Zur Ehrenrettung von Joseph Ratzinger

Nein, er hat nicht gelogen

Die Schlagzeilen, Ex-Papst Benedikt XVI. habe in Zusammenhang mit dem am 20. Januar von der Münchner Kanzlei WSW veröffentlichten Gutachten über den jahrzehntelangen sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen gelogen, gingen um die Welt. Sie führten, vielleicht mehr noch als das Gutachten selbst und die Ungeheuerlichkeiten, die es offenlegte, zu einem Absturz der Zustimmungswerte zur katholischen Kirche ins Bodenlose.

Zur Frage, ob beziehungsweise inwieweit Ratzinger als Erzbischof von München und Freising – er bekleidete dieses Amt von 1977 bis 1982 – eine Ordinariatsentscheidung von Anfang 1980 mitgetragen hatte, einen bekannt pädokriminellen Priester aus dem Bistum Essen nach München zu versetzen und weiterhin in der gemeindlichen Jugendarbeit zu verwenden, betonte der Ex-Papst in einer umfänglichen Stellungnahme, er habe an der entscheidenden Sitzung vom 18. Januar 1980 gar nicht teilgenommen; es sei ihm insofern auch kein Vorwurf zu machen, dass besagter Priester weiterhin von Gemeinde zu Gemeinde ziehen konnte und sich letztlich in mindestens 24 nachgewiesenen Fällen sexuell schwer an Kindern verging. Erst 2010 war besagter Priester aus dem Verkehr gezogen, sprich: in sein Heimatbistum Essen zurückversetzt und vom Dienst suspendiert worden. Dies allerdings erst, nachdem die New York Times von der Mitverantwortung des mittlerweile zum Papst aufgestiegenen Joseph Ratzinger geschrieben hatte, den überführten Sexualstraftäter weiterhin in der Kinder- und Jugendseelsorge eingesetzt zu haben. Ratzinger hatte schon seinerzeit behauptet, weder von der Vorgeschichte des Priesters gewusst noch an jener Sitzung des Ordinariats teilgenommen zu haben.

Wohlgemerkt: Ex-Papst Ratzinger gab in Zusammenhang mit dem jetzt veröffentlichten Gutachten nicht an, sich nicht daran erinnern zu können, ob er an der Sitzung teilgenommen habe oder nicht – immerhin liegt das Ganze inzwischen mehr als 40 Jahre zurück, und Erinnerungslücken wären da durchaus nachvollziehbar –, vielmehr beharrte er kategorisch und unter ausdrücklichem Verweis auf sein "gut funktionierendes Langzeitgedächtnis" darauf, bei der entscheidenden Sitzung nicht dabei gewesen zu sein und daher gar nichts gewusst haben zu können: er trage insofern keinerlei Verantwortung. Dreimal hintereinander: Nein, ich war nicht dabei. Nachdem aus dem seinerzeitigen Sitzungsprotokoll aber klar hervorging, dass er sehr wohl an dieser Sitzung teilgenommen und sogar mehrfach das Wort ergriffen hatte, stand er plötzlich vor aller Welt als "Lügner" da, der, um seine Mitverantwortung am alleserschütternden Missbrauchsskandal seiner Kirche zu verschleiern, vorsätzlich die Unwahrheit gesagt habe.

Vor dem Hintergrund eines weltweiten Aufschreis der Empörung – die Rede war mithin von einem "Lügengebäude", das krachend in sich zusammengestürzt sei – korrigierte sich Ratzinger vier Tage später: Er habe doch an besagter Sitzung teilgenommen, die falsche Angabe sei Folge eines Versehens bei der redaktionellen Bearbeitung seiner Stellungnahme gewesen. Gleichwohl blieb er bei seiner Behauptung, nichts von der Vorgeschichte des seinerzeit in seinen Zuständigkeitsbereich versetzten Pfarrers gewusst zu haben; überhaupt habe er "an diese Person keinerlei Erinnerung".

Der Münsteraner Theologe und Kirchenrechtler Thomas Schüller wies auch die korrigierte Einlassung Ratzingers als gänzlich unglaubwürdig zurück: der Ex-Papst, so Schüller, verstricke sich immer mehr in seine Lügengebilde, womit er dauerhaft nicht nur das Papstamt, sondern die katholische Kirche insgesamt beschädige. Im Berliner Tagesspiegel hieß es, ausgerechnet er, der Kirchenobere, der sich den Wahlspruch "Cooperator Veritatis" (Mitarbeiter der Wahrheit) ins Wappen schreiben ließ, müsse sich nun vorwerfen lassen, eben das nicht zu sein. Ratzinger habe nicht nur sich selbst, sondern auch die Institution, für die er steht, unrettbar diskreditiert. Sogar Bild ging auf größtmögliche Distanz: "Große Enttäuschung! Papst Benedikt (94) hat den Missbrauchs-Gutachtern im Erzbistum München unwahre Angaben über seine Verwicklung in die Vertuschungs-Affäre gemacht", gefolgt von einem gnadenlosen Verdikt: "Wir sind nicht mehr Papst".

