Die Niqab-Prozesse und wer dahinter steckt

Gerichtsverfahren um verhüllte Autofahrerinnen

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Drei Frauen im Niqab
Drei Frauen im Niqab

Klagen in Nordrhein-Westfalen, in Rheinland-Pfalz und in Berlin: Die Gerichtsverfahren häufen sich. Prozesse um die Frage, ob Musliminnen erlaubt werden soll, auch während des Autofahrens einen Niqab zu tragen – einen dunklen Stoff, der Kopf, Hals und Oberkörper undurchsichtig bedeckt. Nur ein wenige Zentimeter breiter horizontaler Sehschlitz für die Augen bleibt dabei frei. Wie die Prozesse entschieden werden und wer als Treiber dahinter steckt – ein Überblick.

Nach dem jüngsten Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin zum Niqab-Tragen im Auto wurde bekannt, wer offenbar hinter diesen von einzelnen Frauen erhobenen Klagen steckt. Ein Verein mit dem Namen Föderale Islamische Union (FIU).

In einer Pressemitteilung des Verbands in Reaktion auf das Ende Januar ergangene Berliner Urteil heißt es, dass "wir als Organisation sämtliche uns bekannten Verfahren zu diesem Thema betreuen". In einer anderen Erklärung vom 15. Januar heißt es, aktuell engagiere sich die FIU für etwa 20 muslimische Frauen in Deutschland, die vom Niqabverbot am Steuer betroffen sind und juristisch dagegen vorgehen.

Später mehr zur Föderalen Islamischen Union. Doch nun zunächst zur Sache selbst – dem Niqab-Streit. Wenn die FIU erreichen möchte, dass Musliminnen beim Autofahren einen Niqab tragen dürfen, so kann sie das nicht mit einer eigenen Klage durchsetzen. In Person klagen müssen schon im Einzelfall betroffene Frauen vor Gericht. Die dann wiederum von der FIU unterstützt werden.

Niqab am Steuer – die Argumentation vor Gericht

In Berlin war dies eine vor einigen Jahren zum Islam konvertierte, heute 33-jährige Frau. Die Berliner Verwaltung hatte ihren Antrag auf Erteilung einer Ausnahmegenehmigung abgelehnt. Es bleibe beim Grundsatz des Paragrafen 23 Absatz 4 Satz 1 der Straßenverkehrsordnung: "Wer ein Kraftfahrzeug führt, darf sein Gesicht nicht so verhüllen oder verdecken, dass er nicht mehr erkennbar ist."

Vor Gericht machte die Frau geltend, ihr muslimischer Glaube gebiete es, dass sie sich außerhalb ihrer Wohnung nur vollverschleiert zeigen dürfe. Auch im Auto sei sie den Blicken fremder Menschen ausgesetzt. Daher müsse ihr erlaubt werden, beim Führen eines Kraftfahrzeugs ihren gesamten Körper einschließlich des Gesichts unter Aussparung der Augenpartie zu verschleiern.

Der Rundfunk Berlin-Brandenburg zitierte sie so: "Ich habe kleine Kinder und möchte gern mit ihnen schnell von A nach B kommen, es ist komfortabel. Ich möchte mich wie jeder Autofahrer frei in der Gesellschaft bewegen. Ein Auto ist praktischer als mit den öffentlichen Verkehrsmitteln und meine Familie wohnt außerhalb."

Nun tat sich bereits im Prozess selbst diese Frage auf: Wie muss sich die Klägerin eigentlich vor Gericht kleiden? Denn Paragraf 176 des Gerichtsverfassungsgesetzes besagt: "An der Verhandlung beteiligte Personen dürfen ihr Gesicht während der Sitzung weder ganz noch teilweise verhüllen. Der Vorsitzende kann Ausnahmen gestatten…"

In dem Fall war es eine Vorsitzende Richterin, die die Ausnahme zuließ – nachdem sie sich in einem Nebenraum des Gerichtssaals von der Identität der Klägerin überzeugt hatte. In ihrem Urteil kannte die Richterin dann aber kein Pardon: Niqab zu tragen beim Autofahren komme nicht in Frage. In einer Pressemeldung des Verwaltungsgerichts Berlin, die die Entscheidung zusammenfasst, heißt es:

