China, Indien – und nach uns Aufklärung und Wissenschaft!

Die Flut der Pseudomedizin

Pseudomedizin ist längst zum Exportschlager geworden: Sowohl China als auch Indien werben in der Welt für ihre evidenzfreien Heilmethoden. Die Traditionelle Chinesische Medizin wurde nun gar von der WHO "geadelt".

Viel zu wenig wird hierzulande wahrgenommen, dass die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM), ein weitgehend evidenzfreies Konglomerat von angeblichen "uralten Heilmethoden mit der Weisheit des Ostens", mit ihrem Aushängeschild Akupunktur von der chinesischen Regierung schon lange als Exportartikel promotet wird, um sie in den westlichen Gesundheitssystemen zu etablieren. Der größte Erfolg in dieser Hinsicht dürfte sein, dass TCM-Diagnosekriterien Aufnahme in einem eigenen Hauptabschnitt in der bald in Kraft tretenden Neufassung des ICD (International Classification of Diseases) der WHO gefunden haben. Das ICD-Manual ist weltweit in Gebrauch und in manchen Ländern maßgeblich dafür, was das Gesundheitssystem anerkennt. Um sich ein Urteil über die TCM-Diagnosemethoden zu bilden, ist ein Blick in den entsprechenden Abschnitt des ICD-11 durchaus zu empfehlen.

Schon 2014 hatte sich die WHO zu "traditioneller Medizin" einschließlich TCM und Homöopathie in einem Strategiepaper für die Jahre 2014 – 2023 sehr wohlwollend geäußert. Die Neigung der WHO zu "traditioneller Medizin" bar jedes wissenschaftlichen Evidenznachweises ist notorisch. So weist sie Begehrlichkeiten von homöopathischen Verbänden (wie kürzlich das Verlangen, alle Ärzte weltweit einer Pflichtausbildung in Homöopathie zu unterziehen) zwar in der Regel zurück, hat sich aber nie von der Homöopathie in völliger Klarheit distanziert.

Jedenfalls ist interessant, dass das National Institute of Complementary Medicine (NICM) in Australien das genannte WHO-Paper aus 2014 in den Himmel gehoben und massiv promoted hatte. Seine eigenen Aktivitäten bewarb das NICM allen Ernstes als "direkt von der WHO in Auftrag gegeben". In Beijing dürfte darauf das eine oder andere Gläschen Moutai geleert worden sein …

Was steckte dahinter? Es stellte sich heraus, dass ein Mitarbeiter des NICM, der kanadische Naturheilkundler Michael Smith, einer der Verantwortlichen für die Ausarbeitung dieses WHO-Berichts war. Man halte sich diesen Vorgang einmal vor Augen: Die WHO ist also so unkritisch in Sachen "traditionelle Medizin" gewesen, dass sie es zuließ, einem Heilpraktiker (ich verwende diesen Begriff hier einmal) Verantwortung bei der Veröffentlichung eines nicht unwichtigen WHO-Strategiedokuments zu übertragen. Diese Geschichte konnte durch ihr Bekanntwerden die Präsenz von TCM in Australien zwar etwas bremsen, aber nicht aufhalten. Von dem Rückenwind durch das ICD-11 ganz zu schweigen. Wer übrigens so etwas wie Evidenzbelege für die TCM und ihre Zweige in diesem 76-Seiten-Paper unter der Flagge der WHO sucht, der sucht vergebens.

Schlimm genug (nach meiner Einschätzung eine Folge der chinafreundlichen Haltung der langjährigen WHO-Präsidentin Margaret Chan, eine Geschichte für sich). Die offizielle Begründung für die Promotion "traditioneller Medizin" durch die WHO ist, dass sie bezahlbarer und damit leicht zugänglicher für die breite Bevölkerung sei. Ich will nicht einmal bestreiten, dass darin ein Körnchen Wahrheit steckt, in dem Sinne, dass eine basale Versorgungsstruktur im Extremfall besser sein kann als buchstäblich gar nichts. Aber von Seiten der Weltgesundheitsorganisation hört sich das im günstigsten Falle an wie eine Kapitulation. Im ungünstigsten stellt sich die Frage nach dem cui bono. Vor allem, wenn man wie in Indien sieht, dass selbst regierungsseitig mit der Rückendeckung der WHO den Bemühungen der "echten" Gesundheitspolitik, eine basale wissenschaftsbasierte Gesundheitsversorgung zu schaffen, die Mittel dafür abspenstig gemacht werden.

