Interview

"Laut Umfragen sind über 90 Prozent der Menschen Dualisten"

Gibt es einen Dualismus von Leib und Seele, also einen vom Körper unabhängigen Geist? Ist mein Wille frei? Entscheide ich oder etwas in mir? Und wer oder was bin eigentlich "Ich"? Diese Fragen beschäftigen die Philosophie bereits seit Jahrhunderten. Antworten aus Sicht der modernen Hirnforschung gibt John-Dylan Haynes, Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin, im Interview mit hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg.

hpd: Herr Prof. Haynes, als Hirnforscher beschäftigen Sie sich mit dem Zusammenhang von Gedanken und Hirnaktivität. Das berührt ja nun eine sehr alte religiös-philosophische Frage, das berühmte "Leib-Seele-Problem". Also die Frage, ob alle von mir empfundenen inneren Zustände lediglich aus einem Zustand meines Körpers – im Speziellen eben meines Hirns – resultieren, oder ob es eine nicht-körperliche Instanz gibt, die zu Lebzeiten sozusagen in meinem Körper wohnt und in der meine inneren Zustände, Gedanken, Emotionen stattfinden. Welche Antwort auf diese Frage ist angesichts der Ergebnisse der modernen Hirnforschung wahrscheinlicher?

Prof. John-Dylan Haynes: Also bisher weisen alle Ergebnisse, die man in der Hirnforschung hat, darauf hin, dass alle unsere Erlebnisse und Gefühle – auch sogenannte Bauchgefühle, die eine sehr starke körperliche Komponente haben – in unserem Gehirn codiert oder repräsentiert sind. Das heißt, alles, was wir erleben, ist an bestimmten Stellen in unserem Gehirn hinterlegt oder "codiert". Ich stelle mir grob gesprochen das Gehirn als eine Art Trägermedium für unsere Gedanken vor.

Man könnte jetzt natürlich sagen: "Aber ihr habt ja noch nicht alle Gedanken durchforscht. An einigen Stellen könnt ihr zwar 100 Prozent auslesen, aber an anderen nur 65 Prozent. Könnte das nicht bedeuten, dass die Gedanken doch eine gewisse Unabhängigkeit vom Gehirn haben?" Das ist in der Tat eine Aufgabe an uns, unsere Messverfahren immer weiter zu verfeinern. Ich würde erwarten, dass man, wenn man die Hirnaktivität besser messen kann, etwa wenn wir alle circa 86 Milliarden Nervenzellen eines Menschen messen könnten, auch diese schwierigeren Gedanken präziser aus der Hirnaktivität auslesen können wird. Warten wir's also ab.

Nun gibt es sicherlich Menschen, die da recht skeptisch sind und die fest davon überzeugt sind, dass ihr "Ich" und ihr Gehirn zwei völlig verschiedene Dinge sind.

Prof. John-Dylan Haynes ist Psychologe und Neurowissenschaftler. Als Direktor des Berlin Center for Advanced Neuroimaging und Professor am Bernstein Center for Computational Neuroscience der Charité Berlin erforscht er die Entstehung von Gedanken im Gehirn.

Das stimmt. Man hört oft so Aussagen wie: "Aber ich merke doch, es gibt irgendwas ganz Privates, einen geheimen Gedankenraum, der mit dem Gehirn erst mal gar nichts zu tun hat." Solche dualistischen Vorstellungen, dass die Gedankenwelt und die Körperwelt getrennt sind, sind in der Bevölkerung sehr weit verbreitet. Laut Umfragen sind über 90 Prozent der Menschen Dualisten. Bei Vorträgen bitte ich Leute zum Beispiel oft, sich heimlich zu entscheiden, ob sie jetzt die linke oder die rechte Hand heben wollen. Viele Menschen haben dabei den Eindruck, dass solange diese Entscheidung nur in ihrer Gedankenwelt bleibt und sie noch keine Hand gehoben haben, dass man das prinzipiell nicht aus dem Gehirn auslesen kann. Das ist aber falsch. Diese falsche Intuition hängt damit zusammen, dass Menschen zum Dualismus neigen. Wir neigen eigentlich immer dazu zu glauben, dass der Geist und der Körper trennbar sind und dass man mit dem Gehirn den Geist nicht vollständig erklären kann. Das Bild der modernen Hirnforschung ist dagegen ein anderes, nämlich dass egal wie komplex und egal wie subtil Gedanken sind, dass alle zumindest prinzipiell ausgelesen werden könnten, weil sie im Trägermedium des Gehirns codiert sind. Das heißt aber noch nicht, dass wir heute alle Gedanken wirklich praktisch auslesen könnten. Wenn man also wirklich von einer Trennung ausgeht, hat man noch ein paar Rückzugspositionen.

