Der Papa wird's schon richten

Ohne Religion keine Moral – so eine weit verbreitete Auffassung. Atheisten und Humanisten beweisen schon lange, dass diese Auffassung falsch ist. Wahr ist das Gegenteil: Religion kann moralisches Wachstum sogar hemmen.

Wer nach Synonymen für "gottlos" sucht, stößt auf die Wörter ungläubig, atheistisch und freidenkerisch, aber nur unter ferner liefen, verschüttet unter einer Lawine "bedeutungsverwandter" Begriffe wie abscheulich, amoralisch, anrüchig, ausfällig, ausschweifend, beleidigend, berechnend, blasphemisch, böse, brutal, dreist, elend, fragwürdig, frech, frevelhaft, gehässig, gemein, gewissenlos, goschert, habsüchtig, heillos, impertinent, inakzeptabel, infam, insolent, kleinlich, kriminell, kümmerlich, lästerlich, lumpig, minderwertig, nichtswürdig, niederträchtig, rotznäsig, ruchlos, rücksichtslos, schäbig, schamlos, schändlich, schlecht, schmählich, schmutzig, skandalös, skrupellos, sündhaft, unethisch, ungehörig, unverschämt, verdorben, verlogen, verrucht, verwerflich und verantwortungslos.

Die Abscheu vor der Gottlosigkeit ist tief verwurzelt in der Sprache. Über zwei Jahrtausende hinweg hat die verbale Rufmord-Munition sich festgefressen in den Köpfen, gefickt eingeschädelt von den Glaubenshütern und ihrem Gefolge.

Widerspruch tut not – auf die Gefahr hin, dass gottesfürchtige Besitzer eines Thesaurus unser Aufbegehren als "goschert und sündhaft" einstufen. Pflücken wir probehalber den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit aus der gräulichen Liste. Vergleichen wir religiöse Denkweisen mit der Perspektive des Humanismus.

Bedarf verantwortliches Handeln ethischer Richtschnüre? Würden wir ohne den berühmten moralischen Kompass zwischen Gut und Böse nicht ziellos umhersegeln in sternloser Nacht? Keine Frage: Auch Humanisten brauchen Orientierung. Doch wer kalibriert den Kompass?

Glaubt man den Christen, fußen unsere weltlichen Gesetze auf göttlichen Binsenweisheiten wie "du sollst nicht morden, nicht stehlen, nicht verleumden". Verdanken wir diese Grundsätze des menschlichen Zusammenlebens wirklich dem Gott Abrahams? Hielten vorchristliche Zivilisationen Mord, Diebstahl und Lüge etwa für wünschenswert und zulässig? Wohl kaum. Diese Tabus waren überlebenswichtig für jede Kultur und galten universell, lange bevor der mythologische Moses seine Steintafeln vom Berg Sinai ins Tal schleppte.

Hielten vorchristliche Zivilisationen Mord, Diebstahl und Lüge etwa für wünschenswert und zulässig? Wohl kaum.

Andererseits empfiehlt der biblische Moralkatalog Völkermord und Schwulensteinigung, Sklaven hätten sich ihren Meistern zu unterwerfen, Frauen gefälligst zu schweigen, und aufmüpfigen Kindern sei der Arsch blutig zu prügeln. Weitere Juwelen aus den himmlischen Vorschriften: Vergewaltigungsopfer hinrichten, widerspenstige Söhne massakrieren, Samstagsarbeiter exekutieren, Ehebrecherinnen umbringen, Huren dahinmetzeln, Sodomiten totschlagen, Fluchende ermorden, fremde Prediger schlachten und Ungläubige lynchen. Befolgen Gläubige heute noch diese finsteren Ratschläge des "gütigen und allwissenden Schöpfers"? Glücklicherweise nur in wenigen Herrgottswinkeln.

Diese Weltsicht, erdacht von anonymen Ziegenhirten der Bronzezeit und antiken griechischen Mystikern, hat keine Zukunft.

Darum geriert sich die Mehrzahl der heutigen Kirchgänger als "moderat". Nach welchen Kriterien entscheiden sie, welche göttlichen Direktiven sie befolgen und welche sie unter den Teppich kehren? Überraschung: Sie orientieren sich an sozialen, menschenfreundlichen, aufgeklärten Maßstäben … genau wie wir Humanisten. Nur gehen wir einen Schritt weiter und sind überzeugt, dass der erfundene Gott und das ihm zugeschriebene Buch moralisches Wachstum nicht fördern, sondern hemmen.

