst nicht glauben wollte, noch einmal zum Mitschreiben:

Die EU-Kommission und der Innenausschuss des EU-Parlaments haben einen Gesetzentwurf, die sogenannte "ePrivacy Derrogation" (Aufhebung der ePrivacy-Richtline1) eingebracht und bereits passieren lassen, der mehrere Grundrechte der EU-Grundrechtecharta (nämlich Artikel 7 und 8) pauschal, anlasslos und für alle Menschen außer Kraft setzt. Provider und Netzwerke sollen verpflichtet werden, den entsprechenden Datenscan durchzuführen. Eine eventuelle Verschlüsselung müsste dafür geschwächt werden. Hintergrund ist eine letztens erfolgte Stärkung der Nutzerrechte durch eine EU-Richtlinie und die Befürchtung, es damit Kinderporno-Ringen zu leicht zu machen.

Wichtige Motive für diesen Vorstoß dürften zum einen die technische Machbarkeit2 und das hohe Einsparpotenzial gegenüber geeigneteren Fahndungsmethoden in diesem Bereich sein. Und zum anderen die hohe Akzeptanz für Überwachungsmaßnahmen beim Thema Pädophilie – bei dem jede und jeder sich empört und natürlich meint, "nichts zu verbergen" zu haben. 

Doch ist das Gesetz wirklich geeignet und wird nicht vielmehr das Kind mit dem Bade ausgeschüttet? Netzpolitische Initiativen wie EDRINetzpolitik.org oder Piraten im Europaparlament verwahren sich gegen den Gesetzentwurf. Auch die Europäische Datenschutzaufsicht meldet erhebliche Bedenken an. Und die Zweifel der Bürgerrechtler sind mehr als angebracht.

Auf den zweiten Blick sehen die Dinge anders aus

  • Bei der automatisierten Erkennung des einschlägigen Materials gilt eine Fehlerquote von 90 Prozent noch als gut genug. So gerät massenhaft "unschuldiges" Text- und Bildmaterial unter die kritischen Augen der Obrigkeit und der beteiligten Organisationen. Das können Fotos von Erwachsenen sein, Strandfotos aus der Familie, Fotos, die Minderjährige einander vertraulich zusenden, Bilder, über die unbedarfte Moralisten sich empören, satirische Abbildungen, … Unsere gesamte Kommunikation wird unter Generalverdacht gestellt und in Form einer eigenen Schere im Kopf vorzensiert. Doch dieser Aspekt ist noch längst nicht alles.
  • Jede Menge neues Material wird angesammelt, das nun in den Kontext pädophiler Sexualität gerückt wird. Empfänger der Kopien sind Cleaner, also berufstätige Mitarbeiter*innen sozialer Netzwerke, die im Sekundentakt entscheiden, was wie einzuordnen ist. Auch ehrenamtlichen NGOs soll das Material zur Verfügung gestellt werden. Nebenbei werden diese damit zu einem attraktiven Ziel für Hacker oder Täter und der Missbrauch oder die Entwendung der angesammelten Konvolute ist nur eine Frage der Zeit. (Auch Polizisten und "Helfer" fallen immer wieder durch nachlässigen Umgang oder sogar die "private Nutzung" von einschlägigem Material auf, etwa hierhier oder hier.)

  • Bilder von wirklichen Taten (wie auch die Fehlalarme) werden aufbewahrt, zum Beispiel, um Algorithmen zu schulen. Die Opfer der Taten möchten aber, dass die Bilder ihres Traumas irgendwann gelöscht werden und nicht zum Beispiel durch Leaks und Breaches irgendwann wieder an die Oberfläche kommen. Das Recht am eigenen Bild wird also in einem besonders sensiblen Fall grob missachtet.

  • Als "Beifang" wird legales explizites Material gesammelt – auch von Politikern, Geheimnisträgern oder Prominenten. Der Erpressung ist Tür und Tor geöffnet. Berufsgeheimnisträger (Journalisten, Geistliche, Anwälte, …) sollen von der Durchsuchung ausgenommen sein – aber wie soll das in der Praxis funktionieren? Und wollen wir diese "Eliten" einem Generalverdacht durch Verschwörungsideologen aussetzen?

  • Kommt es zu Fehleinschätzungen und unbegründeten Strafanzeigen, können ganze Existenzen zerstört werden. Eine Hausdurchsuchung auf einen Verdacht hin (der zwar falsch sein, aber natürlich nicht widerlegt werden kann) kann das berufliche oder soziale Aus für jemanden bedeuten.