Jetzt bin ich mal ketzerisch und frage: Warum geht eigentlich nicht beides? Kann nicht die Seele – nennen wir es mal so – irgendwo im Hirn sitzen und in der Hirnmasse ihre Strippen ziehen, die wir dann als Erregungspotentiale messen können?

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Prof. John-Dylan Hynes, Foto: © Daimler-Benz-Stiftung

Na ja, wenn man sagt, die Seele sitzt im Gehirn, müsste man sich erst fragen, was genau man damit eigentlich meint. Wenn das bedeutet, dass die Seele einfach nichts anderes ist als ein Prozess im Gehirn, dann ist es ja nichts Ungewöhnliches, dann ist es einfach etwas, das im Gehirn passiert und dadurch, dass es im Gehirn passiert, entsprechenden kausalen Mechanismen folgt. Schwierig wird es, wenn man sagt, meine Erlebnisse haben gar nichts mit dem Gehirn zu tun, und wenn ich mich für oder gegen irgendwas entscheide, wirken die irgendwie von einer Parallelwelt der Gedanken auf das Gehirn ein. Ich halte das zwar nicht für plausibel, aber viele Menschen nutzen vielleicht andere Evidenzquellen und halten es für richtig. Ich möchte mich nicht hinstellen und sagen, diese Frage ist zu 100 Prozent für jeden Gedanken, den jemand haben kann, final geklärt. Ich halte es nur für extrem unwahrscheinlich, dass es so ist, weil wir viele Erkenntnisse darüber haben, wie das Gehirn funktioniert, und auch gute Belege für unsere Annahme, dass alles im Gehirn passiert – aber wir sind noch nicht an dem Punkt, an dem wir das alles final abschließen können.

Gut, aber gehen wir mal davon aus, dass die Annahme der Hirnforschung stimmt, dass da objektiv keine vom Körperlichen unabhängige Seele existiert. Was genau bin denn dann ICH – aus Sicht der Hirnforschung? Anders formuliert: Welches körperliche Korrelat in meinem Hirn entspricht dem, was ich als Ich-Bewusstsein empfinde?

Meiner Meinung nach zeigt sich da eine Schwierigkeit der Phänomenologie, also unsere Erlebnisse in Sprache zu fassen. Ich kann gar nicht sagen, ob ich wirklich ein Ich-Bewusstsein habe, denn ich tue mich schwer mit diesem Begriff. Natürlich ist in meine mentale Welt eine Perspektive eingebaut. Ich erlebe die Welt immer aus einer Perspektive. Wenn ich mich hier im Zimmer umsehe, dann sehe ich das aus einer bestimmten Perspektive, weil meine Sinnesorgane die Informationen aus einer bestimmten Perspektive aufnehmen. Es gibt natürlich noch weitere Aspekte, zum Beispiel wenn ich im Laufe meines Lebens Erinnerungen aufgebaut habe. Diese Erinnerungen sind quasi ein zeitlicher Verlauf von Perspektiven gewesen, wo ich zu bestimmten Zeiten gewesen bin. Also ich glaube nicht, dass ich da unbedingt noch ein "Ich" postulieren muss. Alles, was ich an Erlebnissen habe, was in meinem Gehirn repräsentiert wird, hat einfach von sich aus schon diese Eigenschaft, an meine Perspektive gebunden zu sein. Ich verstehe durchaus, warum man die Frage nach dem "Ich" stellt, und ich will nicht sagen, dass es nicht sinnvoll ist, diese Frage zu stellen, oder Forschung dazu zu betreiben – aber ich denke, dass die Antwort, die man auf diese Frage geben kann, vielleicht eine andere Antwort ist, als das, was man erwartet. Interessant wird es natürlich, wenn es um die Repräsentation des eigenen Körpers im Gehirn geht. Aber auch da ist nichts Mysteriöses.

