Glosse

Exegese Polonäse: Das Vaterunser

Gestern stieß ich mir böse den Kopf am Türbalken und konvertierte prompt zum Christentum. Ich fühle mich wie neu geboren, fix Hosianna! Sogar das berühmte Vaterunser-Gedicht leuchtet mir endlich ein.

Vater unser im Himmel

Der Anfang klingt verheißungsvoll. Ich habe jetzt einen allmächtigen Beschützer, der nur mein Bestes will, solange ich brav bin. Denn Gott ist kein wokes Weichei, sondern eher so ein markiger 50s-Dad, zugleich geliebt und gefürchtet, mit Zucker in der einen Hand und dem Gürtel in der schlagbereiten anderen. Wie bei meiner katholischen Freundin Eva, die sich ihre blauen Flecken selbst zuzuschreiben hat. "Schau, wozu du mich treibst durch dein Gefrevel", pflegt das Familienoberhaupt zu bedauern und dann beten sie gemeinsam. Unser himmlischer Vater ist sogar noch strenger, denn wenn wir, seine Kinder, nicht spuren, lässt er uns in einem speziellen Keller bis in alle Ewigkeit foltern. Mir macht das keine Sorgen, denn ich kenne ja den Hausbrauch bei Fritzls und bei Gott: bloß nicht aufmucken und Daddy stets anhimmeln. Dann bleibt die Stimmung beim Abendmahl paradiesisch!

Geheiligt werde dein Name

Mein neues Weltbild ist sakrosankt und die Würde des Herrn unantastbar. Gottlob vollstreckt mein Heimatland Österreich den Blasphemieparagraphen! Soll unser Vater die Ketzer etwa persönlich heimsuchen? Weiß Gott hat er Wichtigeres zu tun, etwa Babys mit Malaria zu infizieren, Genozide zu dulden und Rechtspopulisten an die Macht zu hieven. Nein, wir, seine Kinder, müssen in Gottes Namen Gottes Namen verteidigen, und, fast noch wichtiger, die Privilegien unserer geistlichen Führer schützen. Aus gutem Grund knien wir demütig vor diesen prachtvollen Männern und nennen sie Hochwürden, Eminenz und Eure Heiligkeit. Allein die Ehrentitel beweisen, dass wir gut beraten sind, unseren Bischöfen und Kardinälen blind zu vertrauen und – so es uns unwürdigen Würmern vergönnt ist – ihre Fingerringe zu küssen. Oder was sie uns sonst entgegenstrecken.

Dein Reich komme

So beruhigend die Gewissheit: Dieses verdorbene Diesseits, in dem ich nie einen Parkplatz finde und belästigt werde mit Irrlehren namens Evolution und Neurologie, es wird bald enden! Zugegeben hätte – Jesu Prophezeiung zufolge – die Welt bereits zu Lebzeiten der Apostel untergehen sollen (ergo sein wertvoller Ratschlag, unsere Familien, Häuser und Äcker im Stich zu lassen). Doch obwohl die Apokalypse damals ausblieb, sehne ich sie unbeirrt und inbrünstig herbei und frohlocke bei den Abendnachrichten: Diesmal geht gewiss alles zugrunde und Gottes strahlendes Königreich naht! Womöglich können meine Mitgläubigen und ich unseren Beitrag leisten, um das Ende zu beschleunigen, nach dem Vorbild der großen christlichen Imperien? Jesus bringt nicht den Frieden, sondern das Schwert, und im Namen des Herrn zuckt auch mein Finger bald am Schnellfeuergewehr.

Dein Wille geschehe

Diese Erkenntnis entlastet meine Schultern enorm. Als ich noch ungläubig war, sorgte ich mich dauernd um nukleare Bullystaaten, das Aussterben der Arten und den globalen Hitzekollaps. Nun sehe ich ein, dass ich als schwaches Menschlein nichts bewegen oder retten kann, denn Gottes Plan läuft auf Schienen. Nicht in meiner Verantwortung, sondern in Vaters allgewaltiger Hand liegt es, das Meer zu schützen, den Wald zu pflegen, die Luft zu klären, das Gekreuch zu achten und das Gefleuch zu hüten. Lieber machen ich und meine Kirchenkumpel uns die Natur untertan, wie Genesis 1,28 vorschreibt. Der Pfarrer hat's mir bestätigt: Das irdische Jammertal ist vergänglich und darum wertlos. Meine winzige Lebensspanne, die ich früher selbstsüchtig hochschätzte, ist bloß ein schlecht klimatisiertes Wartezimmer vor dem Tor zur ewigen Verzückung! Nie fühlte ich mich entspannter.