Nicht nur China ist als "medizinische Exportaktion" aktiv

Neuerdings treten auch die Inder auf den Plan und beglücken afrikanische Staaten mit ihrem AYUSH-Unsinn. Ich setze mal voraus, dass bekannt ist, was "AYUSH" darstellt? Ein seit 2014 existierendes Parallel-Gesundheitsministerium für die "traditionellen Medizinen" Indiens, wozu bemerkenswerterweise auch die Homöopathie gerechnet wird (das "H" am Ende). Diese Institution und das "echte" Gesundheitsministerium stehen sich einigermaßen unversöhnlich gegenüber, kein Wunder. Nur: der Hintergrund der Installation von AYUSH war die ausgesprochen nationalistisch angelegte indische Politik seit dem Regierungswechsel 2014, die den Laden nach wie vor trägt – und in jeder Hinsicht bevorzugt. Zu Lasten der Chance, wenigstens eine basale Gesundheitsinfrastruktur auf wissenschaftlicher Basis aufzubauen.

Unvergessen, wie AYUSH seine Mittel und Methoden – auch und gerade die Homöopathie – in der Pandemie breit promotete und auch die Falschmeldung verbreitete, Prinz Charles habe seine Covid-Infektion mittels Ayurveda, Homöopathie und der Verhaltensempfehlungen von AYUSH überwunden. Selbst der "alternativen" Methoden mehr als zugeneigte Prinz ließ diese Meldung schnellstens über seine Sprecherin dementieren.

Aktuell ist zu vernehmen, dass AYUSH in Afrika Kampagnen gestartet hat, um Ayurveda dort auf breiter Front zu promoten. Was mich persönlich an die unsäglichen "Homöopathen ohne Grenzen" erinnert, die seinerzeit dort aufliefen, um Ebola mit Globuli zu behandeln und vom offenbar aufgeklärten Westafrika gleich wieder nach Hause verfrachtet wurden.

Leider ist Westafrika offenbar kein aktuelles Modell im Umgang mit international tätigen Promotern von Pseudomedizin. Wie Medical Dialogues berichtet, macht ausgerechnet AYUSH in Afrika "Fortschritte".

Sarbananda Sonowal, der AYUSH-Minister der indischen Union, macht gewaltige Ankündigungen. Glaubt man ihm, werden seine Heilslehren bald "global eine große Rolle in den Gesundheitssystemen spielen" und das gleich "zum Wohle der ganzen Menschheit". Dies alles mit massivem Rückenwind von Regierungschef Narendra Modi. Man kooperiere bereits mit "über 50 Staaten". Und der Hinweis auf die angeblichen Erfolge von AYUSH in der Pandemie darf natürlich auch nicht fehlen. Ich vermute mal, die bestanden in einer beklagenswerten Zahl unnötig Verstorbener und Erkrankter. Nicht unterschlagen werden soll aber auch, dass das "echte" Gesundheitsministerium das Seine tut, die AYUSH-Propaganda einzudämmen, dabei aber einen schweren Stand hat.

Und die allfällige Anekdote gibt's natürlich auch: Die Tochter des früheren Premierminsters von Kenia habe ihr Augenlicht nach einer Behandlung in einer ayurvedischen Klinik in Kerala wiedererlangt. Verifizierbar ist diese Geschichte leider nicht. Natürlich beeilte sich der Vater, wie man hörte, mit Danksagungen in Richtung Indien und wird vermutlich bei denen sein, die die Bemühungen von AYUSH unterstützen, die Gesundheitsversorgung in Afrika noch schlechter zu machen als sie eh schon ist.

