Interview

"Vertuschung beginnt nicht erst im Generalvikariat"

Der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche ist noch längst nicht vollständig aufgearbeitet. Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass die Strukturen der Kirche selbst den Missbrauch begünstigten. Das ist auch das Ergebnis der jüngst vorgestellten Studie zum Missbrauch im Bistum Münster. hpd-Redakteurin Daniela Wakonigg sprach hierüber mit dem Leiter der Studie, Prof. Thomas Großbölting.

hpd: Als das Ausmaß des Missbrauchsskandals in der katholischen Kirche im Verlauf des letzten Jahrzehnts immer deutlicher wurde, haben sich viele die Frage gestellt: Wie konnte das passieren – und vor allem: Wie konnte es in diesem Ausmaß passieren? Diese Frage stellen sich noch immer viele und Sie, Herr Prof. Großbölting, haben versucht, mit Ihrer Studie ein paar Antworten auf diese Frage zu geben – und zwar Antworten, die sich über mehrere Ebenen erstrecken. Beginnen wir mit der Ebene der Kirchenfunktionäre. Welche Strukturen und Mechanismen haben Sie dort festgestellt, die dazu führten, dass der Missbrauch von Minderjährigen in der katholischen Kirche über Jahrzehnte in diesem Umfang stattfinden konnte?

Thomas Großbölting: Ich möchte auch auf der Ebene der Kirchenfunktionäre nochmal verschiedene Ebenen unterscheiden. Da gibt es auf der einen Seite die Zusammenhänge, die ja auch die juristischen Gutachten immer wieder untersucht haben, nämlich dass verwaltungsintern Prozesse nicht optimal gesteuert sind, sondern beispielsweise in der Machtfülle des Bischofs so viel zusammenläuft, dass da einiges schiefgeht. Ein "Checks and Balances" ist an keiner Stelle gegeben, wodurch eben Missbrauch begünstigt und das Vertuschen befördert wird.

Die zweite Ebene wäre – das betrifft jetzt nicht nur, aber vor allem die Kirchenfunktionäre – die Selbstsicht und Selbstbeschreibung von Kirche. In vielen anderen Gutachten ist das als "Klerikalismus" benannt worden, aber ich glaube, dass man da noch weitergehen kann: Kirche, die sich selbst als heilige Institution definiert, also als eine Organisation, die sich in unmittelbare Nachfolge zum Religionsgründer Jesus Christus stellt, hat nochmal eine ganz andere 'Energie' zu vertuschen, als es beispielsweise in anderen Institutionen der Fall ist. Wahrscheinlich hat jeder und jede, der oder die eine Institution leitet, zunächst nahezu reflexhaft das Interesse, einen schlechten Ruf fernzuhalten, Verbrechen nicht in die Nähe der eigenen Institution zu bringen. Das gilt für den Supermarktleiter genauso wie für eine Schuldirektorin. Aber wenn die Institution für heilig erklärt wird und insbesondere die Funktionäre durch die Priesterweihe noch mal in besonderer Weise in diese Heiligkeit einbezogen sind, ist die Motivation zum Vertuschen um ein Vielfaches höher. Wenn Sie sich die Kirche als eine Machtpyramide vorstellen, die oben bei Jesus Christus beginnt und sich fortsetzt über den Papst und die Bischöfe bis zum einzelnen Diözesan-Priester, also bis zum einzelnen Gemeindepfarrer, dann müssen Sie als Kirchenfunktionär darauf achten, dass kein Element aus dieser Machtpyramide herausbricht. Das heißt, Sie müssen auch den ganz kleinen Gemeindepfarrer unten schützen und dessen Priesterweihe aufrechterhalten. Und unsere Beobachtung ist, dass dadurch der Vertuschungsmechanismus noch viel größer und effizienter wird. Es gibt eine höhere Motivation, das zu tun, als in anderen, in weltlichen Institutionen, die diesen religiösen Anspruch eben nicht haben.

Wie haben denn diese Mechanismen ganz konkret funktioniert? Also was passierte, wenn intern bekannt wurde, dass ein Geistlicher Missbrauch begangen hat?

Thomas Großbölting ist Direktor der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg (FZH) und Professor für Neuere Geschichte/Zeitgeschichte im Arbeitsbereich "Deutsche Geschichte" der Universität Hamburg. Von 2009 bis 2020 war er Professor für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Einer seiner Forschungs-schwerpunkte ist die Geschichte von Religion und Kirche in der Moderne. Großbölting war Leiter der Studie zum Missbrauch im Bistum Münster, die im Juni 2022 veröffentlicht wurde.