Wie im Himmel, so auf Erden

Der Himmel! Früher glaubten wir Christen an ein stoffliches Reich über den Wolken mit sieben Etagen. Aber seit den vielen Raketen und Satelliten erntet diese göttliche Offenbarung leider nur noch Applaus auf Flache-Erde-Symposien. Den Päpsten im Vatikan, die 17 Jahrhunderte lang eisern daran festhielten, muss man den Wackelkontakt im Draht nach oben nachsehen – schließlich sind sie erst seit 1870 unfehlbar und hatten alle Grabbelfinger voll zu tun mit Fressen, Saufen, Kriegführen und Goldscheffeln. Zum Glück liefern moderne Religionsexperten ein cleveres Update: Neuerdings wohnt und thront Gott außerhalb von Raum und Zeit in einer unerforschlichen Dimension irgendwo im Nirgendwo. Da wird mir ganz transzendental um die Zähne. Ein schönes Gefühl, so ein tolles Geheimnis zu kennen, während die doofen Gottlosen draußen warten müssen.

Unser tägliches Brot gib uns heute

Ja, bitte! So dankbar bin ich für das Brot, das der gütige Vater mir im Überfluss spendiert, obwohl ich es mir andererseits laut 1. Mose 3,19 im Schweiße meines Angesichts selbst verdienen muss. So froh bin ich, dass zwar Tag für Tag 25.000 Menschen verhungern, aber nicht ich! Liegt es daran, dass ich ein weißer Mann bin, in Europa lebe und seit gestern bete? Schon klar: Seit den Kreuzzügen und der Missionierung schwören viele unterernährte Ausländer auf denselben Jesus wie ich, aber – anders kann ich es mir nicht erklären – deren Seelen sind eben nicht so edel wie meine. Wenn ich mich vergleiche mit den Kinderleichen im Wüstensand, zeigt sich, dass ich doch ein recht toller Kerl sein muss, ein Sünder gewiss, aber doch höher in Gottes Gunst. Ich fühle mich geschmeichelt, dass Vater mich mehr liebt als die schmutzigen Heiden. Darf ich noch eine Ecke vom Christstollen?

Und vergib uns unsere Schuld

Diese schöne Zeile erlöst mich endlich von meinem Gutmenschentum, das mir längst auf die Nerven ging: Immer anständig handeln und alten Damen keine Handtaschen rauben wurde auf Dauer mühsam. Mit dem humanistischen Unsinn ist nun Schluss, denn wenn ich andächtig beichte und von Herzen bereue, vergibt mir Vater jede Schandtat. Halt, nicht jede: Die einzige unverzeihliche Sünde, lehrt das Buch der Bücher, ist die Lästerung des heiligen Geistes. Zur Hölle fährt nur, wer ohne christliches Bekenntnis stirbt! Mir kann das nicht passieren. Selbst Hitler, wie führende Theologen einräumen, berief sich gebetsmühlengleich auf die göttliche Vorsehung – von den frühesten Reden bis zu den letzten Tagen im Führerbunker. Wenn die biblischen Regeln wahr sind, hat Gott ihm seine Schuld vergeben. Auch für mich ist ein Wölkchen reserviert, gleich neben Adolf.