Ein lügender Papst?

Wie ist das zu begreifen, fragen sich nun viele, dass ein Mensch, dem überdurchschnittliche Intelligenz nachgesagt wird und der sich wohl auch für überdurchschnittlich intelligent hält, sich zu einer solch abgrundtief dummen Lüge hinreißen lässt? Abgrundtief dumm deshalb, weil ihm selbst bei geringerer Intelligenz hätte klar sein müssen, dass sein Lügenkonstrukt über kurz oder lang auffliegen würde. Spätestens dann nämlich, wenn jemand einen Blick in das seinerzeit wortgenau geführte – und auch ihm selbst vorliegende! – Protokoll der Ordinariatssitzung werfen würde. Und weil ihm hätte klar sein müssen, dass das Auffliegen dieses Lügenkonstrukts einen pastoralen Super-GAU nach sich ziehen würde, den weder er noch seine Kirche unbeschadet würden überleben können; wenn überhaupt.

Wobei die Frage noch gar nicht gestellt, geschweige denn geklärt ist, wie einer, der sich als "oberster Lehrmeister und Hüter der Wahrheit" versteht und ein Leben lang mit erbittertster Vehemenz gegen jede Form eines "moralischen Relativismus" zu Felde zog – nicht umsonst erhielt er schon in den 1980ern den Beinamen "Panzerkardinal" –, zum Vertuschen eigenen Versagens, sprich: aus moralisch niedrigstem und verachtenswertestem Beweggrund "falsches Zeugnis" ablegen und damit gegen das zentrale Diktum seines eigenen Glaubens- und Wertesystems verstoßen kann. Ein lügender Papst? Noch dazu einer, um es zu wiederholen, der sich zur höchsten moralischen Autorität stilisiert (um nicht zu sagen: aufgeblasen) hat seit den Tagen des "Mannes aus Nazareth", verehrt vom Kirchenvolk als "il puro", der "Makellose"?

Er hat nicht gelogen …

Die alleserklärende Antwort in Kurzform: Papst emeritus Ratzinger hat mit Blick auf seine behauptete Nicht-Teilnahme an der Ordinariatssitzung vom 18. Januar 1980 – und nur darum soll es hier gehen, nicht um die sonstigen Vorwürfe, die, wie berechtigt auch immer, an ihn gerichtet werden – nicht gelogen. Und das nicht nur deshalb nicht, wie Kardinal Gerhard Ludwig Müller, Nachfolger in Ratzingers Amt als "Präfekt der Glaubenskongregation", in Verteidigung seines ehemaligen Vorgesetzten ausführt, weil dieser, 94-jährig, sich nicht mehr an alle Einzelheiten eines Treffens von vor über 40 Jahren erinnern könne und können müsse und daher, völlig legitim, vielleicht etwas durcheinander gebracht habe; sondern vor allem deshalb nicht, weil, so Müller, die "maßgebende Definition [des Begriffes "Lüge"] im Gegensatz zu ihrer ideologisch-agitatorischen Instrumentalisierung im Widerspruch gegen das Wort Gottes [besteht], wie er es in Christus gesprochen hat, und in dem die Schöpfung beruht. Lüge ist demzufolge die Verneinung, Leugnung und wissentliche und willentliche Zerstörung der Wirklichkeit, wie sie von Gott geschaffen ist und in Gott besteht." Und eben nicht das bloße Vertun eines alten Mannes in der Erinnerung an eine Nebensächlichkeit, die vielleicht oder vielleicht auch nicht vor Jahrzehnten geschehen sein mag. Es sei nichts als "antikatholische Propaganda" und "perfide Rechthaberei", so Müller, "ihm die Anwesenheitsliste der Sitzung um die Ohren zu schlagen und sie ihm zynisch wie eine Trophäe vorzuhalten, so wie die Fischweiber – die Poissarden – auf dem Demonstrationszug von Versailles ins revolutionäre Paris [am 5./6. Oktober 1789] die abgeschlagenen Köpfe der Diener König Ludwig XVI. auf Bratspießen vorausgetragen haben".