Um das zu beantworten, haben wir für die Studie Einblicke genommen in die Personalkonferenz. Die Personalkonferenz ist ein Gremium, das sozusagen in den Satzungen der Kirche nicht vorkommt, aber doch der entscheidende Think Tank, das entscheidende Küchenkabinett ist, in dem über den Personaleinsatz von Priestern beraten wird. In dieser Personalkonferenz – die in einigen Bistümern auch einen anderen Namen hat – da ist der Bischof vertreten, da sind die Weihbischöfe mit ihren jeweiligen regionalen Zuständigkeiten vertreten, da ist der Generalvikar vertreten und eventuell noch derjenige, der als Personaldezernent oder auch -referent tatsächlich für den Einsatz von Priestern zuständig ist. Und es zeigte sich, dass sich auch schon vor 2010 Routinen im Umgang mit sexuellem Missbrauch entwickelt hatten. Sexueller Missbrauch ist auch vor 2010 kein Einzelfall, sondern durchaus ein Phänomen, was immer wieder vorkommt, so dass man in der Personalkonferenz und in der Bistumsverwaltung Routinen entwickeln musste, um damit umzugehen. Diese Routinen sind dadurch geprägt, dass es ein uneigentliches Sprechen über diese Zusammenhänge gibt: "Diese Sache", "Da war mal was mit Jungs", "Hast du dich um XY gekümmert?" und so weiter und so fort. Das sind Redewendungen, die wir von Zeitzeugeninterviews mit Mitgliedern dieser Personalkonferenz erzählt bekommen haben und die zeigen, dass es ein hohes Wissen, aber ein indirektes Sprechen über diesen sexuellen Missbrauch gegeben hat. Und wie das indirekte Sprechen schon andeutet, gibt es auch kein direktes Verfahren, damit umzugehen, sondern man versucht das in gewisser Weise unter der Hand zu einer gütlichen Regelung zu bringen. Das entspricht lange Zeit auch den kirchenrechtlichen Verfahren, aber ab den 80er Jahren werden diese kirchenrechtlichen Verfahren angepasst, strenger formuliert, und dann geht es in manchen Fällen auch gegen die kirchenrechtlichen Bestimmungen, die man sich eigentlich selbst gegeben hat.

"Was wir generell beobachten konnten, ist, dass es in dieser Personalkonferenz ein hohes Maß an bischöflicher Fürsorge gibt. Aber diese bischöfliche Fürsorge richtet sich eben zu 99 Prozent an die priesterlichen Mitbrüder und Missbrauchstäter und nicht an diejenigen, die betroffen sind von diesem Missbrauch."

Und was waren typische Wege, mit diesen Fällen umzugehen?

Was wir generell beobachten konnten, ist, dass es in dieser Personalkonferenz ein hohes Maß an bischöflicher Fürsorge gibt. Aber diese bischöfliche Fürsorge richtet sich eben zu 99 Prozent an die priesterlichen Mitbrüder und Missbrauchstäter und nicht an diejenigen, die betroffen sind von diesem Missbrauch. Das vorrangige Ziel dieser Personalkonferenz ist es, die priesterliche Existenz des Mitbruders – in Anführungszeichen – zu erhalten, dessen Priesterweihe nicht zu gefährden, den Zölibatsbruch zu heilen und auf diese Art und Weise dann eben diese Machtpyramide, von der wir eben sprachen, nicht zu gefährden. Man versetzt den Täter im eigenen Bistum in neue Zusammenhänge, also in eine neue Gemeinde oder in eine neue Tätigkeit. Man nimmt den Missbrauchstäter vielleicht für ein, zwei oder drei Jahre zurück, indem man ihn ins Archiv versetzt oder in eine kirchliche Verwaltungsstelle. Aber man versetzt ihn dann – insbesondere, wenn er selbst darum bittet – auch wieder in die Pastoral.

Dieses Tun wird dann seit den 70er Jahren noch mal sehr fatal begleitet von denjenigen, die als Therapeuten hinzugezogen werden. Man bedient sich eines kleinen Kreises von Therapeuten, meistens ausgesuchter Psychologen, Psychiater oder auch anderer Mediziner, die in diesem Bereich arbeiten und die in der Regel "gut katholisch" sind, die eventuell auch in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung des Bistums selber arbeiten und schon deswegen eng angebunden sind an die Strukturen, über die man jetzt entscheiden muss. Und was diese Therapeuten in der Regel raten, ist: Der Missbrauchstäter muss eine Therapie machen – das sind dann meist so 10 bis 15 Sprechstunden – und danach soll er dann aber wieder in stabile, für ihn gewohnte Verhältnisse kommen. Das bedeutet also wieder Einsatz in der Pfarrseelsorge und – um tatsächlich "Normalität" herzustellen – bedeutet es auch, dass die Zuständigen in der neuen Gemeinde nicht über die Vorgeschichte informiert werden. Also weder der Mitbruder der Nachbarpfarrei noch der Pfarrgemeinderatsvorsitzende wird darüber informiert, dass da jetzt ein Missbrauchstäter kommt. Und das ist natürlich eine fatale Kombination. Vor allem bei dem kleinen Kreis von Missbrauchstätern, der pädosexuell fixiert ist. Bei diesen Tätern ist diese Kombination, sie wieder in ein vermeintlich normales Umfeld zu versetzen und dieses Umfeld gleichzeitig nicht über die Neigung dieser Männer zu informieren, katastrophal. Es bedeutet nichts anderes, als dass ihm jetzt wieder Jungen und Mädchen zugeführt werden, die dann von dem Missbrauchstäter angegangen werden können.

Wenn nur ein kleiner Kreis der Missbrauchstäter pädosexuelle Neigungen hat, wie Sie sagen, welche Neigungen haben denn dann all die anderen Missbrauchstäter?

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Die Studie zum Missbrauch im Bistum Münster.