Wie auch wir vergeben unsern Schuldigern

Okay, wenn das wirklich im Vaterunser steht, befolge ich halt den Vorschlag und verzeihe meinen Mitmenschen alles. Außer, ein Arschloch schuldet mir Geld: Das treibe ich ein, notfalls gerichtlich, so wie die anderen Gläubigen. Die Nachbarn feiern laut und potenziell sündhaft? Wie die anderen Gläubigen habe ich die Polizei auf Speed-Dial. Kränkt jemand meine zarte Seele durch Sexualität einer Sorte, die mir nicht geheuer ist, schreie ich wie die anderen Gläubigen Zeter und Mordio. Moslems, Juden oder Sikhs verlaufen sich in mein Viertel? Vor denen spucke ich auf den Asphalt. Ganz besonders erbittert mich, wenn Falschgläubige und Gottlose an meiner christlichen Ehre kratzen. Da bin und bleibe ich unversöhnlich. Sonst aber, gelobe ich feierlich, werde ich mustergültige Milde und Barmherzigkeit üben. Das bin ich meinem Schöpfer schuldig.

Und führe uns nicht in Versuchung

Faszinierend, dass ausgerechnet Gott mich zum Sündigen verleiten könnte und ich ihn an dieser Stelle anflehen muss, das bitt'schön zu unterlassen. Rätselhaft auch der Widerspruch zwischen der göttlichen Vorbestimmung meines Schicksals und dem freien Willen, den mir der Allwissende gewährte … aber ach, darüber zerbreche ich mir nicht meinen hübschen Kopf, sondern falte die Hände fester. Vielleicht bewirkt mein Beten, dass Gott seinen perfekten Plan mir zuliebe ändert. Oder ist, wie ich schon als sechsjähriger Solipsist argwöhnte, mein irdisches Dasein nur ein Charaktertest, die ultimative kosmische Gameshow? Um den Hauptpreis zu gewinnen, bin ich deshalb weder neidig noch gefräßig, raffgierig, lüstern, eitel, faul oder aufbrausend – die sieben Todsünden! Leicht fällt mir der Verzicht auf diese Hobbys nicht. Denn Gott erschuf mich ja nach seinem Ebenbild.

Sondern erlöse uns von dem Bösen

Gegen Böses war ich schon immer. Bodenlos böse wäre etwa das Schlachten erstgeborener Söhne, das Steinigen von Schwulen, das Halten von Sklaven, das Züchtigen von Kindern, das Verheiraten von Frauen mit ihren Vergewaltigern und das Hinmetzeln ganzer Völker mit Ausnahme der unberührten Mädchen als Kriegsbeute. Soll ich vorsichtshalber in der Bibel nachprüfen, ob der liebe Gott solche Scheußlichkeiten empfiehlt oder gar befiehlt? Ach was, er ist allgütig, das weiß ich aus den Leseproben, die uns der Pfarrer sonntags vor dem Frühschoppen präsentiert und dabei vor den wahren Bösen warnt: Ungläubigen, Abtreibungsärzten und Männern im Fummel. Solche klaren Feindbilder helfen mir sehr beim Erlangen moralischer Reife und erleichtern mir allfällige Entscheidungen in der Wahlkabine. Meine Erlösung erwarte ich freudig. Notfalls buche ich einen Exorzismus.

Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit

Die Schlussformel bete ich laut mit und ein mystischer Schauer rieselt mir über den Rücken. Die Herrlichkeit des Herrn – ein tiefes Gefühl, geradezu abgrundtief. Ist es nicht unglaublich, kommt mir in den Sinn, dass uns nach dem Tod simultan Gerechtigkeit droht und Gnade erwartet? Einerseits blüht uns, was wir verdienen, andererseits wird uns die Strafe erlassen. Gottes Rechtsprechung trotzt jeder Logik, gerade das macht ihn ja so göttlich! Oder? Hoch vom Turm verklingt das Geläut, aber die Alarmglocken schrillen weiter. Die Orgelmusik schwillt an, die erhabene Beule auf meiner Stirn schwillt ab. Dafür schmerzen die Füße nach einer Meile in Jesusschlapfen. Der Nebel lichtet sich. Im Rückwärtsschritt entweiche ich aus dem Kirchenportal wie Homer Simpson durch die Gartenhecke. Nichts für ungut, Herr Pfarrer. Ab sofort bin ich wieder Atheist.

Amen

Unterstützen Sie uns bei Steady!