Aber das "Ich" ist ja nicht nur die Perspektive, mit der ich auf die Welt schaue, sondern dieses "Ich" hat ja auch noch bestimmte Eigenschaften. Vor allem hat es die hartnäckige Eigenschaft zu glauben, dass es selbst die Instanz in mir ist, die Entscheidungen fällt. Womit wir zu einem weiteren zentralen philosophischen Problem kämen: dem freien Willen. Ob es den gibt, wird ja vor allem seit den Versuchen von Benjamin Libet in den 1980er Jahren heiß diskutiert. Also: Hat mein "Ich" im Hirn das Sagen oder ist es eher eine Art Marionette? Die Libet-Experimente schienen da ja deutlich in eine Richtung zu weisen.

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Benjamin Libet war ein amerikanischer Physiologe, der EEG-Forschung gemacht hat, also Hirnströme gemessen hat. Libet hat sich die Frage gestellt, wie der Wille im Gehirn entsteht, der spontane Wille, also solche Situationen, wo man das Gefühl hat, dass man aus sich selbst heraus entscheidet. In der Hirnforschung bricht man solche großen Fragen immer durch relativ einfache Experimente runter und zieht dann hinterher sehr weitgehende Schlüsse daraus – das sage ich jetzt bewusst selbstkritisch. Beim Libet-Experiment nimmt man sich nicht eine große Lebensaufgabe, wie die Entscheidung, was man studieren soll. Sondern die Leute sollen sich einfach nur entscheiden, ihre Hand zu bewegen, und zwar dann, wenn sie selber die Lust oder den Drang dazu verspüren. Das ist natürlich eine sehr vereinfachte Entscheidung. Dabei hat Libet dann die Gehirnsignale der Probanden gemessen, vor allem ein Signal, das man seit den 1960er Jahren kannte durch Experimente der Neurologen Kornhuber und Deecke. Die hatten Willkürbewegungen untersucht, also wenn man sich einfach spontan entscheidet, sich zu bewegen, nicht als Reaktion auf irgendein äußeres Ereignis. Sie fanden ein charakteristisches Hirnpotenzial, das vorher im Gehirn entsteht, das sogenannte Bereitschaftspotenzial. Libet hat sich gefragt: Wenn ich das Gefühl habe, ich entscheide mich jetzt und bewege dann meine Hand, was passiert vorher im Gehirn? Was er dabei herausfand, war – so interpretierte er es – dass das Gehirn die Entscheidung schon vorzubereiten scheint, noch bevor jemand das Gefühl hat, ich entscheide mich jetzt. Also bereits ein paar hundert Millisekunden, bevor ich das Gefühl verspürt habe, ich entscheide mich jetzt, ist im Gehirn diese Entscheidung schon angebahnt worden. Und das wirft natürlich wichtige Fragen auf.

Wir haben ja das Gefühl, wenn wir eine Entscheidung fällen, dass es unser Bewusstsein ist, das diese Entscheidung trifft. Wir haben das Gefühl, dieses bewusste mentale Ereignis ist quasi die Zündung dieses Prozesses. Wie sollte denn das Gehirn, bevor man sich entschieden hat, vorher schon wissen, dass man sich gleich entscheiden wird? Und lange Zeit war die Antwort darauf von vielen Hirnforschern, dass dieses Gefühl "Ich entscheide mich jetzt" möglicherweise eine Täuschung ist, weil das Gehirn vorher schon angefangen hat, die Entscheidung vorzubereiten. Das wäre die große klassische Diskussion, die das Libet-Experiment angestoßen hat. Und die Hirnforschung zum freien Willen dreht sich immer noch zum Teil um dieses Experiment.

Sie selbst haben ja auch zu dem Thema geforscht. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen? 