  • Die Bekämpfung von sexuellem Missbrauch wird nur scheinbar vorangebracht. Gewiefte Täter wissen sich selbstverständlich zu schützen. Es gilt einmal mehr der Satz: Wenn Privatsphäre kriminell wird, haben nur noch Kriminelle Privatsphäre. Gegen effektive Verschlüsselung, das Darknet und Tor-Browser ist noch kein Kraut gewachsen. Zum Glück, muss man sagen. Denn neben Drogendealern und Kinderpornoringen (die es auch vor dem Internet schon gab) profitieren auch Whistleblower, Journalistinnen und Oppositionelle in totalitären Staaten von dieser Technik.

  • Dazu erfolgt eine Fixierung auf elektronisch dokumentierte Fälle. Christian Bahrs von MOGiS hatte Zahlen von 2009 gründlich untersucht und kam zu dem Ergebnis, dass nur in den wenigsten Missbrauchsfällen sogenanntes kinderpornografisches Material erstellt wird. Zu erwarten ist dennoch, dass andere, effektivere Fahndungsansätze unter den Tisch fallen, nicht zuletzt – man muss es so drastisch sagen – weil sie dem Staat die Ausgaben nicht wert sind. In den großen bekanntgewordenen Missbrauchsfällen der letzten Zeit war stets zu beobachten, dass es Hinweise und Versäumnisse beim Jugendamt und der Polizei gegeben hatte. Das magische Denken, es gäbe den elektronischen Zauberstab, funktioniert nicht.

  • Die Umsetzung der Gesetzesinitiative käme einer Zensur-Infrastruktur gleich, gegen die die heißumkämpften Uploadfilter bei YouTube verblassen. Eine derart massive Schwächung unserer Privacy (immerhin ein Menschenrecht) kann nur als totalitär bezeichnet werden. Und sie wäre ein Präzedenzfall, denn aller Erfahrung nach folgt unweigerlich das Aufbohren der Regelung für andere Delikte, wenn man sich erst einmal daran gewöhnt hat. Auch Geheimdienste haben freiere Hand, sobald die Verschlüsselung betroffen ist.

"Kindesmissbrauch" – mit diesem Schlagwort kann man Politik machen

Sexuelle Gewalt gegen Kinder triggert uns – zu Recht. Kaum ein anderes Delikt findet so einhellige Empörung. Sogar im Knast sind pädophile Sexualstraftäter die Paria unter den Häftlingen. Und kein anderes Thema kann einen solchen Skandal hervorrufen – schon ein Vorwurf oder Verdacht kann komplette Existenzen infrage stellen.

Die Empörung ist berechtigt. Was sexualisierte Gewalt in der Seele ihrer Opfer anrichtet, ist mit Begriffen wie Depression, Angststörung, vermindertem Selbstwertgefühl, Beziehungsstörungen und beruflichen Schwierigkeiten sowie einer gestörten Sexualität nur grob umschrieben. Viele der Opfer haben im späteren Leben massive Probleme, zurechtzukommen. Wurde Pädophilie in den 1980er Jahren noch in einem Atemzug mit der Emanzipation von Schwulen und Lesben genannt, so ist sie heute zurecht ein No-Go. Kirchen und andere Institutionen, die sexualisierte Gewalt systematisch vertuscht haben, geraten zunehmend in Bedrängnis.

Der Eindruck, dass sexualisierte Gewalt immerfort zunimmt, ist nicht belegbar, denn die Statistiken beziehen sich nur auf bekanntgewordene Fälle. Was früher unter einen Teppich aus Scham, Kumpanei und Verschwiegenheit gekehrt wurde, ist heute Gegenstand einer offenen Debatte. Menschen trauen sich 20, 30 Jahre nach den Taten endlich, mit ihrer Geschichte herauszukommen.

Gleichzeitig – auch das muss gesagt sein – zieht das Thema Neurotiker verschiedener Art an. Erfundene Beschuldigungen sind keine Seltenheit, denn als Opfer findet man Aufmerksamkeit. Rechtskonservative Puritaner versteigen sich in Anklagen gegen eine sexualisierte Gesellschaft, unterstellen aufklärend gemeinten Initiativen eine "Frühsexualisierung" der Kinder, samt erfundener Masturbationszimmer in Kitas. Von der QAnon-Hysterie um vermeintliche Folterungen mal ganz abgesehen.

Zusammengefasst: Das Thema ist der blanke Horror. Und gerade deshalb kann es leicht als moralische Brechstange instrumentalisiert werden.

Warum findet der Gesetzentwurf so wenig Beachtung – und wie geht es weiter?

"Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist eine permanente automatisierte Analyse der Kommunikation nur dann verhältnismäßig, wenn sie auf Verdächtige beschränkt ist (Rechtssache C-511/18). Diese Bedingung erfüllt der Vorschlag nicht."

