Münchner Missbrauchsgutachten stellt Fehlverhalten bei Ratzinger und Marx fest

Mit Spannung war die Vorstellung eines weiteren Missbrauchsgutachtens erwartet worden, diesmal für das Erzbistum München und Freising. Die "Bilanz des Schreckens": 497 Opfer, 65 tatsächliche oder mutmaßliche Täter; in 42 Fällen wird gegen amtierende Würdenträger ermittelt. Bei der gestrigen Vorstellung fanden die Vertreter der beauftragten Kanzlei deutliche Worte.

Über 1.600 Seiten umfasst das Gutachten "Sexueller Missbrauch Minderjähriger und erwachsener Schutzbefohlener durch Kleriker sowie hauptamtliche Bedienstete im Bereich der Erzdiözese München und Freising von 1945 bis 2019" der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl, das gestern in München der Öffentlichkeit vorgestellt wurde und das online eingesehen werden kann. Dieselbe Rechtsanwaltskanzlei hatte bereits für das Erzbistum Köln ein Gutachten zum Umgang mit Missbrauchsfällen erstellt, das aber nicht veröffentlicht wurde.

Die Bilanz des "Hellfeldes" (neben dem noch die weit größere Dunkelziffer nicht feststellbarer Fälle existiert) umfasst mindestens 497 Opfer, überwiegend männlich, fast 60 Prozent von ihnen waren zum Tatzeitpunkt zwischen acht und 14 Jahre alt. Bei 211 von 363 Verdachtsfällen gilt der Tatvorwurf des sexuellen Missbrauchs als plausibel beziehungsweise erwiesen. Bei 235 von 261 Personen ergaben sich Hinweise auf "untersuchungsgegenständliche Verhaltensweisen", darunter 173 Priester, neun Diakone sowie fünf Pastoral- und Gemeindereferenten.

Die Untersuchung, die neben der Auswertung von Aktenbeständen auch Zeitzeugenbefragungen umfasste, konnte 65 tatsächliche oder mutmaßliche Missbrauchstäter ausmachen. Nur in gravierenden Einzelfällen war Anzeige bei der Staatsanwaltschaft erstattet worden, die den Strafverfolgungsbehörden dann oft schon bekannt waren. Teilweise wurden Kleriker sogar nach einschlägiger staatlicher Verurteilung wieder eingesetzt. Aktuell wird gegen 42 mutmaßliche Täter ermittelt, gegen die das Gutachten Vorwürfe erhebt. Strafrechtlich kämen hier die Tatbestände der Beihilfe zum sexuellen Missbrauch, Beteiligung an Körperverletzungsdelikten und Strafvereitelung in Betracht.

Dazu merkte Martin Pusch von der beauftragten Kanzlei an, dass "sexueller Missbrauch in der katholischen Kirche kein Phänomen der Vergangenheit" sei. In der Vorstellungswelt der kirchlichen Verantwortlichen seien die Geschädigten zumindest bis ins Jahr 2002 so gut wie überhaupt nicht wahrgenommen worden. "Wenn dies aber der Fall war, dann in der Regel nicht aufgrund des ihnen zugefügten Leids, sondern weil man sie als eine Bedrohung für die Erzdiözese und die Institution Kirche ansah."

Wer wusste was?

Die Gutachter gehen davon aus, dass die früheren Erzbischöfe Kardinal Faulhaber von vier, Kardinal Wendel von acht Fällen und Kardinal Döpfner von 14 Fällen wussten. Auch die Generalvikare Buchwieser (8), Fuchs (13), Neuhäusler (1) und Defregger (7) waren über Missbrauchsfälle im Bilde. Vor allem in den 1960er und 70er Jahren wurden wiederholt einschlägig verurteilte Priester aus anderen Diözesen und benachbarten Ländern ohne geeignete Vorkehrungen in Dienst genommen. Dem früheren Erzbischof Kardinal Wetter ist in 21 Fällen Fehlverhalten vorzuwerfen, den Generalvikaren Gruber in 22 und Beer in vier. Der Offizial Wolf fiel zwölf Mal durch kritikwürdiges Handeln auf, für ihn standen nach Eindruck der Gutachter die Interessen der Beschuldigten über denen der Opfer. Er gab keine Stellungnahme für das Gutachten ab und stellte stattdessen die Rechtmäßigkeit der Untersuchung in Frage.