Der größte Teil der Missbrauchstäter, die wir beobachten – das ist nicht unsere eigene Forschung, sondern das haben wir übernommen aus der Forensik und der Psychiatrie – fällt unter den sogenannten regressiven Typ, den wir idealtypisch auf unsere Untersuchung übertragen können. Regressive klerikale Missbrauchstäter sind Priester, die längere Zeit nach ihrer Weihe missbrauchen. Oft ist es so, dass nachdem der Anfangsidealismus verflogen ist, nachdem die Konflikte in den Gemeinden größer geworden sind und man dann vielleicht doch alleine im Pfarrhaus sitzt, der Wunsch nach Nähe und vielleicht auch körperlicher Liebe, also Sexualität, wächst. Und weil man diese als zölibatär lebender Priester mit erwachsenen Frauen und Männern nicht haben kann, greift der Priestertäter dann auf Kinder zurück, weil er gegenüber dem Messdiener oder gegenüber denjenigen, die im Jugendlager mit dabei sind, eben die entsprechenden Machtressourcen hat. Während er sich verbieten muss, Sex mit einer Frau oder Sex mit einem Mann zu haben, scheint dieser Zugriff auf die Kinder vermeintlich einfach zu sein. Und darauf weicht er dann aus. Da sehen Sie noch mal, wie tragisch das Ganze eigentlich ist. Strafrechtlich gesehen ist es überhaupt kein Problem, wenn ein Priester einvernehmlichen Sex mit einem Mann oder mit einer Frau hat, der Zölibatsbruch ist allenfalls kirchenintern ein Punkt. Aber strafrechtlich ist es natürlich eine schwere Straftat, wenn er Sex mit einem unter 14-jährigen Kind oder einem Schutzbefohlenen hat. Gerade in dieser Gruppe von Missbrauchstätern, den regressiven Tätern, tragen die Ermöglichungsbedigungen enorm dazu bei, dass es zum Missbrauch kommt. Bei pädosexuell fixierten Tätern geht die Psychiatrie davon aus, dass diese Neigung nicht 'heilbar' ist. Man muss die Menschen, die diese Neigung haben, so begleiten, dass sie diese eben nicht ausleben. Da wird man auch in kirchlichen Zusammenhängen letztlich wenig machen können. Aber bei denjenigen, die als regressive Typen zu Missbrauchstätern werden, könnte eine Änderung in den kirchlichen Rahmenbedingungen durchaus dazu beitragen, deren Missbrauchstaten zu verhindern.

Mit anderen Worten: Aufhebung des Zölibats?

Aufhebung des Pflichtzölibats, genau. Also man könnte die Ehelosigkeit natürlich aufrechterhalten als Lebensform für Geistliche, die das wollen, oder für Menschen, die in Ordensgemeinschaften leben, als eine besondere Form der Spiritualität. Aber das Pflichtzölibat an die Existenz als Priester zu binden, das könnte man ziemlich einfach abschaffen und damit eben auch genau diese regressiven Taten verhindern, von denen wir gerade gesprochen haben.  

"Vertuschung beginnt also nicht erst im Generalvikariat oder auf dem Bischofssitz, sondern weit darunter und hat eben seine Wurzel auch im Klerikalismus der Laien."

Lassen Sie uns die nächste Ebene betrachten, die Sie untersucht haben. Das Besondere an Ihrer Studie ist ja, dass Sie sich eben nicht nur die innerkirchlichen Strukturen angeschaut haben, sondern auch einen Blick auf die Gegebenheiten in den Gemeinden und unter den sogenannten "Laien" geworfen haben. Was haben Sie da für Strukturen und Mechanismen gefunden, die den Missbrauch ermöglicht haben?

Missbrauch wird immer dann unmöglich gemacht, wenn es Menschen im Umfeld gibt, die auf die Kinder aufpassen und sich darum bemühen, dass den Kindern nichts Schlimmes widerfährt. Im Katholischen haben wir gesehen, dass es ein erstaunlich hohes implizites Wissen um diesen sexuellen Missbrauch gegeben hat. Also oft sind Taten, die dann 2010 und später gemeldet wurden, auch vorher schon in den Gemeinden durchaus breiter bekannt gewesen. Und man spricht auch darüber, "dass man doch gewusst habe, dass …". Und was wir hier beobachten können, ist, dass es eben die benötigte Zivilcourage, gegen Missbrauch vorzugehen, nicht gegeben hat, sondern ganz im Gegenteil, dass man aus einer Haltung des "Klerikalismus von unten" nichts tut: Man will den Priester in seinem Ansehen nicht beschädigen, man will den heiligen Mann nicht angehen, der da als Kopf der Gemeinde fungiert, man hat ein ganz besonderes Kirchenbild. Und das sind genau diese Faktoren, die dann verhindern, dass sich Laien, also Männer und Frauen im Umfeld, in der jeweiligen Situation aktiv gegen den Missbrauch stellen. Vertuschung beginnt also nicht erst im Generalvikariat oder auf dem Bischofssitz, sondern weit darunter und hat eben seine Wurzel auch im Klerikalismus der Laien.

Den Sie wie charakterisieren würden …?