"Eine Ausnahmegenehmigung könne die Klägerin auch mit Blick auf ihre grundrechtlich geschützte Religionsfreiheit nicht beanspruchen. Diese müsse nach Abwägung aller widerstreitenden Interessen hinter anderen Verfassungsgütern zurücktreten. Das Verhüllungsverbot gewährleiste eine effektive Verfolgung von Rechtsverstößen im Straßenverkehr, indem es die Identifikation der Verkehrsteilnehmer ermögliche, etwa im Rahmen von automatisierten Verkehrskontrollen. Es diene zudem dem Schutz der körperlichen Unversehrtheit und des Eigentums Dritter, weil Kraftfahrzeugführer, die damit rechnen müssten, bei Regelverstößen herangezogen zu werden, sich eher verkehrsgerecht verhalten würden als nicht ermittelbare Autofahrer. Demgegenüber wiege der Eingriff in die Religionsfreiheit der Klägerin weniger schwer."

Verkehrssicherheit schlägt Religionsausübungsfreiheit – so lässt sich das Urteil zusammenfassen.

Den Einwand des Rechtsanwalts der Klägerin, die Identifizierung seiner Mandantin bei Blitzerkontrollen könnte doch auch dadurch sichergestellt werden, dass man den Niqab mit einem "einzigartigen, fälschungssicheren QR-Code" versehe, konterte das Gericht mit dem Argument: Dadurch ist nicht sichergestellt, dass die Person, die den Niqab trägt, auch tatsächlich die Person ist, für die der QR-Code kreiert wurde.

Die Klägerin will mit Unterstützung der FIU Rechtsmittel einlegen. In Nordrhein-Westfalen hat die gleiche rechtliche Problematik bereits eine höhere Gerichtsinstanz erreicht. In dem Fall einer Klägerin aus Neuss, die vor dem Oberverwaltungsgericht Münster eine Ausnahmegenehmigung für das Tragen des Niqab nicht durchsetzen konnte, der aber noch nicht endgültig entschieden war, teilte die zuständige Bezirksregierung Düsseldorf auf Anfrage des hpd nun mit: "Da die Klägerin Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision beim Oberverwaltungsgericht Münster eingelegt hat und das Gericht der Beschwerde nicht abgeholfen hat, wurden die Akten dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vorgelegt." Bislang habe das Bundesverwaltungsgericht nicht darüber entschieden.

In weiteren Gerichtsinstanzen dürften auch die Argumentation des Oberverwaltungsgerichts Koblenz und des Verwaltungsgerichts Düsseldorf eine Rolle spielen.

Argument Coronamaske

In Zeiten von Corona war es doch auch legal, eine Maske im Auto zu tragen, wenn andere Mitfahrer im Auto waren.

Die Koblenzer Richter dazu: "Ein einfacher Mund-Nasen-Schutz verdeckt lediglich die untere Gesichtshälfte mit Mund und Nase, während weitere biometrische Merkmale wie Haare, Stirn, Hals und Ohren sowie letztlich auch die ganze Gesichtsform häufig erkennbar bleiben. Dies ist beim Niqab nicht der Fall."

Argument Fahrtenbuch als milderes Mittel

Wäre es angesichts der von der Klägerin geltend gemachten Religionsfreiheit nicht ein milderer Eingriff, wenn man ihr das Führen eines Fahrtenbuchs auferlegt?

Die Koblenzer Richter dazu: "Eine solche fahrzeugbezogene Fahrtenbuchauflage wäre zur Identifikation eines verhüllten Fahrzeugführers schon deswegen nicht gleich geeignet wie ein Verhüllungs- und Verdeckungsverbot, weil es der Niqab-Trägerin aufgrund ihrer Fahrerlaubnis freisteht, jedes andere Fahrzeug der entsprechenden Fahrzeugklasse zu führen und es damit denkbar ist, dass Fahrten unter Einsatz eines Niqabs mit Fahrzeugen erfolgen, deren Halter die Niqab-Trägerin gerade nicht ist und für die keine Fahrtenbuchauflage bestünde."

