Wie Therapeuten Leonie einredeten, sie habe Babys getötet

Sie ging durch die Hölle

Vor etwa zehn Jahren wussten wohl die wenigsten Leute, was sie unter Verschwörungstheorien verstehen sollten. Seit Trump die Weltbühne betrat und das Coronavirus wütete, grassiert auch der Begriff weltweit. Das Phänomen infizierte schließlich 30 bis 50 Prozent der Bevölkerung, wie Umfragen zeigen. Eine geistige Pandemie der unheilvollen Art.

Seit kurzem wissen wir auch, dass erstaunlich viele Psychiater und Psychotherapeutinnen mit dem Virus der Verschwörungsfantasie infiziert sind. Recherchen zeigten, dass etliche ihren Patienten einreden, sie stünden in der Gewalt von Satanisten und würden bei rituellen Sessions unfreiwillig Babys aufschlitzen, ihnen das Herz aus der Brust reißen und ihr Blut trinken.

Aufgedeckt haben solche skandalösen Therapiemissbräuche die beiden SRF-JournalistInnen Robin Rehmann und Ilona Stämpfli auf dem Kanal "rec.-Reportage". Sie wiesen in mehreren Beiträgen nach, was sich hinter den Mauern verschiedener psychiatrischer Kliniken und in Therapiezimmern abspielt. Den jüngsten Fall nahm auch die "Rundschau" neulich auf.

Wer die Beiträge gesehen hat, pendelt gefühlsmäßig zwischen Erschütterung und Wut. Da machen Ärzte und Therapeutinnen ihren Patientinnen ohne die geringsten Anhaltspunkte weis, sie seien Opfer satanistischer Rituale geworden. Den ahnungslosen Frauen erklären sie, sie hätten die Erinnerungen an die traumatischen Erlebnisse verdrängt.

So erlebte es auch "Leonie", wie die Hauptperson im SRF-Beitrag genannt wird. Leonie ging durch die Hölle, wie die beiden SRF-JournalistInnen mit Gutachten und polizeilichen Untersuchungsberichten belegen. Die zentrale Figur in Leonies Psychodrama spielte eine Traumatherapeutin. Sie fand die Ursache für die psychischen Probleme ihrer Patientin in den erwähnten angeblichen satanistischen Einflüssen.

Dabei redete sie Leonie ein, auch ihre Familie und ihr Umfeld gehörten der Satanssekte an. Der Rat der Therapeutin: Kontaktabbruch mit den Eltern und der Schwester. Damit verlor Leonie den letzten Rückhalt.

Um sie vor weiteren angeblichen Ritualen zu schützen, trackte die Therapeutin ihre Patientin permanent in Echtzeit. Sie hoffte offenbar, dabei auch die Tatorte der Satanisten orten zu können. Der Chatverlauf zwischen den beiden wuchs auf über 5.000 Nachrichten an. Leonie war abhängig von der Therapeutin und unter totaler Kontrolle.

Schließlich kam Leonie in die Privatklinik Meiringen. Die zuständigen Psychiater und Therapeutinnen glaubten ebenfalls, Leonie sei durch satanistische Rituale traumatisiert worden. In einem psychiatrischen Gutachten der Klinik heißt es, in der satanistischen Sekte hätten auch sodomistische Rituale stattgefunden.

So sei Leonie von einem Hund penetriert worden. Und wörtlich: "Für die Penetration durch ein Pferd wird sie auf einem Tisch platziert." (Man fragt sich, ob die Gutachter schon einmal das eregierte Geschlechtsteil eines Pferdes gesehen haben.) Leonie wusste nichts davon. Die Geschichte ist in der Fantasie der Therapeutinnen entstanden.

Die Traumatherapeutin machte mehrere Gefährdungsmeldungen an die KESB. Schließlich kam es zu einem Strafverfahren gegen unbekannt. Es wurde auch erwogen, Leonie für ein, zwei oder mehr Jahre nach Südafrika zu verfrachten, um sie dem Einflussbereich der Täter zu entziehen.

Polizei ermittelte wochenlang

Die Solothurner Staatsanwaltschaft und die Polizei ermittelten wochenlang. Sie führten Hausdurchsuchungen durch, konfiszierten Computer und Handys, observierten Leonie, überwachten ihr Telefon und werteten Überwachungskameras aus. Schließlich veranlasste die KESB Biel eine fürsorgerische Unterbringung in der Psychiatrischen Klinik Münsingen.