Meine Arbeitsgruppe hat circa 25 Jahre nach dem Libet-Experiment gezeigt, dass sich dieses Zeitfenster, über das man eine Entscheidung vorhersagen kann, in einigen Situationen sogar noch über mehrere Sekunden ausdehnen lässt. Ich veranschauliche das immer am liebsten anhand einer Dominokette. Wenn man 20 Dominosteine in einer Reihe aufstellt und den ersten Stern umstößt, läuft eine Kausalkette durch, wo alle Steine nacheinander umfallen. Das kann man auf das Libet-Experiment übertragen. Der Beginn der unbewussten Hirnaktivität wäre, sagen wir, Stein 1 und das Bewusstsein käme bei Stein 10. So etwas hat Libet gezeigt und wir später auch. Aber man muss sich jetzt fragen: Wenn dieser Prozess einmal startet, ist es dann automatisch so, dass ich mich auf jeden Fall entscheiden werde? Genau das haben die Libet-Experimente nicht gezeigt. Das Puzzle ist also nicht vollständig. Es könnte also auch sein, dass man den Prozess unterwegs noch abbrechen kann, als würde man zum Beispiel bei Dominostein 9 oder 11 den Prozess anhalten.

Das waren dann Experimente, die Sie später durchgeführt haben…

Wir haben Experimente gemacht, wo wir den Beginn dieser Kausalkette gemessen haben. Mit Echtzeit-EEG, also einem Verfahren, durch das man quasi im Bruchteil einer Sekunde feststellen kann, wann die Vorbereitung im Gehirn begonnen hat. Wir wollten herausfinden, ob Menschen ihre Entscheidung noch rückgängig machen können, sobald diese Kausalkette angelaufen ist. Und die Antwort ist: Ja, sie können. Und das bedeutet wiederum, dass die Libet-Experimente vollkommen irrelevant sind für das Problem des freien Willens, weil das, was sie zeigen wollten, nämlich dass eine Kausalkette außerhalb des Bewusstseins entsteht, dann durchläuft und zu dem Zeitpunkt, wo das Bewusstsein dazukommt, quasi alles schon feststeht, das stimmt nicht. Man kann zu verschiedenen Zeitpunkten diese Kausalkette anhalten und den Prozess rückgängig machen. Das heißt, die Libet-Experimente sind aus meiner Sicht gar kein guter Weg, um gegen den freien Willen zu argumentieren.

Ich würde anders vorgehen. Und zunächst sollte man sich fragen, was man unter dem freien Willen versteht. Ein großes Problem ist, dass man in der dominanten Strömung der modernen Philosophie meistens etwas anderes darunter versteht als in den Naturwissenschaften. In der Philosophie wird oft argumentiert, dass eine Entscheidung frei ist, wenn sie aus den Gründen und Motiven der Person heraus entsteht. Ich kann also sagen, warum ich etwas getan habe. Naturwissenschaftler verstehen darunter meist, dass ich zu einem bestimmten Zeitpunkt eine alternative Möglichkeit habe, dass also noch nicht alles feststeht. Und genau das ist nicht kompatibel mit naturwissenschaftlichen Modellen.

Zunächst kann man diese Definitionen ja beide bestehen lassen, solange man sie klar markiert, wenn man über das Thema spricht. Interessanterweise ist aber der Begriff, den die Neurowissenschaftler verwenden, viel dichter an dem dran, was die breite Bevölkerung denkt, während der philosophische Begriff sich eher aus technischen Überlegungen heraus entwickelt hat. Wenn ein Philosoph dann den freien Willen argumentativ rettet, dann kann das, was gerettet wurde, etwas ganz anderes sein, als das,  was ein Laie sich darunter vorstellt.

Bei dem, was Sie gerade gesagt haben, könnte der Eindruck entstehen, dass es in uns also doch eine Instanz gibt, die dem rein Körperlichen etwas entgegensetzt. Ein Bewusstsein, das entscheidet, die vom Hirn angestoßene Kausalkette der Entscheidung zu unterbrechen, indem sie einen Dominostein festhält. Aber wenn ich Ihre Forschung auf dem Gebiet richtig verstehe, ist ja auch dieser Akt des bewussten Unterbrechens der Kausalkette wieder ein Akt, der unbewusst im Hirn vorbereitet wird.

