Interview

Das "Kölner Beschneidungsurteil" war richtig

Prof. Dr. Thomas Fischer ist Rechtsanwalt und war Vorsitzender Richter des 2. Strafsenats des Bundesgerichtshofs. Der hpd hat mit dem Autor des führenden Praxiskommentars zum Strafgesetzbuch über das "Kölner Beschneidungsurteil" vor zehn Jahren gesprochen, das bis heute weitreichende Folgen hat.

hpd: Herr Professor Fischer, am 7. Mai dieses Jahres jährt sich das Aufsehen erregende "Kölner Beschneidungsurteil" zum zehnten Mal. Zu bewerten hatten die Berufungsrichter des Landgerichts seinerzeit die medizinisch nicht indizierte Beschneidung der Penisvorhaut eines vierjährigen Jungen, die von seinen muslimischen Eltern gewünscht und vom Arzt technisch kunstgerecht durchgeführt worden war. Damals gab es für solche Eingriffe anders als heute noch keine ausdrückliche gesetzliche Erlaubnis, und die Richter bewerteten den Schnitt als Körperverletzungsunrecht. Sie halten das Urteil für richtig. Warum kann der Eingriff Ihrer Auffassung nach nicht schon wegen seiner weltweiten Üblichkeit als "sozialadäquat" und rechtens gelten?

Prof. Dr. Thomas Fischer: Ich hielt die Auffassung des Landgerichts Köln für zutreffend.

Der Eingriff, männlichen Personen die Penisvorhaut abzuschneiden, ist meines Wissens nicht "weltweit üblich".

Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und ganz vorherrschender Ansicht in der rechtwissenschaftlichen Literatur ist ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit, auch wenn er "zu medizinischen Zwecken" oder/und durch einen Arzt durchgeführt wird, eine objektiv und subjektiv tatbestandliche "Körperverletzung" im Sinn von Paragraph 223 Absatz 1 StGB. Um straflos zu sein, bedarf sie also einer "Rechtfertigung". Das ist beim ärztlichen Eingriff in aller Regel die Einwilligung des Patienten. Damit diese wirksam ist, muss der Patient einwilligungsfähig, also insbesondere selbstbestimmungsfähig sein und die Zustimmung in voller Kenntnis von Zweck und Risiken sowie freiwillig abgeben. Das gilt in ganz besonderer Weise in Fällen, in denen, wie bei der Beschneidung meistens, der Eingriff nicht medizinisch indiziert ist. Minderjährige Kinder sind nicht einwilligungsfähig.

In der Debatte, die damals auf das "Beschneidungsurteil" folgte, spielte das Argument der Religionsfreiheit eine große Rolle, weil die Knabenbeschneidung im Islam und Judentum ein religiöser Brauch ist. Gibt die Religionsfreiheit der Eltern ihnen das Recht, den Eingriff durchführen zu lassen?

Die Ausübung der Religion (Art. 4 Abs. 1 GG) war/ist das meistgebrauchte Argument für die Knabenbeschneidung, rechtlich aber (fast) ohne Belang. Die Regelung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, wonach Sorgeberechtigte ihren Kindern auch gegen deren Willen die Penisvorhaut abschneiden lassen dürfen, knüpft daher zu Recht nicht an Religion an. Die Motive der Eltern können beliebig sein: Mode, unsinnige Gesundheitsvorstellungen, Hygiene, Furcht vor familiärem Druck, und so weiter.

Als Reaktion auf das Kölner Urteil hat das Parlament sehr schnell eine gesetzliche Beschneidungserlaubnis ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen – und zwar eine, die nicht mit der Religionsfreiheit begründet wird. Paragraph 1631d BGB unterstellt es nun der Personensorge, insbesondere also dem Elternrecht, in die Beschneidung des männlichen Kindes einzuwilligen und damit den Eingriff zu rechtfertigen. Fügt sich diese Regelung sinnvoll in die Rechtsordnung ein?

Nein, das tut sie nach meiner Ansicht nicht. Angeblich soll dadurch ein "Recht" der Eltern (!), nicht des Kindes verwirklicht werden. Das Kind wird ja nicht gefragt beziehungsweise kann gar nicht gefragt werden, wenn es zu klein ist. Würden Eltern mit einem wenige Monate alten Säugling zum Tätowierer gehen und ein großflächiges "religiöses" Tattoo verlangen, wäre das sittenwidrig und strafbar. Dasselbe gilt für fast alle anderen Körperverletzungen. Niemand käme auf die Idee, Eltern dürften aus Gründen der "Tradition" oder weil es angeblich ein Gott befohlen hat, ihren Kindern die Ohrläppchen abschneiden, Tellerlippen gestalten oder ihnen rituelle Narben im Gesicht zufügen. Ich glaube auch nicht, dass ein Arzt oder eine andere Person gegen den ausdrücklichen erklärten Willen eines sechsjährigen Mädchens allein auf Wunsch von deren Mutter oder Vater dem Kind Ohrlöcher stechen würde.