Argument Religionsfreiheit

Die Klägerinnen argumentieren vor Gericht in dem Sinne, wie es eine Neusser Muslima vor dem Verwaltungsgericht Düsseldorf tat: Sie sei Muslima, und der Koran schreibe vor, dass die gläubigen Frauen ihre Blicke niederschlagen, ihre Scham hüten und ihre Reize nicht zur Schau tragen sollen (Sure 24, Vers 31 sowie Sure 33, Vers 53 und 59). Sie bedecke sich freiwillig und sehe es als sexuelle Nötigung an, wenn man sie dazu zwinge, ihren Niqab am Steuer abzulegen.

Dazu das Verwaltungsgericht Düsseldorf: "Die Kammer sieht die 'Eingriffstiefe' des Verhüllungs- und Verdeckungsverbots in die Religionsfreiheit als gering an. Denn das abgeschlossene Kraftfahrzeug erfüllt bereits weitgehend den Zweck, den die Antragstellerin mit dem Niqab verfolgt. Der Fahrgastraum eines Kraftfahrzeugs ist nämlich nicht mit der Öffentlichkeit im engeren Sinne gleichzusetzen. … Das Kraftfahrzeug erreicht wegen der durchsichtigen Scheiben zwar nicht den Grad an Abgeschlossenheit und Privatheit wie eine Wohnung. Das Kraftfahrzeug bietet im Alltag aber ungleich mehr Privatsphäre und bietet deutlich mehr Schutz als das Verweilen in der Öffentlichkeit außerhalb eines Kraftfahrzeugs oder als bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel. Die Ziele, die die Antragstellerin mit dem Niqab verfolgt, etwa Blicke oder gar Zugriffe fremder Männer oder sonst als nicht sittsam empfundene Annäherungen abzuwehren, werden bereits durch die Konstruktion des Kraftfahrzeugs als rollender Schutzraum weitgehend unterbunden (verschlossene Türen, Scheiben, dunkleres Wageninnere, Motorkraft, Möglichkeit zur schnellen Entfernung)."

Argument Gleichbehandlung

Und dann ist da noch dieses Argument, das die Anwälte der Musliminnen gern vortragen: Motorradfahrer seien unter ihrem Helm doch auch nicht identifizierbar. Da müsse man doch auch einen Niqab im Auto erlauben.

Doch dieser Vergleich hinkt. Motorradfahrer tragen einen Helm aus objektiven Sicherheitsgründen – er ist gesetzlich vorgeschrieben und dient dem Schutz vor schweren Kopfverletzungen. Ein Niqab ist eine freiwillige, religiös motivierte Gesichtsbedeckung, die keinen sicherheitsrelevanten Zweck erfüllt. Der Gesetzgeber hat bei Motorradfahrern eine nachvollziehbare Interessenabwägung getroffen: Der Schutz des Lebens durch den Helm überwiegt das Interesse an einer einfachen Identifikation.

Treiber der Prozesse im Hintergrund: ein salafistischer Verein

Um all dies wird weiter gestritten werden. Die Rechtsstreitigkeiten, so kündigen es die Klägerinnen und der hinter ihnen stehende Verein an, werden weiter die Gerichte beschäftigen. Die Föderale Islamische Union will die Sache "notfalls bis vor das Bundesverfassungsgericht bringen". Wer steckt hinter dem Verein, der für sich reklamiert, "sämtliche uns bekannten Verfahren zu diesem Thema zu betreuen"?

Die FIU selbst sieht es laut ihrer Internetseite als ihre "Mission" an, "die in Deutschland ansässigen Muslime zu vereinen, um mit einer gemeinsamen Stimme zu sprechen und wirksam ihre Interessen zu vertreten". Man strebe keinen politischen Wandel der staatlichen Ordnung in Deutschland an. "Vielmehr betrachten wir es als Pflicht eines jeden Muslims, die Gesetze dieses Landes zu achten und zu respektieren." Angestrebt wird, den Status einer Körperschaft öffentlichen Rechts zu erhalten. So wie etwa die katholische und die evangelische Kirche. Und damit auch die entsprechenden rechtlichen und finanziellen Privilegien.

Der Weg dorthin scheint indes weit. In früheren niedersächsischen Verfassungsschutzberichten und so auch im aktuellsten Report für das Jahr 2023 ist der in Hannover beheimateten Föderalen Islamischen Union ein längerer Abschnitt gewidmet.