Genau. Wir haben auch Hirnprozesse, die mit dem Unterbrechen der Entscheidung zusammenhängen, und die sind sogar sehr deutlich zu beobachten. Es ist also nicht so, dass wir jetzt quasi ein Paralleluniversum, einen Geist haben, der da eingreift und das stoppt, sondern diese Prozesse sind im Gehirn selbst auch wiederum angelegt und realisiert, nur durch andere Hirnprozesse. Was diese Experimente zeigen, ist, dass ein Teil des Gehirns einen anderen Teil des Gehirns übersteuern kann.

Und was bedeutet das alles dann für das Thema Willensfreiheit?

Ich denke, dass man diesen Begriff der Willensfreiheit noch mal neu aufbauen sollte. Und was auch ansteht, ist, dass Philosophen und Hirnforscher sich ein bisschen bereitwilliger aufeinander zubewegen. Gerade die interdisziplinären Diskussionen sind bisweilen sehr oberflächlich. Ich verbringe viel Zeit in Diskussionen mit Kollegen aus der Philosophie und lerne dabei immer sehr viel. Außerdem denke ich, dass man diese Definitionsprobleme wirklich ernst nehmen sollte. Für eine fachinterne Diskussion kann man sich Begriffe beliebig technisch definieren. Aber für interdisziplinäre Dialoge muss man sich wirklich bemühen, sich auf eine gemeinsame Sprache zu einigen. Und an dieser Diskussion sind ja nicht nur Philosophen und Hirnforscher beteiligt, sondern auch Laien, Strafrechtler, Theologen usw. Man sollte das Thema also ohne zu viele Dogmen diskutieren.

Eines dieser Dogmen ist, dass viele Philosophen davon ausgehen, dass Freiheit notwendig ist für Schuld und Verantwortung. Übrigens eine zutiefst christliche Vorstellung. Worin unterscheiden sich Adam und Eva von den Tieren in der biblischen Erzählung? Die Tiere hatten keinen freien Willen und damit auch nicht die Freiheit, sich anders zu entscheiden. Und man geht deswegen eben davon aus, dass Freiheit notwendig ist, damit jemand für Taten, die er begeht, auch verantwortlich gemacht werden kann. Wir haben aber in einer Reihe von Studien zusammen mit einigen philosophischen Kollegen gezeigt, dass Freiheit überhaupt nicht notwendig ist für Verantwortung. Es gibt viele Situationen, wo wir bereit sind zu sagen, jemand ist verantwortlich, auch wenn er keine Freiheit hat. Und ich beobachte, dass unter einigen Philosophen und Hirnforschern tatsächlich auch langsam ein Umdenken stattfindet.

In der Philosophie klammert man sich ja insgesamt sehr stark ans "Ich" und seine vermeintlich herrschende Funktion. Ich kann mich noch sehr lebhaft an das Seminar erinnern, in dem ich während meines Philosophiestudiums zum ersten Mal von den Libet-Experimenten gehört habe. Unser Professor hat uns damals die Frage gestellt, wie wir das denn mit der Freiheit unseres Willens so empfinden, ob wir das Gefühl haben, dass wir entscheiden, oder eher das Gefühl, dass etwas in uns entscheidet. Ich war damals als Einzige im Seminar der Meinung, dass nicht ich, sondern etwas in mir entscheidet – und hab dafür kräftig Dresche kassiert. In der Tat sehe ich das aber bis heute so. Wer von uns war denn nun näher dran an den tatsächlichen Gegebenheiten?