(Von Patrick Breyer (MdEP) verfasste Position der Piratenpartei / Fraktion Grüne/EFA)

Zum einen: Mein Eindruck ist, dass die Zivilgesellschaft in Zeiten von Corona, Brexit und dem US-Wahldrama ein wenig absorbiert war. Wer sich wegen der momentanen Corona-Maßnahmen echauffiert, hat wohl keinen Nerv für derlei Grundrechtsfragen. Und in mancher Hinsicht lief es in der EU in letzter Zeit ja sogar ganz gut in Sachen Privacy: Mit dem Vorschlag zum Digitale-Dienste- und Digitale-Märkte-Gesetz ist der EU-Kommission ein beachtlicher Aufschlag gelungen, um Datenkraken wie Google, Facebook & Co. in ihre Schranken zu weisen. Die DSGVO hatte einen neuen Maßstab in der Einwilligung in Datensammlungen gesetzt. Und eine geplante ePrivacy-Verordnung verhieß Privacy by Default, also als geforderte Grundeinstellung von Software und Geräten. Doch diese ist inzwischen auf die lange Bank geschoben – und ihr gegenüber stehen massive Angriffe auf die Verschlüsselung – und nun also die ePrivacy Derrogation. Unter dem Strich ergibt sich damit ein ziemlich widersprüchliches Spiel der Kräfte in der EU-Gesetzgebung.

Was uns also bevorsteht – wenn wir nicht sehr schnell sehr viel Lärm machen – ist eine zügiges Vorantreiben des unausgegorenen Gesetzesentwurfes, quasi unter dem Radar der beschäftigten Parlamentarier. Da sich niemand zuschulden kommen lassen möchte, Kinderpornoringen in die Hand zu spielen, kann entsprechender Druck aufgebaut werden. Und immerhin sorgte die heutige Präsidentin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, schon 2009 in der Zensursula-Debatte mit genau diesem Thema für Furore. Was damals anfänglich nach einem Triumph aussah, wurde später kleinlaut geschreddert.

Doch gelernt scheint man daraus wenig zu haben. Die alt-konservative Phrase "Das Internet darf kein rechtsfreier Raum sein" ist trotz besseren Wissens nicht totzukriegen. Auch im elektronischen Zeitalter sind Allmachtsphantasien eher Anzeichen einer Hybris als gesunde Politik – man schafft es ja nicht mal, die Polizei von "rechtsfreien Räumen" frei zu halten.

Alexander Hanff äußert seine Beobachtung: "Es sind die Lobbyisten von Unternehmen, die Hunderte von Millionen Euro mit dem Verkauf von Technologie verdienen, die unsere Kommunikation ausspähen kann, die am lautesten auf diesen Vorschlag der EU-Kommission drängen." Gemeint sein könnte damit etwa Microsoft mit seiner PhotoDNA.

Dass das gesamte Vorhaben, mit Verstand betrachtet, vor dem Europäischen Gerichtshof eigentlich nur scheitern kann, setzt eine ungute Praxis fort, die bei konservativen Politikern hierzulande zum festen Usus wird: Gesetze werden erst mal gemacht und erlangen Geltung, bis sie vom Verfassungsgericht wieder kassiert werden. Dann wundert man sich und verschlimmbessert ein wenig, um es dann erneut genau so zu handhaben.

So also nicht – aber was funktioniert wirklich im Kampf gegen sexualisierte Gewalt?

Ich bin kein Kriminalist und würde mich über unvoreingenommene Kommentare zur wirksamen Bekämpfung von Grooming und Kinderpornografie ehrlich freuen. 

Patrick Breyer: "Fakt ist: Sexueller Missbrauch ist gerade durch Verwandte, Freunde und Bezugspersonen sehr verbreitet, und die allerwenigsten Missbrauchsfälle werden überhaupt dokumentiert. Kaum einmal kann Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs durch Ermittlungen wegen kinderpornografischer Darstellungen geholfen werden. Um Kinder vor Missbrauch zu schützen, bräuchte es ganz andere Maßnahmen wie flächendeckende Präventions-, Erkennungs- und Aussteigerprogramme, doch die sind seit Jahren skandalös unterfinanziert."

Was ich weiß, ist, dass eine pauschale Totalüberwachung nicht das verhältnismäßige und richtige Mittel sein kann. Aber was ist es dann? 

Soweit mir bekannt, ist klassische kriminalistische Polizeiarbeit, die in Täter-Netzwerke eindringt, Beweise sammelt und Personen ermittelt, gegenüber den technisch gut ausgerüsteten Kinderporno-Ringen das erfolgreichere Mittel. Einmal-Effekte wie das für die Täter überraschende Mitschneiden von Krypto-Handys sind davon ausgenommen. An solchen Zero-Day-Exploits kann man keine langfristige Strategie ausrichten.