Klerikalismus ist – wenn man es positiv formuliert – eine besondere Hochschätzung des geweihten Mannes, also des Priesters, die aber dann eben auch umschlägt in eine besondere Distanz, die wechselseitig von Laien und Priestern empfunden wird und mit der letztlich dann auch innerkirchlich eine Zweiklassengesellschaft und ein besonderes Machtsystem etabliert wird – nämlich die Geweihten, die Kleriker auf der einen Seite und die Nicht-Geweihten auf der anderen Seite.

Spielte in den Gemeinden, also auf Ebene der "Laien", Ihrer Meinung nach auch die im Katholischen – wenigstens im letzten Jahrhundert noch stark ausgeprägte – verklemmte Sexualmoral eine Rolle bei der Vertuschung und damit auch Ermöglichung von Missbrauchstaten?

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Das ist, glaube ich, ein zweiter, vielleicht sogar wichtigerer Grund als der Klerikalismus, von dem wir jetzt gesprochen haben. Im Katholischen haben wir das Problem, dass das, was auf der normativen Ebene von den gläubigen Männern und Frauen, aber auch von den Klerikern eingefordert wird, in 90 bis 99 Prozent der Fälle wenig mit der jeweils eigenen Lebensrealität zu tun hat. Und so hat jeder und jede, wenn man das aus der Perspektive der Moraltheologie oder des Katechismus betrachtet, sozusagen eine Leiche im Keller, was die Praxis von Sexualität und das Ausleben der eigenen Sexualität angeht. Und eine Atmosphäre, in der sowieso nur sehr eingeschränkt gesprochen wird über Sexualität und in der gleichzeitig das Verheimlichen eigener Neigungen und eigener Sexualpraktiken gang und gäbe ist, das ist natürlich eine Kultur des Verheimlichens, die jedem Missbrauchstäter absolut zupass kommt. Sie haben da einmal den Effekt, dass sozusagen die Unterschiede verwischen, ob jetzt ein Priester Sex mit seiner Haushälterin hat oder mit seinem Mitbruder, das wird in gewisser Weise genauso behandelt wie der Missbrauch von Kindern, obwohl es strafrechtlich natürlich ein Riesenunterschied ist. Aber diese Differenzierungen, die verwischen im Grau dieser allgemeinen Bigotterie und Doppelmoral.

Sexueller Missbrauch von Minderjährigen findet ja nicht nur in der katholischen Kirche statt. Auch in der evangelischen Kirche gibt es Fälle, in Sportvereinen oder oft eben auch in Familien. Aber wenn ich Sie richtig verstehe, würden Sie schon sagen, dass es tatsächlich spezielle katholische Faktoren gibt, die den Missbrauch in der katholischen Kirche begünstigt haben … 

Wir müssen tatsächlich erstmal sagen, dass wir gar nicht so genau wissen, ob die katholische Kirche quantitativ wirklich ein Hotspot von sexuellem Missbrauch ist. Jörg Fegert, klinischer Psychologe aus Ulm, würde immer sagen, in der Familie ist der größte Anteil von sexuellem Missbrauch an Kindern zu finden. Wir werden tatsächlich all diese Zusammenhänge, sei es der organisierte Sport, seien es andere Religionsgemeinschaften oder eben auch Familien, auf spezifische Machtkonstellationen untersuchen müssen, um die Ermöglichungsbedingungen von Missbrauch zu identifizieren. Was nun speziell das Katholische betrifft, wissen wir nicht, ob dieser Zusammenhang tatsächlich quantitativ heraussticht, wir sehen aber sehr genau, dass der Katholizismus ein qualitatives Problem hat. Und das ist erstens das besondere Kirchenbild von der Heiligkeit der Institution, über die wir gesprochen haben, das ist zweitens die besondere, damit verbundene Machtfülle vom Bischof bis hin zum Gemeindepfarrer, der eben auch als Stellvertreter Christi in seiner Gemeinde auftritt. Und das ist dann drittens, ganz wichtig, diese besonders verdruckste, verklemmte und bigotte Sexualmoral, die dahinter steckt.

"Gegenüber den Kirchen, so mein Eindruck, halten sich der Staat und die Justiz stark zurück."

Ein Aspekt des Ganzen, der für mich immer wieder sehr interessant ist, ist die Sonderbehandlung, die die katholische Kirche durch die Staatsanwaltschaften zu erfahren scheint. Bei jedem Verein, bei dem Missbrauch – noch dazu in diesem Umfang – bekannt würde, stünde sofort die Polizei vor der Tür und würde sämtliche Akten zur Beweissicherung mitnehmen. Bei den Bistümern passiert das nicht. Das ärgert viele Menschen und viele sagen: da wird nicht genug getan. Sehen Sie das auch so?

Wenn die Staatsanwaltschaft bei der Deutschen Bank vorrauscht und in einer spektakulären Aktion – meistens dann von Fernsehkameras begleitet – Akten mitnimmt aus dem Bank-Turm in Frankfurt, dann ist das juristisch nur dann zu begründen, wenn es Gefahr im Verzug gibt und eine Verschleierung droht. Jenseits dieser rechtlichen Überlegungen geht es dabei vor allem aber um symbolische Kommunikation, die Demonstration nämlich, dass der Rechtsstaat durchgreift. Diese hohe symbolische Wirkung nach außen hin haben Justiz und Strafverfolgungsbehörden nie gesucht, im Gegenteil: Gegenüber den Kirchen, so mein Eindruck, halten sich der Staat und die Justiz stark zurück. Es bereitet ja tatsächlich jetzt zum ersten Mal ein Anwalt vor, Joseph Ratzinger persönlich haftbar zu machen für seine Entscheidungen damals als Erzbischof von München.