Generell heißt es zum Salafismus in dem niedersächsischen Verfassungsschutzbericht:

"Der Salafismus ist eine besonders radikale islamistische Bewegung, die sowohl in Deutschland, als auch auf internationaler Ebene einen großen Zulauf insbesondere junger Menschen erlebt. Salafisten weltweit glorifizieren einen idealisierten Ur-Islam des 7./8. Jahrhunderts und orientieren sich, um diesem möglichst nahe zu kommen, an der Lebensweise der ersten Muslime in der islamischen Frühzeit. Sie versuchen ihre religiöse Praxis und Lebensführung ausschließlich an den von ihnen wörtlich verstandenen Prinzipien des Korans und dem Vorbild des Propheten Muhammad und der frühen Muslime, den rechtschaffenen Altvorderen (arab. as-salaf as-salih, daher der Begriff Salafismus), auszurichten. … Die Scharia, die von Salafisten als eine von Gott gegebene verbindliche Rechtsordnung verstanden wird, ist nach salafistischer Ideologie jeder weltlichen Gesetzgebung übergeordnet. So sei einzig Gott der legitime Gesetzgeber und nicht das Volk."

Speziell mit Blick auf die Föderale Islamische Union heißt es auf Seite 238 des Berichts:

"Der Verein 'Föderale Islamische Union e. V.' wurde Ende des Jahres 2017 von bekannten Akteuren des niedersächsischen salafistischen Spektrums gegründet. Laut eigenen Angaben des in Hannover registrierten Vereins zählt dieser etwa 4.800 Mitglieder.

Erklärtes Ziel der FIU ist es, die rechtliche Vertretung der Muslime und des muslimischen Lebens in Deutschland einzunehmen sowie die Anerkennung als Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen. … Im Vergleich zu anderen salafistischen Akteuren bedient sich die FIU einer legalistischen Vorgehensweise, bei der sie in ihrer Öffentlichkeitsarbeit gezielt auf emotional aufgeladene und gesellschaftlich relevante Themen zurückgreift. Die daraus formulierten Ziele werden, wenn nötig unter der Zuhilfenahme von Rechtsmitteln, durchgesetzt … .

… Trotz eindeutiger Bezüge zum Salafismus stellte die FIU im August 2020 einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz beim Verwaltungsgericht (VG) Hannover. Dem Antrag lag die Behauptung zugrunde, dass der Niedersächsische Verfassungsschutz die FIU unrechtmäßig im Verfassungsschutzbericht des Jahres 2019 aufgeführt habe.

Mit Beschluss vom 26.01.2021 hat das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht den Antrag der FIU auf einstweiligen Rechtsschutz gegen die Nennung der FIU im Niedersächsischen Verfassungsschutzbericht 2019 abgelehnt und damit einen Beschluss des VG Hannover aus erster Instanz vom 29.10.2020 bestätigt. Der Beschluss ist unanfechtbar und damit rechtskräftig …

In der Gesamtschau versucht die FIU mit rechtsstaatlichen Mitteln, u. a. salafistische Ansichten zu verteidigen, die in ihrem Grundgedanken eben diese Rechtsstaatlichkeit nicht anerkennen. Die Möglichkeiten eines Rechtsstaates werden so zu dessen eigenem Nachteil genutzt.

Die Vorgehensweise der FIU entspricht den Bestrebungen legalistischer Islamisten, die im Rahmen der demokratischen Mitbestimmungsmöglichkeiten eine langfristige Umgestaltung der Gesellschaft auf Grundlage der Scharia als alleingültige Ordnung anstreben."

Das Politikmagazin Cicero Online zitierte im Zusammenhang mit dem Berliner Niqab-Fall die Frankfurter Islamismusforscherin Susanne Schröter, die eine "klare Strategie" sieht: "Das salafistische Spektrum hat es verstanden, sich in der Öffentlichkeit gemäßigt zu geben. Sie inszenieren sich in Prozessen wie diesem als Kämpfer gegen die antimuslimische Diskriminierung und instrumentalisieren damit den Zeitgeist der Wokeness. Doch in der Realität geht es der Föderalen Islamischen Union darum, eine islamische Rechtsnorm in Deutschland zu installieren." Und Clemens Traub, Autor des Cicero-Artikels, schreibt: "Eines zeigt der Niqab-Prozess von Berlin allzu deutlich: Der politische Islam wird in einer Strategie der tausend Nadelstiche auch weiterhin alles daran setzen, unseren liberalen Rechtsstaat herauszufordern."„"

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