Hinweisen muss endlich konsequent nachgegangen werden. Eine mühsame, mitunter teure Arbeit, für die in der unterfinanzierten Praxis unserer Polizei zu wenig Ressourcen zur Verfügung stehen. Man bedenke: Viele Beamt*innen müssen ihre eigenen Geräte zur Arbeit mitbringen, um technisch nicht hoffnungslos ins Hintertreffen zu geraten. Die Verantwortung dafür trägt just die Sparte jener Innenminister (von Zimmermann über Schily bis Seehofer), die einer Ausweitung der elektronischen Überwachung stets das Wort reden, als hätten sie am Tag ihrer Indienststellung jegliche Bedenken abgegeben.

Abseits der öffentlichkeitswirksamen Aufdeckung findet aber noch eine andere Arbeit statt: Die Prävention. Die Arbeit mit Menschen ist natürlich aufwändiger als ein digitaler Zauberstab. Sie hat aber den Vorteil, dass sie wirklich funktioniert. In Kitas und Schulen werden Kinder einfühlsam auf das Thema aufmerksam gemacht. Selbstverteidigung in der digitalen wie analogen Welt ist ein Muss. Auch Initiativen wie das Präventionsnetzwerk "Kein Täter werden" oder das Angebot "Bevor was passiert", das sich an potenzielle Täter wendet, sind offenbar erst ein Anfang. 

Nebenbei: Vergessen wir nicht, dass auch solche Initiativen auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind, um Hinweisen und Meldungen Betroffener nachgehen zu können. Es zeigt einmal mehr: Eine Totalüberwachung unserer elektronischen Kommunikation ist ein schädlicher Wahn.

In diesem Sinne zum Abschluss noch ein beeindruckendes Zitat von Alexander Hanff:

"Ich habe in meinem jungen Erwachsenenleben mit meinen Gedanken über Kindesmissbrauch gekämpft; als ich 1997 meine Dissertation schrieb, hatte ich wirklich Mühe, objektiv zu bleiben. Es war mein Psychologieprofessor, der mir Klarheit verschaffte. Er sagte zu mir: 'Wenn du ein Kind siehst, das im Fluss ertrinkt, was würdest du tun?' Worauf ich natürlich antwortete, dass ich hineinspringen und versuchen würde, das Kind zu retten. Er fragte dann: 'Was ist, wenn du dann noch mehr Kinder siehst, mehr als du retten kannst, die von flussaufwärts kommen und ertrinken?' Das frustrierte mich, natürlich wollte ich alle Kinder retten, aber das wäre unmöglich – es würden zu viele sein. Er fragte dann: 'Meinst du nicht, dass es besser wäre, flussaufwärts zu untersuchen, warum überhaupt so viele Kinder in den Fluss fallen?'

Natürlich müssen wir diejenigen fangen, die den Missbrauch begehen, und wir müssen versuchen, diese sprichwörtlichen Kinder davon abzuhalten, im Fluss zu ertrinken – aber bis heute ist die Forschung darüber, warum Menschen versuchen, Kinder überhaupt zu missbrauchen, was dieses Verhalten verursacht und was wir tun können, um es zu ändern – ist immer noch beklagenswert mangelhaft und unterfinanziert. Und bis wir Schritte unternehmen, um das zugrundeliegende Problem herauszufinden, anstatt nur zu versuchen, mit den Folgen umzugehen, wird es immer eine negative Summe für die Opfer und die Gesellschaft als Ganzes geben."

(Alexander Hanff: Why I don't support privacy invasive measures to tackle child abuse)


Anmerkungen:

Viele Begriffe werden umgangssprachlich unscharf und zum Teil sinnwidrig verwendet. Zur korrekten Unterscheidung von Pädophilie, sexueller oder sexualisierter Gewalt gegen Kinder, Kindesmissbrauch, Päderastie usw. siehe auch die Definition von sexuellem Missbrauch des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung bzw. Wikipedia.

1 Nicht zu verwechseln mit der nicht fertig ausgearbeiteten, höherrangigen e-Privacy-Verordnung, die hiermit aber natürlich ebenfalls eingeschränkt würde

2 Macht man sich die Logik der ePrivacy Derrogation zu eigen, so müssten die neuen Smartspeaker in unseren Wohnungen unsere Gespräche künftig nach Hinweisen auf häusliche Gewalt durchforsten. Dann müssten Sicherheitskameras unser Verhalten auswerten und Verdachtsmomente sofort an die die Polizei weiterleiten. Abwässer könnten auf Drogen untersucht oder unser Müll ausgewertet werden, sobald entsprechende Technik bereitsteht usw.

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