Denn in einer Welt, deren Lauf ein göttlicher Plan angeblich unverrückbar festgelegt hat, bleibt kein Platz für Eigenverantwortung. Wie unberechenbar sind Mitglieder einer Gesellschaft, die ethische Fragen abwälzen auf einen unsichtbaren, allgewaltigen Tyrannen, den sie wie unmündige Kinder zugleich lieben und fürchten müssen und dessen Regeln sie niemals bezweifeln dürfen? Wie gefährlich wird es, wenn das Gottesvolk im Zweifelsfall "biblischen Werten" Priorität einräumt?

Wie steht es mit Konsequenzen für schlechte Taten? Übernehmen Katholiken Verantwortung für ihr Handeln? Nur bis zur nächsten Beichte, dem Rettungsanker, wenn das ego te absolvo der Pfaffen gläubige Missetäter von allfälligen Sünden freispricht. "Bereuen und büßen" genügt, schon ist das katholische Gewissen entlastet. Ebenso gähnend offen steht das Schlupfloch der Protestanten: Luthers Sola-fide-Prinzip zufolge wird man nicht durch gute Werke "erlöst", sondern allein durch die Hinwendung zum Glauben, das Flehen um Gnade. Nach dieser Doktrin schmoren wohltätige Ungläubige in der Hölle, aber für Mörder und Vergewaltiger, die rechtzeitig am Sterbebett konvertieren, öffnet sich die Himmelstür.

Legt man den Gotteswahn ad acta, liegen die erstrebenswerten Ziele auf der Hand: lieber lebendig als tot, lieber gesund als krank, lieber Frieden als Krieg. Menschliches Wohlergehen als moralischer Imperativ.

Lässt ethische Verantwortung sich hier auch nur im Entferntesten erkennen?

Eher fühlt man sich erinnert an das Lied "Der Papa wird’s schon richten" des österreichischen Kabarettdichters Gerhard Bronner, der sich gern als "strenggläubiger Atheist" vorstellte und in seinem Chanson-Klassiker die blasierte Wiener Jeunesse dorée verewigte – den Typus, der nie erwachsen wird und sich auf einen einflussreichen Übervater verlässt, der alle Probleme löst.

Humanisten denken anders. Uns käme nicht in den Sinn, fahrlässig einer vermeintlichen höheren Macht zu vertrauen, die unsere Fehltritte wegzaubert. Humanisten verstehen, dass Entscheidungen Folgen haben … nicht in der nächsten Welt, sondern in dieser. Wir wissen, dass es keine "einzig richtige Art" zu leben gibt. Wir "verteufeln" niemanden, sondern bemühen uns um Verständnis, Rücksicht und Kooperation. Wir ehren die Autonomie des Körpers und der Gedanken. Wir gestehen allen Erdenbewohnern die gleichen Rechte zu und behandeln sie so, wie sie selbst behandelt werden möchten, unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Kaufkraft. Wir denken auch an künftige Generationen und möchten die Welt als besseren Ort verlassen, als wir sie vorfanden.

Woher nehmen wir unsere Werte? Gewiss nicht aus patriarchalischen Märchenkompendien, geschrieben von Leuten, die weniger Ahnung von der Welt hatten als heutige Zwölfjährige. Legt man den Gotteswahn ad acta, liegen die erstrebenswerten Ziele auf der Hand: lieber lebendig als tot, lieber gesund als krank, lieber Frieden als Krieg. Menschliches Wohlergehen als moralischer Imperativ.

Leider sind die Sorgen damit nicht zu Ende. Kann es nur Gewinner geben? Was, wenn dein Wohlbefinden meinem im Wege steht? 20 Kinder hungern, welches bekommt den letzten Bissen Brot? 20 Patienten brauchen ein Beatmungsgerät, aber das Spital hat nur drei, was nun? Das religiös-dogmatische Weltbild löst diese Dilemmas nicht einmal im Ansatz. Gelingt es den säkularen Humanisten?

Darüber muss man sich unterhalten, von Mensch zu Mensch.

Erstveröffentlichung des Textes auf der Webseite des Humanistischen Verbands Österreich (HVÖ) am 09.10.2022. Übernahme mit freundlicher Genehmigung. 

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