Was wir in der Studie beobachtet haben, ist, dass es bei vielen Fällen auch zu den Tatzeitpunkten mindestens Rücksichtnahmen von Seiten der Justiz gegeben hat. Es gab den engen Draht in die Bistumsverwaltung und zum Bischof, wo die Staatsanwaltschaft darüber informierte, was man erfahren hatte. Also nicht umgekehrt! Nicht der Bischof informierte die Staatsanwaltschaft, sondern die Staatsanwaltschaft informierte den Bischof. Zum Teil auch mit dem Ziel, dass man Maßnahmen ergreifen kann, die unterhalb der Schwelle der Öffentlichkeit bleiben, damit ein Skandal vermieden wird. Ich bin zu wenig Jurist, um das rechtlich einordnen zu können, aber für mich als Laien stellt sich das so dar, dass die Strafverfolgungsbehörden in einigen Fällen ihrer Aufgabe nicht nachkamen.

Fälle jüngeren oder älteren Datums?

Die Sachen, die wir konkret beobachtet haben, waren eher älteren Datums, also Fälle in den 70er, 80er Jahren. Es gibt einen Fall im Oldenburger Münsterland, wo der dortige Leiter des Bistumsteils informiert wird mit den Worten "Entweder ihr bringt ihn weg oder wir holen ihn". Es wurde also von Seiten der Staatsanwaltschaft deutlich gemacht: Es gibt massive Missbrauchsvorwürfe gegen einen Geistlichen und entweder ihr als Bistum schafft es, den jetzt aus dem Verkehr zu ziehen, oder die Strafverfolgungsbehörden tun das mit einer ganz anderen Öffentlichkeitswirkung. Und das sind so Fälle, wo ich mir schon denke, dass da die staatlichen Behörden nicht in dem Rahmen agieren, der ihnen eigentlich vorgegeben ist. Ganz vorsichtig gesagt.

Der Missbrauch in der katholischen Kirche hat ja nun wahrscheinlich über Jahrhunderte, anhand der einsehbaren Unterlagen aber auf jeden Fall über Jahrzehnte hinweg stattgefunden. Und es wurde immer alles erfolgreich vertuscht. Mit der Jahrtausendwende funktionierte das dann aber nicht mehr so richtig und 2010 wurde der Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland ja dann massiv öffentlich. Warum kam das Ganze Ihrer Meinung nach genau zu diesem historischen Zeitpunkt ans Licht der Öffentlichkeit?

Ganz allgemein gesprochen: Es müssen sich die Deutungsmacht und die Diskurshoheit verändern, damit ein Verbrechen tatsächlich zum Skandal gemacht und auch politisch bearbeitet werden kann. Es gibt zum Beispiel eine wunderbare Studie zu den Regensburger Domspatzen, wo in der regionalen Bild-Zeitung schon in den 70er und 80er Jahren darüber berichtet wird, dass es dort starke Formen von körperlicher Gewalt in der Erziehung gibt. Und da wird auch schon mindestens angedeutet, dass es dort auch sexuelle Missbrauchsfälle gibt. Zu der Zeit ist aber das Renommee dieses Chores und der katholischen Kirche noch so hoch, dass man im stillen Einvernehmen von Chefredaktion, Medien, Kirche, Strafverfolgungsbehörden und auch den Politikern und Politikerinnen diese Vorwürfe nicht weiter verfolgt, obwohl eine große Öffentlichkeit davon wusste.

2010 ändert sich diese Konstellation. Wir sehen seit 1945, dass es eine kontinuierliche Entkirchlichung gibt. Seit 1945 verlässt jährlich ein gewisser Prozentsatz der Katholikinnen und Katholiken die Kirche und es gibt auch einen Bedeutungsverlust im Politischen. Ich glaube, dass man deutlich beobachten kann, wie sich spätestens seit den 2000er Jahren, spätestens aber nach 2010, beispielsweise die Christdemokratinnen und Christdemokraten stärker von der katholischen Kirche distanzieren. Nicht distanzieren, indem man sich öffentlich dagegen stellt, sondern indem man diesen engen Schulterschluss, den man über viele Jahre und Jahrzehnte für sich genutzt hatte, nicht mehr praktiziert. Auf dem Stuttgarter Katholikentag war aus der ersten Reihe der CDU eben niemand mehr da. Man will sich nicht mehr fotografieren lassen mit den Bischöfen. Die Nähe zur katholischen Kirche, die in den 1980er und 90er Jahren noch gute Presse und entsprechende Wählerstimmen versprach, ist heute nicht mehr opportun. Und diese beiden Punkte, die Entkirchlichung als Schwund von Mitgliedern und die stärkere Distanznahme der Politik, zusammen mit einer ab den 70er Jahren zu beobachtenden gesamtgesellschaftlichen Liberalisierung sind dafür verantwortlich, dass die Macht der katholischen Kirche schwächer wird. Und dieser Machtverlust ist die Voraussetzung dafür, dass dann der beobachtete Missbrauch tatsächlich öffentlich skandalisiert und politisch bearbeitet wird.