Kardinal Joseph Ratzinger, der emeritierte Papst Benedikt XVI., der sich in einer 82 Seiten umfassenden Stellungnahme, die dem Gutachten beigefügt ist, geäußert hat, sind in vier Fällen Vorwürfe des Fehlverhaltens zu machen. Zwei der Taten wurden während seiner Amtszeit begangen und staatlich sanktioniert. Die Täter blieben in der Seelsorge, kirchenrechtliche Maßnahmen gab es nicht. "Ein Interesse an den Geschädigten und ein insoweit möglicherweise bestehender Fürsorgebedarf war für uns nicht erkennbar", so Pusch. Ein von einem ausländischen Gericht wegen sexuellen Missbrauchs verurteilter Kleriker wurde nach München übernommen – wohl mit Wissen des früheren Papstes.

Ratzinger weist ein Fehlverhalten in allen Fällen mit Verweis auf fehlende Sachverhaltskenntnis und mangelnde kirchenstrafrechtliche Relevanz strikt zurück. "Dabei wird von ihm Unkenntnis selbst dann noch behauptet, wenn diese mit der Aktenlage nach unserem Dafürhalten nur schwer in Einklang zu bringen ist." Besonders skurril: Die Einschätzung seitens Ratzingers, Exhibitionismus und Masturbation sowie das Zeigen von Pornographie vor Kindern sei noch kein Missbrauch im eigentlichen Sinn, da es hierbei zu keinen sexuellen Handlungen an den Kindern gekommen sei. Zudem habe der betreffende Geistliche als "anonymer Privatmann" agiert und sei nicht als Priester erkennbar gewesen. Der frühere Papst habe mit seiner Stellungnahme "einen authentischen Einblick gegeben, wie die weltkirchlich prägende Haltung des vormals höchsten kirchlichen Verantwortungsträgers gegenüber Fällen sexuellen Missbrauchs und seiner persönlichen Verantwortlichkeit im Umgang mit diesen war und auch heute noch ist", bilanzierte der Jurist.

Dem amtierenden Erzbischof Kardinal Marx ist in zwei Missbrauchsverdachtsfällen fehlerhaftes Verhalten zur Last zu legen. Er habe sich nur in einem geringen Teil der Fälle unmittelbar mit ihnen befasst und nur vorgeschlagene Maßnahmen umgesetzt, die ausschließlich in seinem Zuständigkeitsbereich lagen. Die Verantwortung einer regelkonformen Behandlung von Missbrauchsfällen sehe Marx in erster Linie beim Generalvikar und dem Ordinariat.

Der "Fall X"

Exemplarisch hat die Kanzlei den Fall des Priesters X herausgegriffen und akribisch in Form eines Ermittlungsberichts aufgearbeitet. Dieser ist als etwa 370-seitiger Sonderband dem eigentlichen Gutachten angehängt. Daraufhin habe Generalvikar Gruber seine Aussagen von 2010 relativiert, wonach er alleinverantwortlich für die Übernahme des besagten pädophilen Priesters gewesen sei. In einer Stellungnahme vom vergangenen Oktober habe Gruber mitgeteilt, er zweifle nicht daran, dass Kardinal Ratzinger die Umstände gekannt habe. Der Generalvikar sei zur Übernahme der alleinigen Verantwortung gedrängt worden. Die Gutachter konnten dem früheren Papst auch nachweisen, dass er in der Sitzung, welche die Übernahme des fraglichen Klerikers beschloss, anwesend gewesen sein muss, obwohl er in seiner ausführlichen Stellungnahme anderes behauptet hatte.

Dieser Fall sei einer der "klassischen Versetzungsfälle", die es auch in anderen Bistümern gebe. Dabei entstehe eine täterpsychologische Situation, wonach falsche Entscheidungen den Verantwortungsträger ungewollt zum Komplizen machten. "Denn jedes spätere Einschreiten führt dazu, dass sein Fehlverhalten öffentlich wird", führte Rechtsanwalt Ulrich Wastl aus.

Er schloss mit einem Appell: Mit jedem Jahr werde die Zahl derer, die noch zur Aufklärung beitragen könnten, weniger. Verantwortungsträger der Kirche sollten sich daher zwei Fragen stellen: "War ich nicht Bestandteil eines Systems, dessen Totalversagen zu dieser Entwicklung bis 2010 geführt hat? Und war es mir nicht möglich, zu opponieren?" Und: "Wäre es mir wirklich nicht möglich gewesen einzusehen, dass sexueller Missbrauch an Kindern zu derartig fatalen Folgen führt, dass wir die offensichtlich einheitlich festgelegte Linie so nicht weiterführen können?" Gutachterliche Betrachtungen würden in den Kernaussagen immer wieder zu den gleichen Ergebnissen führen, hatte zu Beginn bereits seine Kollegin Marion Westpfahl resümiert, "egal, wie viele Gutachten noch eingeholt werden". Es gehe nicht mehr darum, Grunderkenntnisse zu gewinnen, sondern darum, unerlässliche Konsequenzen zu ziehen.

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