Auch dort geriet sie in die Hände von Therapeuten, die ebenfalls an die satanistischen Einflüsse glaubten. Leonie wurde drei Wochen lang nachts auf einer Pritsche zwangsfixiert. Begründung: Die Patientin sei suizidgefährdet. Ob die Diagnose zutraf, kann nicht nachgewiesen werden.

Übrigens fand die Polizei bei den aufwändigen Recherchen nicht den geringsten Hinweis auf satanistische Einflüsse oder eine Sekte.

Schließlich sah sich die Klinik Münsingen gezwungen, den Fall von Leonie zu untersuchen. Dabei zeigte sich, dass Leonie nicht das einzige Opfer ist. Die Klinikleitung musste eingestehen, dass bei mehreren Fällen "verschwörungstheoretische Ideen eine Rolle spielten".

Die fehlbaren Therapeutinnen wurden entlassen. Ähnliche Vorfälle gab es schon in der Psychiatrischen Klinik Littenheid, nachdem Stämpfli und Rehmann ähnliche Skandale aufgedeckt hatten.

Mit Verschwörungstheorien das Leiden von Leonie verstärkt

Statt Leonie von ihren psychischen Belastungen zu befreien, verstärkten die Therapeutinnen und Psychiater mit ihren Wahnideen ihr Leiden. Sie musste sich mit den Horrorvorstellungen auseinandersetzen, möglicherweise Babys aufgeschlitzt zu haben. Schließlich hatten dies Experten bei den Therapien übereinstimmend entdeckt.

Ihre Ängste wurden durch die haltlosen Behauptungen verstärkt, ihre Eltern seien ebenfalls Mitglieder der satanistischen Bewegung und nähmen immer noch an Gewaltritualen teil. Die verantwortlichen Kliniken und Therapeuten müssten zur Rechenschaft gezogen werden.

Es ist nicht nachvollziehbar, wie Fachleute daran glauben können, bei uns würden Kinder und Babys durch satanistische Sekten geopfert. Kinder können nicht einfach reihenweise verschwinden. Außerdem würden solche angeblichen systematischen Verbrechen früher oder später auffliegen.

Kliniken lassen Opfer im Stich

Trotz der dokumentierten Therapiemissbräuche lassen die Kliniken und Therapeutinnen Leonie und die anderen Opfer im Stich. Die Verantwortlichen können sich nicht einmal zu einer Entschuldigung durchringen. Die Kliniken befürchten wohl, dass dies als Schuldeingeständnis gewertet werden könnte, was sich bei einem allfälligen Rechtsverfahren negativ auswirken würde.

Bei den federführenden Therapeuten kann man davon ausgehen, dass sie keine Einsicht gewonnen haben und weiterhin überzeugt sind, dass Leonie Opfer satanistischer Zirkel geworden ist. Deshalb müssten sie mit einem Berufsverbot belegt werden, wie dies bei Lehrern und Trainern der Fall ist, die Kinder sexuell missbraucht haben. Bei den Psychiatern wäre der Entzug der Approbation angezeigt.

Leonie sollte Schmerzensgeld erhalten

Die Realität sieht aber anders aus. Die entlassenen Therapeuten finden rasch neue Stellen. Leonie müsste ihre Peiniger rechtlich belangen können. Die Patientin hat nicht nur psychisch gelitten, sondern auch die Lebensperspektive über längere Zeit verloren.

Sie war während der Leidenszeit unfähig zu arbeiten und ist es heute noch. Deshalb sollte sie Schmerzensgeld und Schadensersatz erhalten. Fachleute im Gesundheitswesen rechtlich zu belangen ist jedoch schwierig.

Leonie hat sich inzwischen bei einer Opferhilfestelle gemeldet. Dort wird geprüft, ob rechtliche Möglichkeiten sinnvoll sind. Es wäre wichtig, dass Leonie neben der psychischen Not nicht auch noch unter existentiellen Problemen leiden müsste.

Übernahme mit freundlicher Genehmigung unter geringfügigen Änderungen von watson.ch.

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