Dazu kommt dann das besondere Ereignis: Pater Mertes, Canisius-Kolleg, 2010, und die erwachsenen Männer, die den viele Jahrzehnte früher erlebten Missbrauch in diesem Moment zum Thema machen. Alles, was wir heute erleben, wäre wahrscheinlich 50 Jahre früher so nicht möglich gewesen, weil zu dieser Zeit das soziale Prestige, das moralische Kapital, die entsprechenden Einflussmöglichkeiten der katholischen Kirche noch viel größer gewesen wären und allein dadurch eine solche Skandalisierung nicht stattgefunden hätte.

"Ich habe nicht den Eindruck, dass es einen starken intrinsischen Aufklärungs- oder Aufarbeitungswillen innerhalb der katholischen Kirche gibt."

Wobei sich die Politikerinnen und Politiker aller Parteien ja auch heute noch mit Kommentaren zum massiven Missbrauch in der katholischen Kirche sehr zurückhalten.

Das stimmt. Der Einzige, den ich bislang offensiv dazu gehört habe, ist der Generalsekretär der SPD, Kevin Kühnert, der auf dem Katholikentag in Stuttgart sagte, dass aus seiner Perspektive der Staat eigentlich in der Pflicht stehe, viel stärker in diesen Aufarbeitungsprozess einzugreifen und sich diesbezüglich zu engagieren. Ansonsten gebe ich Ihnen völlig recht bei der Beobachtung: Die Politik ist da hoch zurückhaltend. Vielleicht erinnern Sie sich an diese interessante Episode mit Frau Leutheusser-Schnarrenberger, die FDP-Justizministerin war, als man 2010 die Fälle im Canisius-Kolleg aufgedeckt hat? Die Bischofskonferenz verabschiedet damals erste Richtlinien und die Justizministerin kritisiert das scharf und zweifelt den Aufarbeitungswillen der Bischofskonferenz an. Und Robert Zollitsch, der damalige Sprecher der Bischofskonferenz, stellt der Bundesjustizministerin daraufhin ein Ultimatum, sie möge das innerhalb von 24 oder 48 Stunden zurücknehmen. Also der Sprecher der Bischofskonferenz versucht der Bundesjustizministerin aufzuzwingen, was sie tun oder lassen soll – das ist schon eine besondere Granate, was die Beziehung zwischen Staat und Kirche betrifft. Und wer sich dann einschaltet, ist die Bundeskanzlerin, die das Ganze per Telefon moderiert, letztlich die Justizministerin deckelt und dafür sorgt, dass Zollitsch mit diesem innerkirchlichen Aufarbeitungsprozesses weitermachen kann. Das ist für mich eine Schlüsselszene, in der 2010 ein Weg eingeschlagen wird, bei dem es kein großes staatliches Engagement in der Aufarbeitung gibt, sondern die Kirche als Institution alleine diesen Prozess weiter betreibt. Ich finde diese Konstellation nach wie vor schwierig. Und ich habe den Eindruck, dass sogar viele der Kirchenfunktionäre selbst mittlerweile zu der Überzeugung gelangt sind, dass man sich ganz schlecht am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen kann, und dass es eigentlich gut wäre, wenn der Staat oder eine unabhängige Instanz bei der Aufarbeitung eine stärkere Rolle übernimmt.

In anderen Zusammenhängen haben Sie erwähnt, dass Sie sich in Deutschland tatsächlich auch eine staatliche Missbrauchskommission nach dem Vorbild anderer Länder wünschen würden …

Ich muss einschränkend sagen, dass ich da zu wenig Jurist bin und zu wenig aktiver Politiker, als dass ich wirklich konkrete Formen einer solchen Kommission vor Augen habe. Und ich habe mir im Gespräch mit juristischen Kolleginnen und Kollegen sehr eindrücklich schildern lassen, wie schwierig es ist, im deutschen Rechtssystem beispielsweise nach dem Modell einer Wahrheitskommission zu arbeiten. Aber als Historiker habe ich andere Beispiele vor Augen. Ich habe ein paar Jahre lang in der Stasi-Unterlagenbehörde die Abteilung für Bildung und Forschung geleitet. Und auch in dieser besonderen Situation der Wiedervereinigung hat man im Umgang mit dem SED-Unrecht bis dato unbekannte Formen gefunden, wie man mit diesem historischen Unrecht umgehen kann. Und diese Kreativität und diesen Willen zum Engagement, den würde ich von staatlicher Seite und auch von der Justiz eben auch im Fall von sexuellem Missbrauch in der katholischen Kirche einfordern.

Ein bisschen hat sich ja in puncto Aufarbeitung in den letzten Jahren getan, aber tatsächlich hat man den Eindruck, der unbedingte und radikale Wille zur Aufklärung kommt eben nicht aus den kirchlichen Reihen. Wie ist Ihr Eindruck nach Ihrer Arbeit an der Studie?