Aber er hat doch …

Nein, hat er nicht. Er hat – wie soll man sagen, ohne sich nicht eine sofortige Klage wegen Beleidigung, übler Nachrede, vielleicht gar wegen Blasphemie, Gotteslästerung oder noch Schlimmerem einzufangen? – gepflegt "einen an der Klatsche". Wahlweise auch ein "Ei am Wandern", "ein Rad ab" oder "nicht alle Tassen im Schrank". (Derlei volkstümlich-metaphorische Beschreibung des ex-päpstlichen Gemüts- und Geisteszustandes ist selbstredend nicht als Beleidigung oder Herabwürdigung des emeritierten "Heiligen Vaters" gemeint oder zu verstehen, sondern ist, ebenso wie die im weiteren Verlauf dieses Textes verwendete fachlich-klinische Begrifflichkeit, von durchaus begründeten Verdachtsannahmen getragen.)

Man könnte wohl keine Seite des mehr als 1.000 Seiten umfassenden "Pschyrembel für Psychiatrie und Klinische Psychologie" aufschlagen, ohne auf ein Störungsbild zu treffen, das sich nicht in der Person des vormaligen Papstes widerspiegelte. Von OCD (obsessive-compulsive disorder = zwanghaftes Denken und Handeln) und paranoiden Wahnvorstellungen jedweder Sorte (einschließlich halluzinatorisch-schizophrener Anteile) hin zu toxisch-selbstzerstörerischem Narzissmus (samt bezeichnendem Komplettmangel an Empathie für andere) und sonstig schweren Derealisations- und Depersonalisationsstörungen.

Bronzestatue in Erinnerung an den Papstbesuch in Altötting, 2016 (Foto: privat)

Bronzestatue in Erinnerung an den Papstbesuch in Altötting  2016
(Foto: © privat)

Was auch sollte man halten von einem Mann, der sich als Gesprächspartner einer unsichtbaren Wesenheit geriert, die es (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) gar nicht gibt? Der unbeirrbar an Übersinnliches glaubt, auch wenn es noch so absurd ist? Oder gerade weil? An die Transsubstantiation (= materielle Umwandlung) etwa von Messwein in das Blut Christi, wenn er einen lateinischen Zauberspruch darüber aufsagt: "Hic est enim calix sanguinis mei, …", wieviele zehntausendmal wird er diesen Spruch wohl dahergesalbadert haben in seinem mehr als 70-jährigen Dasein als "Diener des Herrn"? Oder der davon überzeugt ist, durch Anrufung irgendwelcher Heiliger, vor allem aber der "schwarzen Madonna von Altötting" oder seines 2005 nach schwerer Krankheit verstorbenen Amtsvorgängers, medizinisch nicht erklärbare Wunderheilungen bewirken zu können? Der an ein Leben nach dem Tod glaubt und an Heerscharen von Engeln, die ihn an den Thron einer nur in seinem Kopf existierenden "Dreifaltigkeit" tragen, wo er dann jener Glückseligkeit teilhaftig wird in saecula saeculorum, die ihm hienieden ein Leben lang verwehrt blieb? Oder an ziegenbockgehörnte Teufel, die ihn, leibhaftig und mit glühenden Mistgabeln, in Verdammnis und ewiges Höllenfeuer stoßen, sollte er je Zweifel aufkommen lassen an seinen eigenen Hirngespinsten? Wäre er nicht (Ex-)Oberhaupt eines Bezugssystems, in dem sämtliche Mitwirkenden auf sämtlichen Ebenen – Kardinäle, Bischöfe, Priester, Ordensleute bis hin zum einfachen Kirchenvolk – seit Jahrhunderten auf den gleichen Abersinn und Irrwitz konditioniert sind, säße er längst in der geschlossenen Abteilung einer forensisch-psychiatrischen Klinik. So aber verkündet er als "Stellvertreter Gottes auf Erden" und mit albernem Hut auf dem Kopf sich und der Welt ebendiesen Mumpitz als "höchste und ewig gültige Wahrheit". Und niemand steht auf und fragt, aus welcher Klapse der denn entsprungen ist. (Wobei zu seiner Verteidigung zu sagen wäre, dass natürlich auch er selbst Opfer des kranken und krankmachenden Wahnsystems "Kirche" ist, das er vertritt und als Täter ein Theologenleben lang mit fortgeschrieben hat.)

Mit Blick auf die Ratzinger vorgeworfene "Lüge" in Zusammenhang mit seiner zunächst abgestrittenen, dann aber doch eingeräumten Teilnahme an der zur Rede stehenden Ordinariatssitzung vom 18. Januar 1980 ist aufschlussreich, was Stanford-Psychiater David Spiegel über dissoziative Identitätsstörungen schreibt: "Menschen mit einer dissoziativen Störung können Aktivitäten, die sich über Minuten, Stunden oder manchmal viel längere Zeiträume ereignet haben, vollkommen vergessen. […] Dissoziative Störungen werden normalerweise durch überwältigenden Stress oder Trauma ausgelöst. Zum Beispiel durchleben Betroffene innere Konflikte, die so unerträglich sind, dass ihre Psyche gezwungen ist, inkompatible oder unakzeptable Informationen und Gefühle von bewussten Denkvorgängen zu trennen."