Also, ich arbeite ja sehr viel mit Philosophen zusammen und sehr gerne. Und hier an der Berlin School of Mind and Brain leite ich einen Masterstudiengang, wo wir Philosophen, Psychologen, Naturwissenschaftler, Mediziner und so weiter zusammenbringen, um genau diese gemeinsamen Perspektiven auf Themen zu sehen. Auch wenn ich bestimmte Positionen bestimmter Philosophen kritisiere, halte ich diese Diskussion an sich – selbst an den Stellen, wo ich anderer Meinung bin – für extrem fruchtbar. Und genauso wie man bei Psychologen und Neurowissenschaftlern bestimmte professionelle Deformationen ausmachen kann, kann man das auch bei Philosophen. Die meisten Philosophen, die ich kenne, überschätzen den Grad, zu dem Denken sprachlich ist, also einer inneren Sprache folgt und auf der Basis von Argumenten stattfindet, und sie überschätzen den Grad, zu dem Denken bewusst ist. Ich denke, wir müssen einfach nur in die Psychologie schauen, um zu sehen, dass wir zum einen in vielen Entscheidungssituationen gar nicht hart irgendwelchen Argumenten folgen, sondern dass wir assoziativ oder auf der Basis von Gewohnheiten entscheiden, ohne Rationalität anzuwenden oder Argumente zu haben.

Und zum zweiten sind uns die Mechanismen dieser Entscheidung auch gar nicht bewusst. Das heißt, es passiert tatsächlich irgendwie in uns, dass eine Entscheidung entsteht, und wir sind dann mit dieser Entscheidung in der Regel zufrieden. Und ich denke, dass das eine Überschätzung ist, dass man glaubt, das ist mein bewusstes "Ich", das jetzt hier eine Entscheidung fällt. Noch ein Grund mehr, sich zu fragen, ob man die Rolle dieses "Ichs" nicht überkonstruiert, dass man da etwas kreiert, was eigentlich mit der psychologischen Wirklichkeit einer Person gar nicht so wahnsinnig viel zu tun hat. Mit anderen Worten: Ich würde sagen, dass Sie damals auf jeden Fall recht hatten und dichter an der psychologischen Realität dran waren als Ihre Kollegen.

Welch späte Genugtuung. Ich würde gern noch einmal genauer auf den Punkt eingehen, den Sie gerade erwähnt haben, nämlich wie stark wir bei unseren Entscheidungen eigentlich wissen, worauf sie basieren. Denn das hat ja eine sehr praktische Komponente. Und das nicht nur in der Werbung, wo man versucht, unsere Kaufentscheidungen subtil zu beeinflussen, indem man eher auf Unbewusstes zielt, sondern auch bei gesellschaftlichen Prozessen. Wir haben jetzt gerade während der Corona-Pandemie erlebt, wie Menschen aus unserem engsten Umfeld plötzlich zu Querdenkern wurden, auch Menschen, die wir vorher für sehr rational gehalten haben. Und tatsächlich sind diese Menschen ja der Auffassung, dass ihre Entscheidung fürs Querdenken auf völlig rationalen Argumenten beruht. Psychologische Studien haben aber wiederum gezeigt, dass Querdenker vermehrt bestimmte emotionale Ähnlichkeiten aufweisen, verstärktes Unsicherheitsgefühl etc. Deshalb nochmal die Frage: Wie stark wissen wir bei unseren Entscheidungen eigentlich, worauf sie basieren?

Das ist ein sehr schönes Beispiel. In der Psychologiegeschichte läuft sowas unter dem Begriff der Introspektion. Es gab schon im 19. Jahrhundert die Vorstellung, dass man möglicherweise die Mechanismen der Denkprozesse erschließen kann, indem man einfach seinen eigenen Denkprozessen quasi zuschaut. Und man hat festgestellt, dass das nicht so einfach geht. Man kann sich das Bewusstsein vielleicht so vorstellen wie die Benutzeroberfläche eines Computers. Was im Prozessor oder im Betriebssystem, also der Tiefenstruktur des Computers, passiert, das sehen wir nicht. Und genauso ist es bei unseren Entscheidungen: Es gibt eine Aufeinanderfolge von Gedanken, die wir haben. Aber diese Aufeinanderfolge von Gedanken sagt relativ wenig darüber, wie diese Abfolge zustande kommt. Und wir können diese Prozesse in der Regel nicht erkennen. Oft ist es ja sogar im Gegenteil so, dass andere Menschen unsere Entscheidungsprozesse besser verstehen als wir selbst.