Wenn man in diesem Zusammenhang eine positive Geschichte erzählen will, dann ist es die Geschichte der Betroffenen, die als Mädchen oder Jungen aufgrund der Autorität des Priesters geschwiegen haben, die sich aber im Laufe der Jahre empowert haben und die mittlerweile zu Aktivistinnen – im positiven Sinne – und Anwälten ihrer eigenen Sache geworden sind. Und diese Betroffenen sind es, die seit 2010 die katholische Kirche immer wieder dazu gebracht haben, weitere Schritte bei der Aufarbeitung zu machen. Das bestätigt aber umgekehrt auch Ihre Beobachtung. Ich habe nicht den Eindruck, dass es einen starken intrinsischen Aufklärungs- oder Aufarbeitungswillen innerhalb der katholischen Kirche gibt. Wir reden jetzt über einen Prozess, der sich seit 2010 über einen Zeitraum von zwölf Jahren erstreckt und der geprägt ist von Pleiten, Pech und Pannen und von ganz vielen – auch innerkirchlichen – Auseinandersetzungen. Sie haben in der Bischofskonferenz eine große Bandbreite von kirchenpolitischen Positionen. Den Konservativen, denen geht alles schon viel zu weit, was da jetzt gemacht wird, während die Progressiven, wenn man das jetzt so vereinfacht sagen will, darauf drängen, dass da viel energischer vorgegangen wird. Und ich habe nicht den Eindruck, dass man in den vergangenen zwölf Jahren, seitdem wir das öffentlich diskutieren, wirklich einen guten Zugang zu diesem Thema gefunden hat.

"Zynisch gesprochen ist es aus Sicht der Bistumshierarchen bislang gar nicht so schlecht gelaufen: Keiner musste seinen Platz räumen. Es laufen zwar die Gläubigen in Scharen weg, aber auf die ist man nicht unbedingt angewiesen, wenn man im Vatikan oder in der Erzbischöflichen Residenz in Köln lebt."

Was würden Sie empfehlen, damit die Aufarbeitung insgesamt effektiver vorangeht?

Als Historiker bin ich eigentlich für die Vergangenheit zuständig. Aber ich kann ein paar sensible Punkte benennen, die aus dem Blick auf die Vergangenheit hervorstechen und die meines Erachtens in Zukunft wichtig werden: Generell wird es darum gehen müssen, dass Kirche sich entmächtigt. Und das bedeutet in diesem Aufarbeitungsprozess, dass man nicht mehr davon ausgehen darf und soll, selber die Fäden dieses Prozesses in der Hand zu halten und ihn entsprechend zu steuern. Ich sage Ihnen mal ein aktuelles Beispiel: Ich bin designiertes Mitglied in einer noch zu gründenden Aufarbeitungskommission im Bistum Münster. Und als solches bin ich für den September zu einem Treffen aller Aufarbeitungskommissionen in Deutschland eingeladen. Zu diesem Treffen lädt das Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz ein. Und das Ganze findet dann bezeichnenderweise in Köln statt. Frau Claus, also die Unabhängige Beauftragte für Fragen des Sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM) der Bundesregierung, die staatlicherseits für diese Fragen zuständig ist, tritt als Mitveranstalterin auf. Allein in dieser Konstellation sehen Sie, wie stark der gesamte Prozess noch von den kirchlichen Strukturen geprägt ist. Nach meinem Geschmack wäre es eben die staatliche Beauftragte Frau Claus, die zu einem solchen Treffen einladen müsste. Also das wäre, wie gesagt, der erste Punkt: Es geht um Entmächtigung und dass man jetzt in diesem Aufarbeitungsprozess eine andere Position einnimmt. Der zweite Punkt wäre meines Erachtens, dass man Sicherheitskonzepte gegen weiteren Missbrauch entwickelt – wo man schon gut ist und was auch schon Früchte trägt. Dass man zum Beispiel Schritte in der Priesterausbildung unternimmt, damit diejenigen, die zölibatär leben wollen oder sollen, eine eigene sexuelle Identität ausbilden können. Auch kirchenrechtlich hat man tatsächlich Fortschritte gemacht auf dieser, ich sag mal, "Polizei- und Überwachungsebene", die ganz wichtig ist.

Woran es aber meiner Meinung nach fehlt, das ist der dritte Punkt, nämlich eine ganz grundsätzliche Diskussion darüber, ob sich Religion wirklich vor allem in machtförmigen Kommunikationen realisieren muss. Also muss es wirklich so sein, dass es einen Gemeindeleiter gibt, der gleichzeitig über seine Priesterweihe als heiliger Mann markiert ist? Oder würde es nicht auch reichen, wenn wir sozusagen einen Organisator oder eine Organisatorin hätten, die irgendwie die Gemeinde zusammenhält und ansonsten die spirituellen Kompetenzen aller gläubigen Frauen und Männer gefragt sind? Es gibt einfach eine Menge Punkte, die als Ermöglichungsbedingungen von Missbrauch und Begünstigung von Vertuschung jetzt nochmal neu diskutiert werden müssten: Machtfülle, Ämterhierarchie, der Zölibat, die Sexualmoral – all die kirchenpolitischen Themen, die wir eigentlich in der katholischen Kirche seit den 70er Jahren diskutiert sehen, die aber angesichts des Missbrauchs nochmal eine ganz neue Dringlichkeit bekommen.

Was hat Sie persönlich eigentlich am meisten schockiert, während Sie an der Studie zum Missbrauch im Bistum Münster gearbeitet haben?