Wir sehen, dass es manchen Antrieb für die Verbreitung und Verteidigung unwissenschaftlichen Unsinns geben kann: in diesem Falle nationalistisch hinterfütterte Verblendung kombiniert mit wirtschaftlichen Interessen. Nicht so fernliegend, wir wissen auch hierzulande sehr gut, wie völkisches Gedankengut und "alternative Medizin" sich ergänzen können. Und wohlgemerkt: es geht keineswegs um ein Herabschauen auf "Rückständigkeit in fernen Ländern". Im Gegenteil. Ich beklage, dass von Indien und China, machtvollen und einflussreichen Ländern, unter tatkräftiger Mithilfe der WHO Ländern, die wahrhaftig sinnvolle Unterstützung und Hilfe benötigen, sinnlose Pseudomedizin angedient wird.

Ob sich die Chinesen den TCM-Markt in Afrika wohl streitig machen lassen werden? AYUSH kann immerhin keine Adelung durch das ICD-11 vorweisen. Und die Chinesen sind ja durch ihr massives landgrabbing in Afrika dort längst präsent, nicht ganz zu Unrecht ist bereits die Rede von einer "neuen Kolonialmacht".

Neokolonialismus in unerwarteter Form muss man zur Kenntnis nehmen. Es sei auch nicht verschwiegen, dass so etwas nur möglich ist, weil der Westen viel, viel zu wenig getan hat, um in den bedürftigen afrikanischen Staaten grundlegende Strukturen von Gesundheitssystemen zu fördern. Ein Symptom dafür ist auch die Corona-Durchimpfungsrate auf dem afrikanischen Kontinent von ganzen 21 Prozent (davon 5,1 Prozent unvollständig geimpft, Stand 18. April 2022). Dazu muss man wissen, dass das COVAX-Projekt der WHO, mit dem die Impfung in die Entwicklungsländer gebracht werden soll, ohnehin nur das bescheidene Ziel einer Impfung von 20 Prozent der jeweiligen Bevölkerung hat. Also könnte man sich nach den aktuellen Zahlen in Bezug auf Afrika gar ein "mission accomplished" bescheinigen? Fortgeschrieben ist das Programm bislang nicht. Und man täusche sich nicht – solche geringen Durchimpfungsraten bergen Risiken auch für uns, beispielsweise die Gelegenheit für das Virus, weiterhin schnell und variantenreich zu mutieren. Dr. Natalie Grams-Nobmann hat ferner erst vor kurzem aufgezeigt, dass und warum man sich vor einer Infektion nach wie vor schützen sollte.

Eine Welt, geprägt von Aufklärung und Humanismus? So sicher nicht …

Da kommt vermutlich auch auf uns hier noch einiges zu. Homöopathie ist nach wie vor hierzulande ein Dauerproblem, das hoffentlich bald einmal von der Gesundheitspolitik wirklich in seiner Tragweite erkannt werden wird. TCM ist in gewissem Umfang ebenfalls bereits etabliert. Das ICD-11 schafft eine Legitimationsgrundlage für die TCM weltweit. China und vielleicht auch Indien werden sich den lukrativen Pseudomedizin-Markt hierzulande nicht entgehen lassen – die TCM ist ja längst irgendwie präsent und die Akupunktur sozusagen dabei, die "zweite Homöopathie" zu werden – nämlich wie diese allgemein, gar zunehmend, positiv konnotiert, aber ohne validen Evidenzbeleg. Dass gerade die deutschsprachigen Länder für solche Dinge höchst empfänglich sind, wissen wir zur Genüge. Insofern ist und bleibt die Aufklärung über Pseudomedizin aller Couleur ein wichtiges humanistisches Anliegen.

Der Artikel erschien zuerst im Blog des Autors und wird hier aktualisiert und leicht überarbeitet veröffentlicht.

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