Es geht nicht darum, ob oder dass die Beschneidung per se unzulässig wäre. Selbstverständlich kann jede entscheidungsfähige Person (etwa ab dem Zeitpunkt der "Religionsmündigkeit") darüber frei entscheiden, anders als über andere, "sittenwidrige" Eingriffe, die auch durch Einwilligung nicht gerechtfertigt werden können, etwa chirurgische Gestaltungen grotesker Schönheits-Ideale. Wer sich beschneiden lassen will, aus welchen Gründen auch immer, darf das selbstverständlich tun. Es geht darum, ob Eltern/Sorgeberechtigten das "Recht" einzuräumen ist, ihre eigenen (!) Moral- oder Religionsvorstellungen mit Gewalt durch nicht revidierbare körperliche Eingriffe an ihren Kindern zu "verwirklichen".

Die Knabenbeschneidung ist erlaubt, die Mädchenbeschneidung wird als Genitalverstümmelung bezeichnet und gemäß Paragraph 226a StGB als Verbrechen bestraft. Lässt sich die Unterscheidung mit dem Hinweis auf die Schwere der Eingriffe legitimieren?

Damit ist die Einführung des Paragraphen 226a StGB legitimiert worden. Das ist aber schon im Ansatz unzutreffend, weil "Genitalverstümmelung" bei männlichen Personen ja nicht nur – aber auch – die Penisbeschneidung ist. Es gibt zahllose Genitalverstümmelungen bei männlichen Personen, die nichts mit Beschneidung zu tun haben, zum Beispiel schwere Verletzung an Penis oder Hoden bei Folterungen. Solche "Verstümmelungen" sind nicht von Paragraph 226a erfasst, der nach meiner Ansicht schlicht gleichheitssatzwidrig ist und gegen Artikel 3 Absatz 1 GG verstößt. Das fällt nur deshalb nicht auf, weil in Deutschland, allem Panikgeschrei entgegen, noch kein einziger Fall von Genitalverstümmelung verfolgt und bestraft worden ist. Die angeblichen "Opferzahlen" sowie die exorbitanten Zahlen von angeblich "bedrohten Mädchen" sind einfach Hochrechnungen auf die Zahl der weiblichen Personen, die aus Ländern mit Mädchenbescheidung nach Deutschland eingewandert sind. Und bei den "Bedrohten" wird einfach unterstellt, Eltern aus solchen Ländern würden ihren Töchtern auch nach jahrzehntelangem Aufenthalt in Deutschland noch Klitoris oder Schamlippen abschneiden lassen. Das trifft nicht zu. Es gibt einen erläuternden Text von mir dazu in einer Spiegel-Kolumne vom 31. August 2018, die man online noch findet und auf die ich an dieser Stelle einmal hinweisen möchte.

Hat der Gesetzgeber seine Schutzpflicht gegenüber dem männlichen Kind verletzt?

Ja.

Aus Paragraph 1631d II BGB ergibt sich die Regelung, dass ab einem Alter von sechs Monaten nur noch ein Arzt den Eingriff vornehmen darf, bei jüngeren Knaben darf es auch eine gleich befähigte Person – also ausgerechnet bei den jüngsten und damit verletzlichsten Kindern gilt keine Arztpflicht. Das ist insbesondere für die jüdische Säuglingsbeschneidung bedeutsam. Lässt sich diese sogenannte Mohelklausel legitimieren?

Nach meiner Ansicht: Nein. Das ergibt sich schon aus dem oben bereits Gesagten. Es ist in Deutschland bei Strafe verboten, einem Schaf den Hals durchzuschneiden. Aber jeder fundamentalistische "Beschneider" darf Kleinstkindern gegen ihren Willen ohne wirksame Betäubung auf Befehl der Eltern die Penisvorhaut abschneiden. Ich halte das für soziologisch erklärbar, aber für in der Sache abwegig.

Halten Sie die Jungenbeschneidung alles in allem für einen "schädlichen Brauch" im Sinne von Artikel 24 III Kinderschutzkonvention, der folglich abzuschaffen ist?

Die sogenannte Kinderschutzkonvention der UN gilt für Personen unter 18 Jahren. Sie ist nicht ohne weiteres auf die deutschen rechtlichen Verhältnisse übertragbar, da hier der begriff des "Kindes" nur bis zum 13. Lebensjahr gilt. Mit 17 Jahren ist der Mensch in der Regel selbstbestimmt genug, um über Eingriffe wie die Penisbeschneidung selbst frei zu entscheiden. Allein darum geht es. Soweit Artikel 24 Absatz 3 der Konvention zustimmungsunfähige Kinder betrifft, gilt er selbstverständlich auch für ein auf "Brauchtum" gestütztes Knabenbeschneiden. Das kann sowohl die Sache selbst als auch zum Beispiel die Form betreffen.

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