Da würde ich zwei Dinge nennen: Einmal dieses hohe, implizite Wissen auch in den Gemeinden. Das hat mich erstaunt und auch schockiert. Da hätte ich immer gedacht, dass es mehr zivilgesellschaftliches Engagement, Bürgerlichkeit, mehr Mut gegeben hätte, aus den Gemeindezusammenhängen gegen Missbrauch vorzugehen. Und der zweite Punkt: Der Hildesheimer Bischof Wilmer analysierte vor einiger Zeit, wie tief der Missbrauch in der DNA der katholischen Kirche stecke. Wer genau hinsieht, der erkennt rasch, wie recht er hat: Wenn man sich diese Ermöglichungsbedingungen für Missbrauch – wie Zölibat, Sexualmoral, Ämterhierarchie – anschaut, dann sind das sozusagen die Markenkerne der katholischen Kirche, die diese im letzten Jahrhundert in gewisser Weise als große Verirrung erarbeitet hat. Und wenn man aus diesen theologischen, pastoralen Zusammenhängen erklärt, wie dieser Missbrauch begünstigt wird, dann sieht man, wieviel tatsächlich im Katholischen angelegt ist, um diesen Missbrauch zu ermöglichen. Also nicht intentional, aber es sind Strukturen da, die den Weg dazu bahnen.

Ich nenne ein Beispiel, nämlich das Idealbild des Pfarrers von Ars. Das ist ein französischer Mann am Ende des 19. Jahrhunderts, der in einem kleinen französischen Ort aufwächst und erst gar nicht angenommen werden soll als Priester, weil er als nicht besonders helle gilt und auch ansonsten nicht mit besonderen Fähigkeiten gesegnet ist. Der versieht dann seinen Dienst und wird vor allem bekannt als Beichtvater. Seine Leistung: Er verzehrt sich im Hören der Beichte von anderen und stirbt dann gleichsam im Beichtstuhl. Dieser Pfarrer von Ars gilt bis heute als der Heilige der Priester. Das ist sozusagen das leuchtende Vorbild für Priester. Als man 2009/2010 im Vatikan das Jahr des Priesters feierte, hat man eine große Banderole mit dem Antlitz des Pfarrers von Ars aufgehängt und es trafen sich davor auf dem Petersplatz Zehntausende von Priestern und feierten sich und ihren Stand mit Blick auf den Pfarrer von Ars. Aus dieser Verehrung für den Pfarrer von Ars und seine Art des Beichte-Abnehmens entwickelte sich im Katholischen so etwas wie ein Idealbild des "Seelenführers". Das ist ein Begriff der 1920er Jahre, der den Beichtvater in die Rolle des Übermächtigers des Beichtenden versetzt und ihn dadurch hundertprozentig lenken kann. Wenn Sie Psychoanalytiker sind, dann wird Ihnen eine solche Übertragung möglichst schnell als Gefahrenquelle bewusst gemacht. Und Sie werden viele Methoden beigebracht bekommen, damit das nicht passiert. Aber in der katholischen Kirche wird diese Form der Übertragung noch als Ideal gefeiert. Das Ideal des Beichtvaters, der sich hundertprozentig in den Kopf des Beichtenden versetzt. Was für eine erschreckende Vorstellung! Und das ist ein Beispiel dafür, wie passgenau verschiedene Elemente des Katholischen sich in dieses Missbrauchsgeschehen fügen, auch wenn sie intentional eigentlich mal anders gedacht waren.

Wie wird es jetzt Ihrer Meinung nach weitergehen?

Wenn man ein optimistisches Szenario haben will, dann wird es darauf ankommen, dass man aus dieser Hängepartie mal rauskommt – von Seiten der katholischen Kirche, aber auch von Seiten der Gesellschaft und der Politik. Und das heißt: Nicht noch mal zwölf Jahre darauf warten, dass es noch eine weitere Studie gibt, noch mehr Enthüllungen und so weiter und so fort. Sondern man wird den Knoten zerschlagen müssen, um diesem langsamen Dahinsiechen des Aufarbeitungsprozesses irgendwie ein Ende zu bereiten.

Wenn man es negativ fortschreiben will, dann kann sich das in einem Weiter-so-Szenario entwickeln: Zynisch gesprochen ist es aus Sicht der Bistumshierarchen bislang gar nicht so schlecht gelaufen: Keiner musste seinen Platz räumen. Es laufen zwar die Gläubigen in Scharen weg, aber auf die ist man nicht unbedingt angewiesen, wenn man im Vatikan oder in der Erzbischöflichen Residenz in Köln lebt. Und wenn man dann noch sozusagen aus der Perspektive der Ewigkeit auf diese ganzen Dinge guckt, dann kann man das eben auch aussitzen.

Verlässt man die innerklerikale Perspektive, dann ist dieses "Weiter so"  eigentlich der allerschlechteste Fall, sowohl für die Kirche als Gesamtheit, die sich dann zu einer Sekte zurückentwickelt, die jegliche moralische Autorität verloren hat, aber auch für die Gesellschaft, die meines Erachtens bisher von den durchaus positiven Elementen der Kirche profitiert und auf diese dann verzichten muss. Das sind zwei denkbare Szenarien. Und leider spricht vieles dafür, dass die Hängepartie des "Weiter so" noch lange nicht beendet ist.

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