Ein Beispiel: Immer wenn ich Sport mache und denke, ich bin ganz gut gelaunt, sagt meine Familie plötzlich "Papa, du musst erst mal was essen", weil ich vielleicht ein bisschen gereizt bin. Und das merk ich selber gar nicht. Also die Möglichkeit zu erkennen, wie wir selber funktionieren, ist in meinen Augen extrem begrenzt. Man würde ja eigentlich denken, von innen wäre man dazu prädestiniert, sich zu verstehen. Aber manchmal gibt es Faktoren, von denen glauben wir, dass sie uns beeinflussen, aber sie beeinflussen uns gar nicht. Und bei anderen Faktoren glauben wir, sie beeinflussen uns nicht, aber sie beeinflussen uns doch. Dafür gibt es zahlreiche Belege.

Zum Schluss würde ich Ihnen gern eine persönliche Frage stellen: Was glauben Sie, wird mit Ihrem "Ich" passieren, wenn Ihr Körper irgendwann – Achtung Wortwitz – den Geist aufgibt?

(lacht) Sehr schöne Formulierung! Also ich denke, die Wissenschaft hat über das, was im Bereich der Messbarkeit der Wissenschaft liegt, Jurisdiktion. Alles andere ist das Reich des Glaubens, der Hoffnung und der Fantasie. Ich möchte Menschen nicht ihre Fantasie nehmen, muss aber klar sagen, wenn etwas ins Reich der Fantasie gehört. Im Hier und Jetzt, bei allem, was wir messen können, hängen der menschliche Geist und das menschliche Gehirn nach allem, was wir wissen, eins zu eins zusammen. Das heißt, ich würde es für eine sehr plausible Hypothese halten, dass, wenn der menschliche Körper, das menschliche Gehirn stirbt und seine Integrität aufgibt, dass dann unser Erleben, unser Geist für immer aufhört zu existieren. Das ist eine plausible Hypothese, aber andere Menschen finden vielleicht andere Dinge plausibel. Denn sie haben vielleicht andere Gründe, warum sie etwas glauben. Ihnen ist es vielleicht wichtig, dass es sich gut anfühlt. Wenn jemand sagt, das fühlt sich für mich richtig an, etwas anderes zu glauben, als die Naturwissenschaft nahelegt, kommt man nicht dagegen an, egal was man sagt. Ich halte es auch für unfruchtbar, dagegen an zu argumentieren.

Und was glauben Sie persönlich, wird mit Ihrem "Ich" passieren, wenn Ihr Körper stirbt?

Ich denke, es gibt eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass danach meine geistige Existenz zu Ende ist.

Nun gibt es Menschen, die eine solche Einstellung als Entwertung des Menschseins empfinden, die es entwürdigend finden, dass der Mensch letztlich quasi nichts anderes ist, als durch Erregungspotentiale getriebene Materie. Was ist Ihre Meinung dazu? Entwertet diese Sicht auf die Dinge das Menschsein?

Ich glaube, das ist ein Missverständnis. Es ändert sich ja nichts an unseren Erlebnissen. Die bleiben ja genau so, wie sie sind. Wir haben sie einfach nur mit etwas anderem in Bezug gesetzt. Und ich denke nicht, dass eine Blume weniger faszinierend ist, nur weil ich sie biologisch verstehen kann. Trotzdem ist die Blume ja noch die gleiche Blume. Und unsere Erlebnisse und unsere Gefühle und unsere Pläne und unsere Erinnerungen, die bleiben ja gleich. Sie sind ja auch nicht weniger komplex. Wir versuchen nur, sie zu Hirnprozessen in Bezug zu setzen. Ich denke, es gibt da keinen Grund, irgendwas entwertet zu sehen. Es sei denn, man betrachtet generell den Versuch, etwas zu erklären, als Entwertung. Und das würde ich dann doch für einen Irrweg halten.

John-Dylan Haynes/Matthias Eckoldt: Fenster ins Gehirn – Wie unsere Gedanken entstehen und wie man sie lesen kann. Ullstein 2021, 304 Seiten, 24 Euro. ISBN: 9783550200038

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Im gestrigen ersten Teil des Interviews mit John-Dylan Haynes ging es um die Frage, inwieweit es derzeit möglich ist, aus der Hirnaktivität eines Menschen auf dessen Gedanken zu schließen, sowie um die ethischen Grenzen des Gedankenlesens.

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