Im Lichte der Ausführungen Spiegels hat der emeritierte Papst mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht gelogen. Er wusste (und weiß vermutlich trotz Einsichtnahme in das Protokoll bis heute) NICHTS von seiner Teilnahme an besagter Sitzung, in der er Informationen über einen pädokriminellen "Mitbruder in Christo" erhielt, die für sein Kognitionssystem derart inkompatibel waren, dass sowohl Sitzung als auch Mitbruder im Sinne einer dissoziativen Amnesie (ICD-10-Code: F44.0) komplett und unwiederherstellbar aus seinem Erinnerungsvermögen gelöscht wurden. Er hat sich daher mit seiner Behauptung, bei der Sitzung nicht dabeigewesen zu sein und daher von besagtem Mitbruder nie gehört zu haben, keiner Lüge schuldig gemacht, für die er sich jetzt entschuldigen könnte oder müsste. Er war und ist insofern schlichtweg schuldunfähig. Schwer persönlichkeitsgestört und mit kaum (noch) einer Latte am Zaun, aber, zumindest hinsichtlich seiner Falschbehauptung, nicht an der Ordinariatssitzung vom 18. Januar 1980 teilgenommen zu haben, ohne Schuld. Dafür muss er jedenfalls nicht in der Hölle schmoren.

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Apage Satanas

Persönliche Notiz: Ich bin Joseph Ratzinger während meiner Studienzeit mehrfach begegnet. Er war 1977 Erzbischof von München und Freising geworden und damit von Amts wegen Ratsvorsitzender der Katholischen Stiftungsfachhochschule München.

Erzbischof Ratzinger an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, 1978. Auf dem Schild des "verirrten jungen Mannes" (so Ratzinger in seiner Rede) steht: "Meinungsfreiheit ist so wichtig wie die Luft zum Atmen. HILFE, die Luft wird immer dünner". (Foto: privat)

Erzbischof Joseph Ratzinger an der Katholischen Stiftungsfachhochschule München, 1978. Auf dem Schild des "verirrten jungen Mannes" (so Ratzinger in seiner Rede) steht: "Meinungsfreiheit ist so wichtig wie die Luft zum Atmen. HILFE, die Luft wird immer dünner".
(Foto: © privat)

An ebendieser Einrichtung war ich seinerzeit im Studiengang "Jugend- und Erwachsenenbildung" eingeschrieben. Da ich meines miserablen Notendurchschnitts wegen keinen Studienplatz an der staatlichen Fachhochschule bekommen hatte, war ich an der katholischen gelandet. Ab dem dritten Semester war ich, gewählt über die Gewerkschaftsliste (MSB/SHB), Vorsitzender des AStA und bekam als solcher den eisernen Besen unmittelbar zu spüren, mit dem Ratzinger die Hochschule von unerwünschten Elementen zu säubern suchte: Als eine seiner ersten Amtshandlungen hatte er die Verfasste Studentenschaft und damit den AStA verboten. Da dieser seine Tätigkeit aber nicht einstellte, wurden sämtliche AStA-Mitglieder mit Hausverbot belegt; unmittelbar anschließend wurden sie, mitten im laufenden Semester, offiziell der Hochschule verwiesen. Mich hatte Ratzinger dabei besonders im Blick, nicht zuletzt seiner engen geistlichen Beziehung mit meiner Großtante wegen, ihres Zeichens Generaloberin der "Englischen Fräulein" – heute: Congregatio Jesu – mit Sitz im St.-Joseph-Kloster zu Altötting. Meine Großtante war schon zu Lebzeiten, und das weit über den von ihr geführten Betschwesternorden hinaus, als Heilige verehrt worden. Ratzinger, seit je mit besonders innigem Bezug zur Marienwallfahrt nach Altötting, war oft bei ihr zu Besuch gewesen, bevor er 1981 nach Rom ging. (Heute ziert eine überlebensgroße Bronzestatue Ratzingers – in päpstlichem Vollornat – die Fassade des Klosters am Altöttinger Kapellenplatz.)

Nach massivem öffentlichen Protest und unterstützt vom seinerzeitigen SPD-Vorsitzenden im Bayerischen Landtag wurde die (gesetzwidrige) Relegation rückgängig gemacht: wir durften weiterstudieren, auch der AStA wurde wieder erlaubt, musste sich aber hinfort "Studentenvertretung" nennen und hinnehmen, dass seine Sitzungen und Beschlüsse von einem "Vertrauensdozenten" beobachtet wurden.